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Martin J. Eppler, Oliver Haas et al. (Hrsg.): Vordenker der Organisations­entwicklung

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 15.10.2025

Cover Martin J. Eppler, Oliver Haas et al. (Hrsg.): Vordenker der Organisations­entwicklung ISBN 978-3-7910-5962-4

Martin J. Eppler, Oliver Haas, Heiko Roehl, Thomas Schumacher, Brigitte Winkler (Hrsg.): Vordenker der Organisations­entwicklung. Impulse für wirksame Veränderungsarbeit. Schäffer-Poeschel Verlag für Wirtschaft · Steuern · Recht GmbH (Stuttgart) 2024. 328 Seiten. ISBN 978-3-7910-5962-4. D: 49,99 EUR, A: 51,40 EUR.
Reihe: Systemisches Management.

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Herausgeber:innen

Prof. Dr. Martin J. Eppler ist Ordinarius für Medien- und Kommunikationsmanagement an der Universität St. Gallen, wo er das Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement leitet. Er studierte Betriebswirtschaft und Kommunikationswissenschaften und doktorierte an der Universität Genf zur Thematik des Information Overload und habilitierte an der Universität St. Gallen zu Datenqualität. Seine Forschungsgebiete sind Managementkommunikation, Wissensvisualisierung, Strategiekommunikation und Kreativität in Teams.

Martin Eppler ist Autor von 25 Büchern und über 200 wissenschaftlichen Aufsätzen in Zeitschriften wie Organization Studies, Long Range Planning, IEEE Transactions, Harvard Business Manager, Design Studies, Management Decision u.a. Er war mehrere Jahre Redakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift OrganisationsEntwicklung. Neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ist er als Berater und Trainer in den Bereichen Change, Design Thinking, VUCA-Management, Strategieentwicklung und interkulturelle Kommunikation tätig.

Oliver Haas ist Senior Berater der osb international. Er studierte Soziologie in Frankfurt/Main und Berlin. Seit über 20 Jahren ist er in unterschiedlichen Führungsfunktionen und als Berater in den Bereichen Organisations- und Strategieentwicklung sowie Führungskräfteentwicklung weltweit tätig. Er arbeitete für die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit und koordinierte als Senior-Organisationsberater in der Weltbankgruppe in Washington D.C. eine Initiative für organisationsübergreifendes Lernen in der internationalen Zusammenarbeit.

Prof. Dr. Heiko Roehl ist Mitgründer und Geschäftsführender Gesellschafter der Kessel & Kessel GmbH in Berlin. Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Begleitung von Organisationen in tiefgreifenden Veränderungen. Er war über zwei Jahrzehnte in diversen Führungsfunktionen für größere Veränderungsprogramme verantwortlich und hat Psychologie, Betriebswirtschaft und Soziologie studiert. Er ist Speaker und Autor zahlreicher Publikationen im Themenkreis Organisation, Führung und Veränderungsmanagement und Mitherausgeber der Zeitschrift OrganisationsEntwicklung.

Prof. Dr. Thomas Schumacher ist Partner sowie Management- und Organisationsberater der osb international. Er ist Programmleiter und Co-Leiter des Management Lab an der HBM Unternehmerschule (ESHSG)der Universität St. Gallen, Professor für Organisation und Führung an der katholischen Hochschule Freiburg und Verwaltungsrat in einem Pharmaunternehmen. Thomas Schumacher beschäftigt sich seit über zwanzig Jahren mit der Entwicklung von Organisationen und Management.

Prof. Dr. Brigitte Winkler ist Mitgründerin und geschäftsführende Partnerin von A47-Consulting, Beratung für Unternehmensentwicklung und Managementdiagnostik in München. Sie war viele Jahre in leitenden Positionen im Personalbereich im In- und Ausland tätig. Als promovierte Wirtschaftspsychologin liegen ihre Beratungsschwerpunkte im Führungskräfte-Coaching, der Managementdiagnostik sowie in der Beratung von Veränderungsprojekten. Hierin verfügt sie sowohl über zertifizierte Qualifikationen für die Disziplinen Coaching, Supervision, Mediation, Organisationsentwicklung und Eignungsdiagnostik.

Thema

Der Sammelband Vordenker der Organisationsentwicklung vereint die einflussreichsten Theorien und Konzepte, die das Verständnis und die Praxis organisationaler Veränderung geprägt haben. Herausgegeben von Thomas Schumacher, Martin J. Eppler, Oliver Haas, Heiko Roehl und Brigitte Winkler, präsentiert das Buch 25 bedeutende Denker:innen von Kurt Lewin, Niklas Luhmann und Peter Senge bis zu Karl Weick und Edgar Schein. Es verknüpft wissenschaftliche Grundlagen mit praktischer Relevanz und zeigt, wie theoretische Perspektiven Orientierung in komplexen Veränderungsprozessen bieten. Ein zentrales Element, das sich als roter Faden durch den Band zieht, ist die Fallanalyse des VW-Dieselskandals, anhand derer die Konzepte der einzelnen Vordenker:innen angewandt und reflektiert werden. Dadurch entsteht ein Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis, der hilft, Dynamik, Kultur und Führung in Organisationen besser zu verstehen.

Aufbau und Inhalt

Der Sammelband ist 2024 bei Schäffer-Poeschel erschienen und hat umfasst ca, 330 Seiten. Im Werk finden sich Aufsätze zu gut zwei Dutzend internationale Vordenker:innen der Organisationsentwicklung, die sich aus unterschiedlichen fachlichen Disziplinen wie Organisationspsychologie und Soziologie, Betriebswirtschaftslehre und systemischer Theorie kommend mit Organisation und Organisationsentwicklung befasst haben. Bei diesen Vordenker:innen handelt es sich um Personen, deren Wirken die Organisationswissenschaft in Praxis und Theorie maßgeblich geprägt hat. Da es den Rahmen einer Rezension sprengen würde, auf jeden Beitrag einzugehen, werden nachfolgend lediglich einige davon näher beschrieben.

Der Text Zurück in die Zukunft von Thomas Schumacher eröffnet das Buch mit einem Kapitel, in dem der Wert der Organisationstheorie für Praxis und Beratung betont wird. Er beginnt mit der Beobachtung, dass Organisationen die tragenden Strukturen moderner Gesellschaften seien. Ob Krankenhäuser, Schulen, Parteien oder Unternehmen – alles soziale Handeln fände heute in organisationalen Rahmen statt. Trotzdem gingen viele Menschen erstaunlich naiv mit Organisationen um, schildert der Autor. Sie erlebten Organisationen zwar täglich, reflektierten aber selten, wiesie funktionieren. Schumacher erinnert an Kurt Lewins Diktum, man müsse eine Organisation verändern, um sie zu verstehen. Der Autor argumentiert, dass Theorien der Organisationsentwicklung helfen, die Grammatik und die verborgenen Muster zu erkennen, die Organisationen strukturieren.

Dabei grenzt er Organisationstheorie von kurzfristigen Managementmoden ab. Während Moden einfache Antworten versprächen, lieferten Theorie ein Instrument, um die Komplexität der Realität auszuhalten. Theorie sei kein Werkzeugkasten, sondern ein Erkenntnisprozess. Schumacher beschreibt dabei zwei Formen von Relevanz: Die instrumentelle Relevanz (Theorie als Handlungsanleitung und die konzeptuelle Relevanz (Theorie als Denkrahmen, der neue Wahrnehmungen ermöglicht). Gerade die konzeptuelle Relevanz sei entscheidend, denn sie zwinge Beratende und Führungskräfte, ihr Denken zu erweitern, anstatt nur Methoden zu übernehmen.

In Topografie der Pioniere entwerfen Martin J. Eppler und Heiko Roehl eine Landkarte der Organisationsforschung. Sie betonen, dass Organisationen so komplex seien wie ein Elefant, den mehrere Blinde ertasten. Jede Theorie greife nur einen Teil auf, doch zusammen entstünde ein vollständigeres Bild. Für die Organisationsentwicklung sei diese Vielstimmigkeit kein Problem, sondern eine Stärke. Sie erlaube, aus unterschiedlichen Disziplinen zu schöpfen: Psychologie, Soziologie, Systemtheorie, Managementlehre und Philosophie. Die OE sei damit transdisziplinär und eklektisch. Eppler & Roehl kontextualisieren die Klassiker historisch. Jede Theorie spiegele die Werte, politischen Umstände und kulturellen Horizonte ihrer Zeit wider. So wird etwa Kurt Lewins Drei-Phasen-Modell (Unfreeze – Move – Refreeze) in seinen ursprünglichen Kontext gestellt.

Im heutigen Kontext permanenter Veränderung sei das „Refreeze“ kaum noch möglich, denn Organisationen müssten in Bewegung bleiben. Die Autoren zeigen, dass Theorien immer auch Welt- und Menschenbilder, Machtverständnisse und Wertorientierungen transportieren. Sie schlagen daher ein Gedankenexperiment vor: Jede Theorie solle auf denselben Fall angewendet werden, den VW-Dieselskandal. So werde sichtbar, wie unterschiedlich Organisationen gedeutet werden könnten, nämlich als System, als Kultur, als Netzwerk, als Bühne oder als Kommunikationsfluss usw. Zum Abschluss listen sie die wichtigsten Vordenker:innen und ihre Schlüsselbegriffe auf, von Antonovsky (Salutogenese) über Luhmann (Autopoiesis) bis Weick (Sensemaking) auf.

Das Wirken von Chris Argyris, der zusammen mit Donald Schön als ein Pionier des organisationalen Lernens gilt, nimmt Joachim Freimuth in seinem Text in den Blick. Argyris Konzepte des Single-Loop- und Double-Loop-Learning gelten als Klassiker der OE. Unter Single-Loop-Learning werde verstanden, Fehler zwar zu korrigieren, die Grundannahmen, auf deren Basis sie entstanden, aber nicht zu hinterfragen. Das hingegen geschehe beim Double-Loop-Learning, bei dem die Organisation ihre eigenen Denk- und Handlungsregeln reflektiere. Argyris habe kritisiert, dass viele Organisationen defensiv lernten. Sie vermieden Widersprüche, vertuschten Fehler und pflegten defensive Routinen. Beim VW-Skandal werde diese Theorie fast zur empirischen Bestätigung. Ein Unternehmen wie VW, das nur die Symptome korrigiert habe (Emissionstests manipulieren), anstatt die grundlegende Zielkonfliktlogik zu prüfen (Leistungsdruck vs. Nachhaltigkeit). Argyris’ Beitrag zur OE lehre, dass Lernen in Organisationen nur möglich sei, wenn Reflexion institutionell erlaubt ist, wenn also Irritation nicht bestraft, sondern wertgeschätzt werde.

Albert Müller stellt in seinem Beitrag den Anthropologen und Kybernetiker Gregory Bateson vor, dessen Denken die Systemtheorie maßgeblich beeinflusst hat. Bateson habe Kommunikation als ökologisches System von Differenzen und Mustern begriffen. Zentral sei für ihn der Double-Bind-Begriff gewesen, also die paradoxe Botschaft, die Widersprüche erzeuge (wie etwa „Sei spontan!“ oder „Sag mir offen deine Meinung, aber wehe, du tust es wirklich“). Organisationen lebten von solchen paradoxen Erwartungen. Der VW-Skandal sei ein Paradebeispiel dafür. Ingenieur:innen sollten innovativ und ebenso gesetzestreusein, was ein unmöglicher Auftrag gewesen sei. Die Reaktion sei eine kreative Regelverletzung gewesen, die das Paradox scheinbar löste, aber den Widerspruch verschärfte. Bateson würde VW als ein System interpretieren, das seine eigene Lernfähigkeit blockiert, weil es Widersprüche nicht kommunizieren kann. Organisationen müssten lernen, Paradoxien nicht zu leugnen, sondern sie kommunikativ zu balancieren. Diese Erkenntnis könne als eines der Vermächtnisse von Gregory Bateson gelten.

Der schwedischen Organisationstheoretiker Nils Brunsson und sein Logik von Heuchelei und organisationaler Irrationalität werden von Veronika Tacke & Christopher Dorn vorgestellt. Einer von Brunssons Schlüsselbegriffen sei die organisierte Heuchelei. Er habe in seinen Werken gezeigt, dass Organisationen oft widersprüchlich handelten. Sie sagten eines, entschieden anderes und täten etwas Drittes. Dieser Widerspruch ermögliche das Überleben in widersprüchlichen Umwelten. VW verkörpere genau diese Logik. Öffentlich sei Nachhaltigkeit gepredigt worden, intern aber seien Leistungsziele priorisiert worden. Die Diskrepanz zwischen Kommunikation, Entscheidung und Handlung sei systemstabilisierend. Tacke & Dorn machen deutlich, dass Brunsson den VW-Skandal nicht als moralisches, sondern als strukturelles Problem deuten würde. In komplexen Institutionen müssten Widersprüche verwaltet werden, was mitunter eben (auch) durch Heuchelei geschehe. Die Herausforderung für die OE bestehe darin, diese Diskrepanzen sichtbar und bearbeitbar zu machen, statt sie zu verdecken.

Brigitte Winkler befasst sich mit Mary Parker Follett. Diese gilt als frühe Vordenkerin von Partizipation, Empowerment und „Shared Leadership“. Follett habe in einer Zeit gelebt, in der Managementwissenschaft fast ausschließlich von Männern geprägt gewesen sei. Ihre Ideen über Führung, Macht und Konfliktlösung sei ihrer Zeit weit voraus gewesen. Sie habe Macht nicht als Herrschaft („power over“) verstanden, sondern als kollektive Gestaltungskraft („power with“). Organisationen hätte Follett als soziale Gebilde verstanden, in denen Konflikte nicht beseitigt, sondern integriert werden müssten. Ihr Konzept der „integrativen Lösung“ bedeute, dass A und B in einer Auseinandersetzung nicht um Sieg oder Kompromiss rängen, sondern gemeinsam eine dritte Lösung (C) schafften, die beide Perspektiven übersteige. Auf den VW-Dieselskandal angewandt, würde Follett argumentieren, dass das Problem nicht mangelnde Kontrolle, sondern fehlende kollaborative Sinnstiftung gewesen sei. Entscheidungen seien top-down getroffen worden, Konflikte zwischen Technik, Ethik und Profit nicht integriert, sondern unterdrückt worden. Folletts Ansatz erinnere daran, dass echte Führung nicht in der Durchsetzung, sondern in der Integration liege. Das sei eine Lehre, die in modernen Diskursen zu New Work und Servant Leadership wiederkehre.

Oliver Haas nimmt sich dem Wirken Kurt Lewins an. Dieser prägte das Feld der Sozialpsychologie und gilt als Vater der Organisationsentwicklung. Seine berühmte Formel B = f(P, E) („Behavior is a function of Person and Environment“) beschreibe Verhalten als Ergebnis des Zusammenspiels individueller und sozialer Kräfte. In seiner Feldtheorie denke Lewin Organisationen als dynamische Spannungsfelder, in denen treibende und hemmende Kräfte im Gleichgewicht stünden. Der Dreischritt Unfreezing – Moving – Refreezing sei zum Grundmodell des Change Managements geworden. Haas betont, dass Lewin Veränderung nicht linear verstanden habe, sondern als partizipativen Prozess, der Emotionen, Werte und soziale Beziehungen einbezöge. Auf den VW-Skandal bezogen ließe sich mit Lewin sagen: Der Konzern sei im eingefrorenen Zustand einer überkommenen Erfolgskultur geblieben. Es habe das „Unfreezing“, also die Infragestellung alter Paradigmen, gefehlt. Ohne Beteiligung, Vertrauen und gemeinsames Zielverständnis bleibe Wandel kosmetisch, ließe sich auf Basis von Lewins Theorie zusammenfassen.

Heiko Roehl erläutert, wie Niklas Luhmanndie Sicht auf Organisationen revolutionierte hat. Für Luhmann seien Organisationen autopoietische soziale Systeme. Sie bestünden aus Kommunikation, nicht aus Menschen. Menschen gehörten zur Umwelt der Organisation. Organisationen reproduzierten sich, indem sie Entscheidungen träfen, die an Entscheidungen anschlössen. Führung sei in diesem Modell nicht Steuerung, sondern Kommunikation über Kommunikation. Veränderung entstünde, wenn neue Kommunikationsmuster stabilisiert werden. Der VW-Skandal erscheine aus dieser Sicht als Fehler im Kommunikationssystem. Das System „VW“ habe eine Realität erzeugt, in der Betrug als normal gegolten habe. Nicht Personen handelten unmoralisch, sondern das System habe Entscheidungsprämissen erzeugt, die Abweichung ermöglichten. Luhmanns Perspektive entlaste den moralischen Diskurs, ersetze ihn aber durch strukturelle Schärfe. Systeme seien nicht steuerbar, sondern nur irritierbar. Für OE bedeute dies, sie könne Organisationen nicht verändern, sondern nur Irritationen erzeugen, auf die sie selbst reagierten.

In einem weiteren Aufsatz widmet sich Brigitte Winkler dem Wirken von Edgar H. Schein, der sich u.a. mit dem Themenkomplex der Kultur in Organisationen befasst hat. Schein prägte das Drei-Ebenen-Modell der Organisationskultur: (1) Artefakte (sichtbare Strukturen und Rituale), (2) Bekundete Werte (Strategien, Ziele, Leitbilder) sowie (3) Grundannahmen (unbewusste Überzeugungen über Mensch, Arbeit, Umwelt). Kultur sei ihm zufolge das Betriebssystem von Organisationen: Tief, unsichtbar, wirksam. Veränderung scheiterte meist daran, dass sie nur auf der Oberfläche (Artefakte, Werte) ansetzten, nicht an den Grundannahmen. Im VW-Skandal habe sich eine toxische Kultur gezeigt: Gehorsam, Loyalität, Leistungsdruck, Perfektionismus. Schein hätte wohl gesagt, dass diese Kultur über Jahrzehnte institutionalisiert worden sei. Nur durchpsychologische Sicherheitkönne sie transformiert werden. Führung heiße in Scheins Verständnis, Kultur zu diagnostizieren und zu pflegen, nicht aber, sie zu diktieren.

Martin J. Eppler rekurriert auf das Wirken des Systemtheoretikers Peter M. Senge, bekannt durch sein vielfach zitiertes Buch„The Fifth Discipline“ (1990). Senge sei überzeugt gewesen, dass Organisationen nur überleben könnten, wenn sie zu lernenden Systemen werden. Er habe diesbezüglich fünf Disziplinen identifiziert: (1) Persönliche Meisterschaft, (2) Mentale Modelle, (3) Gemeinsame Vision, (4) Teamlernen und (5) Systemdenken. Die lernende Organisation integriere individuelles und kollektives Lernen. Senge habe die Bedeutung von Systemdenken bedenken, konkret das Erkennen von Mustern, Rückkopplungen und langfristigen Konsequenzen. Im VW-Skandal habe genau dieses Denken gefehlt, ließe sich mit Senge sagen. Entscheidungen seien isoliert getroffen worden, Abteilungen hätten in Silos gearbeitet, Rückmeldungen seien ignoriert worden. Senge würde sagen, dass VW an Lernbehinderunggelitten habe, weil es keine Systeme zur Selbstbeobachtung etablierte. Für die OE liefere er damit ein positives Leitbild: Organisationen könnten sich selbst erneuern, wenn sie Lernprozesse institutionalisierten.

Das Kapitel von Heiko Roehl beschließt den mittleren Buchteil mit einem der faszinierendsten Denker der Organisationspsychologie, Karl E. Weick. Dieser betrachte Organisationen nicht als feste Strukturen, sondern als Prozesse der Sinnstiftung (sensemaking). Menschen „enacten“ ihre Umwelt. Sie erschufen sie durch Handeln und Kommunikation. Organisationen seien somit keine stabilen Gebilde, sondern fortwährende Erzählungen. Weick fordere, Organisationen nicht als Substantive zu betrachten, sondern als Verben zu denken: Organisieren statt Organisation. In komplexen Systemen entstünde Sinn erst rückblickend – man versteht, was passiert ist, während man schon handelt. Im VW-Skandal sei dieses Sensemaking kollabierte. Mitarbeitende hätten den Bezug zwischen Handeln und Bedeutung verloren. „Wir bauen saubere Autos“ sei eine kollektive Erzählung gewesen, die zur Ideologie gewandelt worden sei. Weick würde argumentieren, dass Organisationen in Krisen gerieten, wenn ihre Sinnsysteme brechen. Sein Appell könnte lauten, dass Führung Sinn ermöglichen und nicht bloß steuern müsse. Organisationen müssten lernen, Unsicherheit zu interpretieren, statt sie zu vermeiden.

In einem weiteren Text, den Heiko Roehl & Brigitte Winkler gemeinsam verfasst haben, widmen beide sich Peter F. Drucker, der als einer der Gründungsvater der modernen Managementlehre gilt. Drucker habe Management als soziale Praxis, nicht als technische Disziplin, begriffen. Er habe Begriffe wie Management by Objectives (MbO), aber auch Knowledge Worker und Self-Management geprägt. Drucker habe glaubte, Organisationen seien moralische Institutionen, die Verantwortung tragen. Auf VW angewandt würde er sagen, dass das Unternehmen Effizienz mit Effektivität verwechselt habe. Es habe Dinge richtig getan, aber nicht die richtigen Dinge. Drucker hätte, so sind die Autor:innen sicher, die Fokussierung von Werten und Zwecken gefordert, frei nach seiner Prämisse: Purpose before profit. Für die OE sei Drucker relevant, da er die Brücke zwischen Managementpraxis und gesellschaftlicher Verantwortung geschlagen habe. Das sei eine Verbindung, die heute im Diskurs um „Purpose Driven Leadership“ neu entdeckt werde.

Im letzten Kapitel, das den Titel Auf den Schultern von Riesen trägt, findet sich ein Epilog, in dem Brigitte Winkler & Oliver Haas reflektieren, dass ihr Buch nicht bloß eine Hommage an die Vergangenheit sei, sondern eine Einladung, Theorie lebendig zu halten. Organisationen brauchten Vordenker:innen, weil sie ohne Denken im Wandel orientierungslos würden. Theorien seien nicht akademischer Ballast, sondern eine Form von Professionalität. Wer Organisationen verändern wolle, müsse verstehen, wie sie Wirklichkeit erzeugen. Die vorgestellten Denker:innen zeigten, dass Komplexität als Normalzustand in Organisationen zu begreifen sei. Organisationen seien widersprüchlich, paradox und selbstreferenziell. OE müsse diese Komplexität nutzbar machen. Die Herausgeber:innen reflektieren zudem kritisch, dass der Kanon der Vordenker:innen der OE ganz überwiegend männlich dominiert sei. Künftig gelte es, mehr weibliche und nichtwestliche Stimmen einzubeziehen. Neue Vordenker:innen könnten aus Feldern wie Neurobiologie, KI-Ethik oder Nachhaltigkeit kommen, also aus Disziplinen, die die Organisation der Zukunft prägen.

Diskussion

Was lässt sich zu diesem Werk nun sagen? Ist es lesenswert? Und wenn ja, für wen? Der Rezensent konnte dazu folgende Meinung gewinnen:

Grundsätzliches: Nach 29 Kapiteln wird klar, dass Vordenker der Organisationsentwicklung kein bloßes Lesebuch ist, sondern ein Manifest. Das Buch ruft dazu auf, Theorie nicht anzuwenden, sondern sie wirklich zu leben. Bei der Lektüre wird deutlich, dass jede Organisation als Spiegel menschlichen Denkens und daher immer auch als ein moralisches Projekt gelesen werden kann. Die letzten Kapitel des Bandes, besonders die Texte zu von Foerster, Popper und Scharmer, betonen, dass Erkenntnis Demut, Lernen, Irrtum und Veränderung braucht. Was es im Kontext der OE damit auf sich hat, wird im Buch deutlich. Die Lektüre macht nachvollziehbar, was der Satz bedeutet, dass wir alle auf den Schultern von Riesen stehen, aber auch, dass wir selbst Verantwortung tragen, die nächste Generation von Vordenker:innen hervorzubringen. In diesem Sinne ist das Buch kein Abschluss, sondern ein Anfang.

Das Werk kann als intellektueller Wegweiser im Dschungel organisationaler Komplexität betrachtet werden. Es ist ein Kompendium, das die theoretischen und praktischen Grundlagen moderner Organisationsentwicklung kartografiert. Es eignet sich gut in der hochschulischen Lehre, kann aber auch in der Unternehmensberatung Anwendung finden. Zur Zielgruppe zählen Studierende und Lehrende der BWL und Organisationswissenschaft, Soziologie und Psychologie wie auch Organisationsberatende. Schon der Auftaktartikel von Thomas Schumacher verdeutlicht dies, indem betont wird, dass Organisationstheorie nicht als abstrakte Disziplin verstanden werden sollte, sondern als lebendige Denktradition, die Orientierung stifte. In einer Zeit, in der Schlagworte wie Agilität, New Work oder Resilienz inflationär gebraucht werden, ist es ein erfrischender Ansatz, die Klassiker als Reflexionsinstrumente gegen modische Verkürzungen zu positionieren.

Aufbau und Inhalt: Das Buch gliedert sich in drei große Teile: (1) Theoretische Rahmung (Kapitel 1–3) – Einführung in die Idee der Vordenker:innen, eine Topografie der Pioniere und eine Fallstudie zum VW-Dieselskandal, (2) die 25 Porträts der Vordenker:innen (Kapitel 4–28) – Biografie, Konzepte und Anwendung auf den VW-Fall sowie (3) der Epilog – Rückblick und Ausblick. Das Konzept, jede Theorie an einem realen Skandal zu messen, macht das Werk methodisch innovativ und praxisnah. Die Herausgeber:innen nutzen den VW-Skandal als theoretisches Experimentierfeld. Jede Theorie bietet eine andere Deutung organisationalen Versagens, von Machtlogik (Machiavelli) über Systemblindheit (Luhmann) bis Kulturversagen (Schein). Dadurch entsteht eine multiperspektivische Diagnostik organisationaler Pathologien.

Stil und Lesbarkeit: Die Beiträge sind wissenschaftlich fundiert, aber verständlich. Didaktisch herausragend ist die Frage „Was hätte X zum VW-Dieselskandal gesagt?“, welche die Beiträge als roter Faden durchzieht. So werden Theorie und Praxis elegant verknüpft. Das Buch leistet dadurch einen doppelten Beitrag. Für die Wissenschaft gibt es einen Überblick über die wichtigsten Theoriestränge der Organisationsforschung. Beratenden und Führungskräfte gibt es ein Reflexionswerkzeug an die Hand, das hilft, Komplexität besser zu verstehen und zu „enacten“. Kleinere Schwächen betreffen den hohen Anspruch des Werkes, zumal definitiv einige Vorkenntnisse nötig sind, um allen Darlegungen folgen zu können. Dennoch bleibt der Gesamteindruck, dass es sich bei diesem Buch um einen Meilenstein handelt. In einer Organisationsberatungswelt, die oft auf Schnelllösungen setzt, ruft es zur intellektuellen Tiefe auf.

Fazit

Schumacher und seine Mitautor:innen führen überzeugend vor Augen, dass Organisationen dynamische Kommunikations-, Macht- und Sinnsysteme sind, die sich selbst organisieren und korrigieren – manchmal auf fatale Weise. Das Buch zeigt, dass die Klassiker nicht veraltet sind, sondern Antworten auf hochaktuelle Fragen bieten. Damit erfüllt das Werk sein erklärtes Ziel, im Dickicht der Organisationsentwicklung Orientierung zu stiften, auf sehr lesenswerte Weise.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit an der IU Internationale Hochschule in Braunschweig.
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ISSN 2190-9245