Frauke Mangels: Individualpädagogische Perspektiven traumasensibler Jugendhilfe
Rezensiert von Prof. i. R. Dr. Werner Michl, 27.05.2025

Frauke Mangels: Individualpädagogische Perspektiven traumasensibler Jugendhilfe. Lehmanns Media GmbH (Berlin) 2025. 319 Seiten. ISBN 978-3-96543-552-0. D: 19,95 EUR, A: 20,60 EUR.
Thema
Es liegt eine ausführliche, intensive, fleißige und preiswerte Studie zur Individualpädagogik vor, die als Dissertation an der Leuphana Universität Lüneburg verfasst wurde. Den Begriff der Individualpädagogik kann man fast gleichsetzen mit dem § 35 SGB VIII „Intensive sozialpädagogische Einzelfallhilfe“ (S. 44) – die Abkürzung lautet ISE, nicht „ISP“ (S. 315). In diesem Arbeitsfeld gibt es sicherlich viele traumatisierte Jugendliche, daher müssen Pädagoginnen und Pädagogen in der Jugendhilfe traumasensibel arbeiten.
Autorin
Frauke Mangels hat sich in ihrer umfangreichen Dissertation mit nahezu alle Facetten der Individualpädagogik beschäftigt. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit hat sie in der Praxis der Jugendhilfe Erfahrungen gesammelt.
Aufbau
Das umfangreiche Werk ist in elf Kapitel gegliedert. Zunächst werden die „Intention und Konzeption der Studie“ vorgestellt. Im zweiten Kapitel werden die Herausforderungen in der Jugendhilfe des 21. Jahrhunderts beschrieben. Im dritten Kapitel geht es um Theorie und Forschungsstand, „Forschungsdesign und Untersuchungsformen“ sind Inhalt des nächsten Abschnitts. Dann werden im fünften Kapitel erste, ausgewählte Ergebnisse präsentiert und in Kapitel 6 und 7 die Ergebnisse der Expert:inneninterviews, zunächst zu den „Chancen und Risiken traumasensibler Individualpädagogik“ dann „Zur Zukunft der Jugendhilfe.“ Im achten Kapitel diskutiert die Autorin ausgewählte Ergebnisse, dann werden im neunten Kapitel die Forschungsfragen beantwortet und dann die „Grenzen der Studie“ aufgezeigt (10. Kapitel). Im letzten (11.) Kapitel definiert Frauke Mangels „Neue Herausforderungen“. Mit einem umfassenden Literaturverzeichnis, einem Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis und dem Interviewleitfaden endet diese gründliche Studie.
Inhalt
Der Einstieg in das Buch beginnt mit einer wagemutigen These: „Hochbelastete junge Menschen treffen auf unzureichende Hilfen“ (S. 1). Seit etwa 1980 gibt es Auslands- und Wildnisaufenthalte, Segelprojekte, Radreisen und Standprojekte von Portugal bis Finnland. Dazu kommen ausführliche empirische Studien zu Qualitätsstandards, zu Wirklichkeit und Wirksamkeit von Jugendhilfemaßnahmen im Eins-zu-Eins-Format. Ohne Zweifel entspringen die starken Verhaltensauffälligkeiten dieser Jugendlichen einer sehr prekären Lebenslage und sind meistens Folge von einschneidenden Gewalterfahrungen. Die romantische Bezeichnung „verhaltensoriginell“ (S. 122) trifft die pädagogische Realität genauso wenig wie die Begriffe „Systemsprenger“, „Intensivtäter“ oder „Verweigerer“. Man kann hier von „Stigmatisierung“ sprechen, vielleicht verbirgt sich dahinter aber nur die Hilflosigkeit, sehr komplexe Tatsachen mit einem schlüssigen Wort zu treffen.
Schon die ersten Seiten zeigen eine solide Herangehensweise an das Thema. Frauke Mangels kennt die Probleme offensichtlich aus Theorie und Praxis. Manchmal liegt der Teufel im Detail. Die kleinen Fehler sollte man weniger der Autorin als den Gutachtern zurechnen, deren Aufgabe es unter anderem ist, Literaturverweise zu prüfen. Natürlich sind das Nebensächlichkeiten.
Einen sehr guten Überblick zur Theoriebildung und zum Forschungsstand bietet das dritte Kapitel. Nach den ausführlichen Erörterungen zu Traumatheorie und zur Verortung von Traumatherapie und Traumapädagogik in der Jugendhilfe wird klar, dass dieses Thema einen deutlich höheren Stellenwert im Studium der Sozialen Arbeit bekommen muss. Vertiefende Einblicke gibt es auch in die Individualpädagogik, ihre ersten Gehversuche, die Qualitätsentwicklung, ihre Weiterführung als traumasensible Individualpädagogik und ihre Bedeutung im System der „Hilfen zur Erziehung.“
Im nächsten Abschnitt werden die drei zentralen Forschungsfragen beschrieben (S. 79):
„1. Welche Vorgehensweisen und methodischen Ansätze sind bei individualpädagogischen Maßnahmen aus Sicht der Expert:innen bei traumatischen Belastungen von Bedeutung?
2. Wie erklären sich die Expert:innen die Erfolge individualpädagogischer Jugendhilfeträger bei der Arbeit mit hochbelasteten, traumatisierten und exkludierten Kindern und Jugendlichen.
3. Welche Kompetenzanforderungen stellen die Expert:innen an die Fachkräfte, die in individualpädagogischen Settings im Eins-zu-Eins-Kontakt mit den jungen Menschen arbeiten? Welche Anforderungen stellen sie an die Ausbildung der Fachkräfte für dieses Arbeitsfeld?“
Im fünften Kapitel werden ausgewählte Ergebnisse der Exploration vorgestellt. Die Beobachtungen zeigten erstaunliche Unterschiede zwischen den Anbietern von Maßnahmen nach § 35 SGB VIII, so die Autorin (S. 103). Nebenbei: Die beteiligten Jugendhilfeträger betreuen jeweils zwischen 30 bis 160 junge Menschen (S. 215) – die Aussage wird aber erst verständlich durch die Abbildung 15 (S. 123). Zudem wurden insgesamt zehn Konzeptionen dieser Träger analysiert, die Fachliteratur gesichtet und eigene Beobachtungen ausgewertet.
Die Darstellung der Ergebnisse der Experteninterviews erfolgt im sechsten und siebten Kapitel. Zunächst werden die „Chancen und Risiken traumasensibler Individualpädagogik“ ausgelotet, dann geht es um die „Zukunft der Jugendhilfe.“ Der sechste Abschnitt ist in fünf Unterkapitel gegliedert, auf zwei davon sei kurz eingegangen. Alle Experten sind sich erstens einig, dass es gravierende Versorgungslücken gibt, sowohl in der Jugendhilfe als auch in der Jugendpsychiatrie und im Gesundheitswesen. Zudem gibt es deutliche Kommunikationsschwierigkeiten und Kooperationsbarrieren zwischen den beteiligten Institutionen. Zweitens versucht die Autorin die Erfolge und Misserfolge zu erklären, wobei die Definitionen von Erfolg und Misserfolg sehr unterschiedlich ausfallen. Prinzipiell muss man festhalten, dass ISE-Maßnahmen im Vergleich zu anderen Formen der Hilfen zur Erziehung eindeutig erfolgreicher sind. Erfolg kann auch bedeuten, dass Jugendliche nach der Maßnahme zuverlässige Sozialhilfeempfänger sind oder nicht mehr kriminell werden. Manchmal wird nach vielen Rückfällen der Erfolg der Maßnahme erst nach mehreren Jahren sichtbar. Natürlich gibt es Misserfolge. Sie beruhen manchmal auf den „zeitverzögert eintretenden Erfolgen“ (S. 174); es dann scheinbare Misserfolge. Manche Maßnahmen müssen abgebrochen werden, manche Jugendliche landen nach der Maßnahme im alten Milieu und manchmal kriselt die Beziehungsebene zwischen Sozialpädagogin und Jugendlichen.
Die „Ergebnisse der Experteninterviews“ werden im 7. Abschnitt vorgestellt. Dabei unterscheidet Frauke Mangels zwischen den Kompetenzanforderungen an die Fachkräfte, den Anforderungen an die Jugendhilfeträger, an die Studiengänge der Sozialen Arbeit und an Hilfesysteme, Politik und Gesellschaft. Neben den beruflichen Qualifikationen stellt die ISE höchste Anforderungen an personelle Kompetenzen. Es braucht berufliche Erfahrungen und eine Lebensphase, in der man im Rahmen von Auslandsmaßnehmen für mehrere Wochen oder sogar Monate privat abkömmlich sein will und muss. In der Regel werden erfahrene Erzieherinnen, Sozialpädagogen, Pädagoginnen eingestellt, manchmal auch bewährte Fachkräfte ohne pädagogische Ausbildung. Die Eignung muss vom Jugendhilfeträger überprüft werden (vgl. Abb. 20, S. 207). Neben der kontinuierlichen Weiterbildung und fachlichen Begleitung braucht es beim & 35 unbedingt eine persönliche Supervision, die durch neue Medien ergänzt, aber nicht ersetzt werden kann (S. 211). Die Position und Aufgaben der Hochschulen werden in einem weiteren Unterkapitel geklärt. Ohne Zweifel wären Spezialisierungen, z.B. im Fach Jugendhilfe, vor allem im Rahmen von Masterstudiengängen angesagt.
In den Kapiteln 8 bis 10 werden ausgewählte Ergebnisse diskutiert, die Antworten auf die Forschungsfragen zusammengefasst und die Grenzen der Studie aufgezeigt. Zunächst geht es um die wichtige und bisher kaum diskutierte Frage der Inklusion. Dann werden die Vor- und Nachteile von Einzel- und Gruppenbetreuung abgewägt: individuelle und intensive Beziehung contra soziale Kompetenz. Das Verhältnis von Nähe und Distanz ist ein zentrales Thema aller sozialen Berufe, aber im § 35 wird es wie in einem Brennglas zum Erfolgs- oder Misserfolgsfaktor Die bei Auslandsmaßnahmen überbordende Bürokratie, die auf dem Nährboden von heftiger, meist unsachlicher Kritik gewachsen ist, hat zu höheren Qualitätsstandards geführt, erschwert aber zunehmend die Durchführung dieses Hilfeansatzes.
Die Beantwortung der drei Forschungsfragen von Expertinnen und Experten (siehe oben) kann kurz zusammengefasst werden:
- Traumasensible Ansätze sind für individualpädagogische Maßnahmen unentbehrlich und gehören zur Ausbildung von Pädagoginnen und Pädagogen, die im Rahmen des & 35 mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.
- Die Erfolge individualpädagogischer Jugendhilfe hängen natürlich von der Definition der Lernziele ab. Misst man als Erfolgsfaktor die mehr oder minder ausgeprägte gesellschaftliche Teilhabe, dann kann man von einer hohen Erfolgsquote ausgehen.
- Grundlagen für die hohen Anforderungen an die Fachkräfte müssen sich im Lehrplan von Hochschulen für Angewandte Wissenschaften widerspiegeln. Sozialpädagogische Träger müssen durch Weiterbildung, Supervision und Nachbetreuung für hohe Standards sorgen.
Im 11. und letzten Kapitel werden „Neue Herausforderungen“ formuliert, die sich aus dieser Studie ergeben. Dazu gehört der Appell, dass Jugendhilfe, Jugendpsychiatrie und Schule eng zusammenarbeiten müssen. Nach wie vor fehlt die politische Unterstützung für die ISE; es fehlen aber bei wachsenden Zahlen hoch belasteter Jugendlicher entsprechend gut ausgebildete Fachkräfte. Die Durchführung von Auslands- und Reiseprojekten wird zunehmend bürokratisch erschwert. Erlebnispädagogik sollte nicht mit Event verwechselt werden (S. 281). Ihre Bedeutung für die ISE wurde anfänglich deutlich überschätzt.
Diskussion
Die natürlich zutreffende Feststellung, dass ein weiterer Forschungsbedarf besteht, ist fast eine wissenschaftliche Floskel (S. 288). Bei solchen umfangreichen Studien keimt der Wunsch auf, dass eine mindestens um die Hälfte gekürzte Veröffentlichung der Verbreitung der Ergebnisse dienlicher wäre. Es muss nun darum gehen, wie die Ergebnisse dieser umfangreichen Studie in der Jugendhilfepraxis wahrgenommen und umgesetzt werden.
Fazit
Ohne Zweifel lohnt sich die Lesearbeit für alle, die sich über die Möglichkeiten des § 35 SGB VIII „Intensive sozialpädagogische Einzelfallhilfe“ informieren wollen. Sie lernen Ziele und Zielgruppen kennen, bekommen Einblicke an die Anforderungen an Pädagoginnen und Pädagogen und an die Träger der Jugendhilfe und erfahren, welches Fachwissen – z.B. Traumapädagogik – neben der unentbehrlichen Erfahrung nötig ist um solche Hilfen erfolgsversprechend zu gestalten.
Rezension von
Prof. i. R. Dr. Werner Michl
TH Nürnberg Georg Simon Ohm und Universität Luxemburg
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