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Klaus Müller: Steile Pfade, lichte Höhen

Rezensiert von Johannes Schillo, 03.06.2025

Cover Klaus Müller: Steile Pfade, lichte Höhen ISBN 978-3-946946-40-3

Klaus Müller: Steile Pfade, lichte Höhen. Marxistische Wirtschaftstheorie im 21. Jahrhuindert. Mangroven Verlag (Kassel) 2024. 462 Seiten. ISBN 978-3-946946-40-3. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR.

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Thema

Das Buch stellt die Marx‘sche Kritik der kapitalistischen Produktionsweise, wie sie mit den drei – letztlich unvollendeten – Bänden des „Kapital“ vorliegt, in den Mittelpunkt. Zentral ist dabei die Frage, „ob Marx‘ ökonomische Theorien in der Gegenwart gültig sind und sie helfen, den aktuellen Kapitalismus trotz seiner Veränderungen zu verstehen“ (S. 19). Damit wendet es sich gegen eine „Totalentsorgung“ (S. 15) der Marx‘schen Theorie, aber auch gegen diverse Modifikationen, die sich etwa an der Arbeitswerttheorie festmachen oder auf grundlegende Revisionen zielen. Ebenso werden Bestrebungen einer Wiederaneignung ins Visier genommen, in denen das Marx‘sche „Gesamtwerk … zum Spielball für alle erdenklichen Deutungen geworden“ ist (S. 11).

Autor

Klaus Müller (Jahrgang 1944) war – nach Promotion 1973 an der Hochschule für Ökonomie Berlin und Habilitation an der Universität Halle-Wittenberg 1978 – bis 1991 ordentlicher Professor für Politische Ökonomie an der Technischen Universität Karl-Marx-Stadt (heute TU Chemnitz). Ab 1991 war er freiberuflicher Dozent für Betriebs- und Volkswirtschaftslehre, von 2000 bis 2009 leitete er den Studiengang „Mittelständische Wirtschaft“ an der Staatlichen Studienakademie Glauchau, wo er seitdem als externer Lehrbeauftragter tätig ist. Von ihm erschienen etwa 400 (populär-)wissenschaftliche Aufsätze in Zeitschriften und Zeitungen sowie zahlreiche Bücher.

Entstehungshintergrund

Der Autor blickt eingangs auf seine Zeit als Student und (1991 „abgewickelter“) Hochschullehrer in der DDR zurück, der nach der Wende nicht nur seine eigene Ausgrenzung aus dem Wissenschaftsbetrieb erleben musste, sondern ähnlichen Tendenzen in einer Szene begegnete, die sich auf Marx berief und mit einem „Westmarxismus“ gegen die Deutungshoheit des „Ostmarxismus“ antreten wollte. Müller, der sich dem Lager der „orthodoxen Traditionstheoretiker“ (S. 20) zurechnet, sieht sich aufgrund seiner intellektuellen Biographie herausgefordert, den vielfältigen Versuchen der Marx-Entsorgung und Entstellung entgegenzutreten. Zugleich betont er die Bedeutung des seit der Finanzkrise von 2007/08 neu erwachten Interesses an der Marx‘schen Politökonomie: „Die europäische Marx-Renaissance ist eine der bemerkenswerten kulturellen Erscheinungen der neueren Zeit“ (S. 21).

Aufbau

Das Buch bringt nach einer kurzen Einleitung, die die „offenen Probleme“, die rivalisierenden Deutungen und Zugänge benennt, 13 Kapitel und schließt mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis sowie einem Personen- und Sachregister. Die einzelnen Kapitel arbeiten die Liste ab, die eingangs die theoretischen Herausforderungen aufführt und mit der sich der Autor „einigen der scheinbar oder tatsächlich ungelösten Probleme der marxschen ökonomischen Theorie zuwenden“ will (S. 23). Die ersten beiden Kapitel gehen allgemein auf die Abfolge von Gesellschaftsformationen ein (von der Urgesellschaft bis zum Kapitalismus) und diskutieren die „dialektisch-materialistische“ Methode. Es schließen sich, ausgehend vom Arbeitsbegriff, sechs Kapitel an, die sich mit der Arbeitswert- bzw. Geldtheorie, mit Wert- und Mehrwertproduktion und mit dem „täuschenden Schein der Dinge“ (prominent: Lohn als „Preis der Arbeit“) befassen. Es folgt eine Auseinandersetzung mit den berühmten Reproduktionsschemata aus dem zweiten Band des „Kapital“, danach mit dem immer wieder diskutierten Problem der Bildung einer (Durchschnitts-)Profirate bzw. der Umwandlung von Mehrwert in Profit und zuletzt mit dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate. Das vorletzte Kapitel geht der Frage nach, ob die Grundrententheorie von Marx fehlerhaft ist, worauf dann im Schlusskapitel noch einmal grundsätzlich die neoklassische Antithese zur klassischen Politökonomie unter die Lupe genommen wird.

Inhalt

Schon beim Einstieg zu den Gesellschaftsformationen, der die Rolle des Mehrprodukts für jede Form von Ausbeutungsverhältnissen festhält, wird ein politökonomischer Streitpunkt verhandelt, nämlich der spezielle Fall der Ware Arbeitskraft, deren Entlohnung die Reproduktion der Arbeitsbevölkerung zu gewährleisten hat. Von (marxistisch-)feministischer Seite wurde hier vorgebracht, Marx ignoriere zugunsten des männlichen Ernährers den weiblichen Beitrag. Marx lässt jedoch keineswegs, so Müller, „die Reproduktionsarbeit verschwinden“ (S. 44). Die Mitarbeit der Frau in der Familie und die Aufzucht des Nachwuchses würden gerade im Lohn entgolten, wie Marx betont, und damit zum Problem des proletarischen Daseinskampfes (modern: Work-Life-Balance) gemacht. Ähnlich greift Müller im Methodenkapitel am Beispiel des Gegensatzes von Gebrauchswert und Tauschwert Verrätselungen der „Neuen Marxlektüre“ (Hans-Georg Backhaus) auf und bringt mithilfe des „Kapital“-Textes eine Klarstellung (vgl. S. 60). Oder er wehrt sich gegen den konstruierten Gegensatz von Logischem oder Historischem (vgl. S. 64) im Argumentationsgang des „Kapital“.

Eine ähnliche Klarstellung zur Unterscheidung von konkreter und abstrakter Arbeit – dieses Mal gegen Helmut Reichelt u.a. (vgl. S. 82ff) gerichtet – bringt Müller im nächsten Kapitel, mit dem die zentrale Auseinandersetzung in Sachen Arbeitswerttheorie beginnt. Fortgeführt wird sie in den beiden längsten Kapiteln des Buchs über den Wert bzw. die Wertgröße und das Geld. Entscheidend ist demnach, „den spezifisch historischen Charakter der Wertkategorie“ zu berücksichtigen, sie also an den Kontext einer kapitalistischen Produktionsweise zurückzubinden; sie ist nämlich, wie es im „Kapital“ heißt, „keine ‚ewige Naturform gesellschaftlicher Produktion‘.“ (S. 110) Dabei kommen auch fehlerhafte, später korrigierte Bestimmungen des Werts vor, wie sie sich in den Frühschriften von Marx (und Engels) finden, zudem Fehldeutungen, wie sie in der Wissenschaft der DDR (Thomas Kuczynski) anzutreffen waren. „Abstrakte Arbeit“ bildet und bestimmt den Wert: Diese zentrale Aussage von Marx wird dann weiter entfaltet – vor allem im Blick auf die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, die Messung der Wertgröße und die Reduktion komplizierter auf einfache Arbeit. Letzteres ein Vorgang, der in einer Tauschgesellschaft ständig stattfindet, um dessen genauere Erklärung sich Marx aber, wie Müller bemängelt, nicht gekümmert hat (vgl. S. 163f). In der Folge kommen auch andere (terminologische) Ungenauigkeiten von Marx zur Sprache, etwa bei der Kategorie des „individuellen Werts“ (S. 180ff). Als grundlegenden wissenschaftlichen Fortschritt expliziert Müller das Wertgesetz, basierend auf der Feststellung, dass der Wert „ein unter dinglicher Hülle verstecktes Produktionsverhältnis“ ist (S. 187). Bei der Frage, wie Werte realisiert werden, kommen dann schon Kategorien aus dem dritten Band des „Kapital“ zur Sprache (Profit, Profitrate, Produktionspreis), und auch die Entwicklung zum „Monopolkapitalismus“, die in der DDR-Ökonomie ein wichtiges, zudem umstrittenes Thema war. „Die Arbeitswerttheorie ist der logisch-genetische Schlüssel zum Verständnis des Geldes, seines Wesens“ (S. 222), heißt dann die Überleitung zum nächsten Kapitel. Es behandelt die Genese des Geldes und seine Funktionen bis hin zum Kreditgeld, berücksichtigt auch die neueren Kontroversen, wie sie David Graeber mit seinem Buch „Schulden“ (2012) angestoßen hat. Angesichts der heutigen Politik der Zentralbanken stellt sich dann die Frage: „Ist Gold die Geldware geblieben?“ (S. 272). Müller zeigt, wie sich mit Marx der – bedingte – Ersatz einer Geldmaterie durch – an sich wertlose – Repräsentanten erklären lässt. Definitiv ausgedient habe das Gold aber in einer Geldwirtschaft nicht. Deren Überwindung wäre dann der Endpunkt einer sozialistischen Planwirtschaft; Zwischenstufen, die noch mit dem Wert rechnen, wären auf dem Weg dahin denkbar. Überlegungen dazu und zu einigen geldtheoretischen Kontroversen bilden den Schluss des Kapitels.

Es folgen drei kürzere Kapitel, die den Schritt von der Arbeitswerttheorie zur Mehrwerttheorie machen. Zunächst werden die entscheidenden Bestimmungen des Kapitaleinsatzes (konstantes und variables Kapital samt weiteren Differenzierungen) thematisiert, wobei Müller im Fall des „fiktiven Kapital“ (S. 298f) Marx wieder eine (terminologische) Ungenauigkeit ankreidet; eigens thematisiert wird die Rolle des Finanzkapitals, auf die moderne Diagnosen der „Finanzialisierung“ der Ökonomie besonderen Wert legen, in dem Buch aber nicht. Die Überlegungen zum Einsatz der Produktionsmittel führen zur Auseinandersetzung mit dem technischen Fortschritt, der weithin (von der ökologischen Kritik abgesehen) als Ausweis der Effizienz des Kapitalismus gilt. Müller zeigt, wie die Wertbestimmungen hier weiter ihre Gültigkeit behalten, auch wenn die Arbeitsprozesse ihren Charakter grundlegend verändern (Beispiel: Digitalisierung). Dem folgt eine kurze Auseinandersetzung mit der Produktionsfaktorentheorie, die schon Marx kritisierte (vgl. S. 319), woraus sich Andeutungen für eine mögliche „neue Mehrwerttheorie“ (S. 322) ergeben. Die werttheoretischen Überlegungen schließt dann ein kurzes Kapitel zum Arbeitslohn ab. Der ist laut Marx eine irrationale Form, den Wert der Ware Arbeitskraft auszudrücken – ein markantes Beispiel dafür, wie in den Erscheinungen des marktwirtschaftlichen Lebens das Wesen der Sache verkehrt wird.

Das nächste Kapitel thematisiert die Frage von „Reproduktionsgleichgewicht und Krise“ (S. 333), die in der marxistischen Literatur für einige Kontroversen gesorgt hat (siehe die Studie von Rosa Luxemburg zur „Akkumulation des Kapitals“). Hier zeigt sich zugleich, wie sehr Marx in der Tradition der klassischen Politökonomie stand. Er greift ja auf die berühmten „Tableaux économiques“ des Physiokraten François Quesnay zurück, die er für seine Fragestellung nutzt: „Ist in einer kapitalistischen Volkswirtschaft ein Gesamtgleichgewicht theoretisch möglich?“ (S. 334). Mit den besagten Reproduktionsschemata, so Müller, lässt sich dies Möglichkeit nachweisen, aber eben nicht als Normalität, sondern, im Gegenteil, als ein zufälliges Ergebnis, das sich durch lauter Friktionen einstellt – in denen also immer die Möglichkeit einer Krise, die bereits in der einfachen Warenzirkulation angelegt ist, aktiviert werden kann. Das nächste Kapitel greift Problemfälle aus dem dritten Band des „Kapital“ auf, ohne das dessen Argumentationsgang im Einzelnen wiedergegeben wird. Dass sich hier gewisse Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten zeigen, hängt auch damit zusammen, wie Müller vermerkt, dass Band III (wie II) – anders als der erste Band – nicht von Marx fertiggestellt wurde. Was Müller herausgreift ist das so genannte Transformationsproblem, d.h. die Verwandlung des Mehrwerts in Profit, den der Kapitalist ins Verhältnis zu seinem vorgeschossenen Gesamtkapital setzt und bei dessen Größe er sich an der jeweiligen Durchschnittsprofitrate orientiert. Dazu gibt es dann unterschiedliche Modellrechnungen, die auch die Bildung einer allgemeinen Profitrate betreffen.

Zwei weitere Kapitel tragen Probleme nach, die sich an einzelne Abschnitte des dritten Bandes knüpfen. Zunächst geht es um das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, das „zu den umstrittensten (und zu den interessantesten) Teilen der Marxschen Politischen Ökonomie“ gehört und von Marx auch als das „in jeder Hinsicht wichtigste Gesetz“ bezeichnet wurde (S. 371). Es verweist auf eine Tendenz, die generell aus dem verstärkten Produktionsmitteleinsatz bei relativ geringerem Arbeitsaufwand (d.h. Verminderung der mehrwertbildenden Potenz) resultiert, also die so genannte organische Zusammensetzung des Kapitals erhöht. In diesem tendenziellen Sinne, unter Berücksichtigung der entgegenwirkenden Ursachen, die im „Kapital“ gleich anschließend genannt werden, könne von einer Gesetzmäßigkeit gesprochen werden, so Müllers Fazit. Dabei wird allerdings vermerkt, dass hier in einer breiten Diskussion – auch von Nicht-Marxisten, die dem Gesetz zustimmen – Klärungsbedarf angemeldet wurde. Im folgenden Kapitel geht es dann um die Erklärung der „Grundrente“, also um die Kosten, die für die Nutzung eines Stücks Erdoberfläche aufzubringen sind. „Das Monopol des Eigentums an Grund und Boden ist die Ursache dafür, dass eine absolute Grundrente existiert“ (S. 400), die so genannte Differentialrente ergibt sich dann aus der Tatsache, dass die Böden unterschiedlich ertragreich und nutzbar sind. Bestimmte „Voraussetzungen“, die Marx seinerzeit beim agrikolen Kapital machte, sind aber, so Müller, mittlerweile entfallen, „nachdem später die Landwirtschaft industrialisiert wurde“ (S. 402). Müller hält fest, dass aus dem Profit die Ansprüche der Grundbesitzer wie der Geldkapitalisten bedient werden müssen; weiteren Klärungsbedarf sieht er aber da, wo die Produktivitätssteigerung der Bodenbewirtschaftung die alte Sonderstellung der Landwirtschaft (und der extraktiven Industrie) obsolet machen.

Das abschließende Kapitel „Marx zwischen Klassik und Neoklassik“ resümiert die vier großen wissenschaftlichen „Entdeckungen“, mit denen sich Marx von der klassischen Politökonomie absetzte: Erstens ist es die Unterscheidung von konkreter und abstrakter Arbeit. Zweitens die Korrektur der Vorstellung, der Arbeiter würde für seine Arbeit bezahlt: „Die Arbeit ist keine Ware. Die Arbeitskraft ist seine Ware.“ (S. 414) Damit wird „Ausbeutung“ auf den Tauschvorgang bezogen und ist „keine Kategorie der Morallehre“ mehr (S. 416). Drittens ist der Mehrwert erstmals korrekt gefasst und nicht mit seinen Derivaten (Profit, Zins, Rente) vermischt, womit viertens die Arbeitswert- zur Mehrwerttheorie weiterentwickelt wurde, die die kapitalistische Produktion als Verwertungsprozess erklärt. Diese Erkenntnisse lehnt die „Neoklassik“ ab, die mittlerweile geradezu „den Status einer Zivil- oder Alltagsreligion erreicht“ habe (S. 421) und den akademischen Betrieb dominiere. Deren Schwachstellen thematisiert Müller abschließend in einem Exkurs zur Grenznutzentheorie.

Diskussion

Der Autor unternimmt, ähnlich wie Michael Quante in seinem „Marx-Handbuch“ (siehe https://www.socialnet.de/rezensionen/17527.php) oder seiner neuen Studienreihe (siehe: https://www.socialnet.de/rezensionen/33229.php), den Versuch einer Wiederaneignung der Marx‘schen Theorie, und zwar gezielt gegen die zahlreichen Entstellungen und Zurückweisungen, die diese im Lauf von mehr als 150 Jahren erfahren hat. Er eröffnet jedoch mit seinem Programm des „Zurück zum Original“ – anders als Quante, den er übrigens nicht erwähnt – keine philosophische Perspektive auf das Werk, nimmt Marx vielmehr als Wirtschaftstheoretiker in den Blick. Demgemäß konzentriert er sich aufs Spätwerk und widmet dem intellektuellen Werdegang des Ökonomiekritikers, der Auseinandersetzung mit und der Ablösung von der Hegel‘schen Philosophie, keine besondere Aufmerksamkeit. Sein Fazit lautet: „Die drei Bände des ‚Kapital‘ enthalten die beste wissenschaftliche Darstellung der kapitalistischen Ökonomie“ und seien deshalb auch unverzichtbar, „um hinter die Kulissen“ des heutigen Kapitalismus zu schauen (S. 11).

Ob es sinnvoll ist, besagte „Darstellung“ mit einem Superlativ auszuzeichnen, mag dahin gestellt bleiben. Auf jeden Fall gelingt Müller der Nachweis, dass die Marx‘sche Theorie ihren Gegenstand – eine spezielle Produktionsweise, die damals ihren Aufstieg erlebte und heute für den Weltzustand bestimmend ist – schlüssig erklären und beliebte Fehler der „(neo-)klassischen“ oder „vulgärökonomischen“ Theoriebildung vermeiden kann. Dabei wird diese Wiederaneignung in einer Weise durchgeführt, die ebenfalls unters Motto des Philosophen Quante passen würde, das Marx‘sche Opus sei aus dem „Bauschutt des Marxismus“ zu befreien. Natürlich betrifft der „Bauschutt“ bei Müller vor allem die modernen Varianten einer „Neulektüre“, also die Aufdeckung von angeblichen Aporien und Leerstellen, die Verrätselung von Sachverhalten, die methodischen Zurichtungen, die eine unbefangene Lektüre des „Kapitals“ für unmöglich erklären, oder die Forderungen, „mit Marx über Marx“ hinauszugehen. Solche Interpretationen finden sich ja in den neueren Marx-Debatten, etwa im Sammelband „Dirty Capitalism“ (siehe https://www.socialnet.de/rezensionen/32240.php), wo auch anklingt, dass sich die angeblich notwendigen Ergänzungen eher dem modischen Affekt verdanken, eine „reine Lehre“ in Frage zu stellen.

Nebenher werden bei Müller Fehler bzw. Kontroversen der marxistisch-leninistischen Tradition aufgegriffen sowie der Kontrast zur „bürgerlichen“ Wirtschaftswissenschaft herausgestellt. Teils führt dies zu Vorgriffen, wenn beim Nachvollzug der „Kapital“-Argumentation des ersten Bandes gleich der Sprung vom Wertgesetz in die Realisierungsbedingungen des dritten Bandes erfolgt, oder zu weit ausgreifenden Überlegungen, wenn z.B., wie in der DDR-Ökonomie üblich, eine neue Phase des „Monopolkapitalismus“ konstatiert wird. Hier lasse die Anwendung der Arbeitswerttheorie „viele Fragen offen. Aber sie sind gestellt“ (S. 213) – heißt dann das salomonische, theoretisch aber eher unbefriedigende Fazit. Man könnte dem ja, wenn man es zuspitzt, einen direkten Widerspruch entnehmen: Auf der einen Seite hat die Argumentation des „Kapital“ auch heute noch Gültigkeit, auf der anderen Seite ist sie einer vergangenen Phase des „vormonopolistischen Kapitalismus“ (S. 306) zuzuordnen.

Dem Argumentationsgang der drei Bände folgt Müller bei seiner Darstellung nicht. Das ist nachvollziehbar, denn er will in Streitpunkte und unterschiedliche Lesarten einführen. So werden entscheidende Schritte der Begründung ausgelassen – etwa aus dem ersten Band der Übergang von der absoluten zur relativen Mehrwertproduktion oder das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Gerade Letzteres hätte vielleicht eine Würdigung verdient. Daran haben sich ja zahlreiche Interpretationen und Einwände geknüpft, zuletzt etwa von Thomas Piketty, der das Gesetz theoretisch in Frage gestellt, empirisch aber bestätigt hat. Es wurde auch immer wieder zum Grundgedanken der Marx‘schen Kapitalismuskritik hochstilisiert und als die Quintessenz seiner Kritik – Stichwort: „Verelendungstheorie“ -gefasst, natürlich gleichzeitig als widerlegt zurückgewiesen.

Müller hat stattdessen vieles vom „Ostmarxismus“ zusammengetragen und die Kontexte der betreffenden Kontroversen (die man im Westen meist ignorierte) skizziert. Sie können in diesem Rahmen natürlich nicht breiter dargestellt werden. Das gilt auch für die andere Seite, den „Westmarxismus“. Hier bleiben prominente Positionen unterbelichtet. Graebers Thesen werden diskutiert, Elmar Altvater und Robert Kurz jedoch nur ganz am Rande erwähnt, der marxistische Theoretiker Karl Held oder der angebliche Marx-Nachfolger Piketty gar nicht. So fehlen auch die Forschungen zur sozialen Ungleichheit oder die Betonung der (finalen) Krisentendenz, wie sie in der „wertkritischen“ Strömung eine Rolle spielt. Eine derartige Beschränkung ist jedoch nachvollziehbar. Der Autor hätte andernfalls eine ganze Bibliothek liefern müssen. Sein Buch setzt sinnvollerweise nicht auf Vollständigkeit, sondern will eine Einführung bieten, die mit Marx‘scher bzw. marxistischer Theoriebildung anhand wichtiger Streitfragen vertraut macht. Also kein ‚Marx für Eilige‘, der mit fertigen Spruchweisheiten aufwartet, sondern eine Orientierung im umfangreichen Marx‘schen Opus, die gleich zu kritischer Reflexion anregt. Und damit dem Leser und der Leserin einiges abverlangt!

Fazit

Das Buch ist eine kritische Einführung im besten, aber auch anspruchsvollen Sinne. Es bringt eine konzise, flüssig geschriebene, auf wesentliche Punkte konzentrierte Darstellung der Marx‘schen Kapitalismuskritik und verbindet dies mit einer Diskussion der vielfältigen Deutungen, die sich an das Werk geknüpft haben. Damit eignet sich die in die politökonomischen Grundfragen einführende Schrift zugleich als Nachschlagewerk, das die Marx‘sche Wirtschaftstheorie im Blick auf Wirkungsgeschichte und aktuellen Diskussionsstand aufschlüsselt.

Rezension von
Johannes Schillo
Sozialwissenschaftler und Autor
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Es gibt 23 Rezensionen von Johannes Schillo.

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ISSN 2190-9245