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Volker Ladenthin: Die Reform der Pädagogik

Rezensiert von Daniel Lieb, 05.06.2025

Volker Ladenthin: Die Reform der Pädagogik. Praktische Ideen und Hintergründe in systematischer Absicht. Lit Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2023. ISBN 978-3-643-15405-7.
Band 1: Zur Geschichte und Struktur der Reformpädagogik. Reihe: Impulse der Reformpädagogik.

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Thema, Autor & Entstehungshintergrund

Die Reihe ‚Impulse der Reformpädagogik‘ im Münsteraner LIT-Verlag ist Publikationen zur Montessori-Pädagogik vorbehalten. Hier erscheint als Band 35 ‚Die Reform der Pädagogik‘ des emeritierten Bonner Pädagogikprofessors und Mitherausgebers der Gesammelten Werke Montessoris Volker Ladenthin. In einem ideengeschichtlichen Gang durch den Kanon wichtiger Repräsentant:innen der Reformpädagogik arbeitet der Autor in titelgebender „systematischer Absicht“ einige ihrer zentralen Motive heraus, wobei die Argumentation auf eine historisch-systematische Grundierung der Montessori-Pädagogik zuläuft. Diese arbeitet Ladenthin dann in einem zweiten Band weiter aus. Mit diesem systematisierenden Zuschnitt steht das Buch abseits der rein historischen Diskussion um Reformpädagogik als eines Phänomens um 1900. Vielmehr lässt sich Ladenthins Werk jenen Publikationen zur systematischen Aneignung und zeitlichen Entgrenzung der Reformpädagogik zuordnen, wie sie zuvor etwa Dietrich Benner und Herwart Kemper (Weinheim 2009) sowie Ralf Koerrenz (Paderborn 2014) geleistet haben. ‚Die Reform der Pädagogik‘ besteht inhaltlich größtenteils aus vergangenen, nur teils überarbeiteten Publikationen und Vorträgen Ladenthins. Außerdem rekurriert der Autor auf seine einschlägigen Publikationen zur Reformpädagogik aus den letzten beiden Dekaden (siehe stellvertretend die Rezension von Engelmann https://www.socialnet.de/rezensionen/20713.php).

Aufbau

Auch weil es sich bei dem Buch um eine Kollage älterer Texte handelt, erschließen sich sowohl die Absicht des Autors als auch seine Methodik erst im Laufe der Lektüre und teils nur en passant. Es geht Ladenthin darum, für die Reformpädagogik „eine bedeutsame Zukunft außerhalb musealer Rekonstruktionen“ auszuweisen, die es aber nur dann geben könne, wenn man kritisch fragt, „ob die Absicht von damals gerechtfertigt ist und – wenn dies der Fall ist – wie diese Absicht im Horizont heutigen Wissens und Könnens gültig zu verwirklichen wäre“ (S. 212). Methodisch changiert Ladenthins Werk dabei zwischen historischer Reflexion und systematischer Rekonstruktion sowie zwischen Theorie und Praxis: Ladenthin will pädagogische Geschichtsschreibung als praxisorientierte „Beispielgeschichte“ verstanden wissen. D.h. als einen „Versuch, grundsätzlich anstehende, vielleicht sogar überhistorische Probleme aufzuspüren und die historischen Lösungen zu prüfen […]. Man müsste also von dem, was man in der Vergangenheit beschreiben und aus der damaligen Konstellation heraus erklären kann, ausgehen und nach dem fragen, was die Gegenwart mit diesen Zeiten verbindet“ (S. 145 f.). Genau diesem Weg folgt Ladenthin beim Aufbau seines Buches, wenn er im 1. Kapitel ein Allgemeines der Pädagogik definiert, dieses in den Kapitel 2 und 3 anhand historischer Beispiele hin zur Reform der Pädagogik wendet, daraus in Kapitel 4 einen systematischen Begriff von Reformpädagogik formt und diesen schließlich in Kapitel 5 am Beispiel Ellen Keys kritisch prüft.

Inhalt

Um ausgehend von dieser Heuristik Aussagen über das Wesen der Reformpädagogik treffen zu können, muss zunächst klar sein, was denn Pädagogik ist. Im ersten inhaltlichen Kapitel definiert Ladenthin Pädagogik als „die intendierte Weitergabe des Gültigen“ (S. 28; Herv. i.O.), als Tradierung von Wissen also, das die je nachfolgende Generation überlebensfähig machen soll. Dabei handele es sich zunächst um eine Weitergabe von Informationen im Sinne der Erwachsenen. Von einer Reform der Pädagogik sei dann zu sprechen, wenn dieses Vermittlungsverhältnis nicht vom Erwachsenen, sondern vom Kinde aus gedacht wird. Diese Einsicht zeichnet Ladenthin in den folgenden Kapiteln historisch-systematisch nach.

So widmet er sich im zweiten Kapitel zunächst Rousseaus Erziehungsroman ‚Émile‘, an dem er den Ursprung der Reformpädagogik ausmacht. Dabei betont der Autor, dass Rousseaus Idee einer Verlagerung des pädagogischen Appells in den Raum notwendig im Kontext einer Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen zu verstehen sei: Wo an die Stelle einer sozialisatorischen Reproduktion des ständischen Gesellschaftsmodells offene (Berufs)Biographien rücken, wandele sich pädagogische Arbeit von der autoritären Belehrung hin zur „Ingangsetzung der Selbsttätigkeit“ (S. 51).

Als zweiten Zeugen pädagogischer Reform ruft Ladenthin im dritten Kapitel Jean Itard auf, den er hinsichtlich seines Begriffs einer universellen Bildsamkeit des Menschen rezipiert. Gerade weil jedes Kind bildsam sei, brauche es die Schule nicht als einen möglichst lebensnahen Ort, sondern als einen, der über das hinausgeht, was das Leben selbst bietet. Denn erst in der Ermöglichung des Neuen, noch nicht Bekannten liege die Möglichkeit des Lernens. Dieses Lernen sei dann wiederum als selbsttätiger Akt zu verstehen, der nur vom Kind selbst vollzogen werden könne. Reformpädagogik erkenne diese Fähigkeit als anthropologisch konstant an und denke jedes Arrangement von Lernmöglichkeiten von ihr aus. Für die Schule bedeute das: „Jedes Fach muss so gelehrt werden, dass das Lernen als Lösen eines Problems erscheint – wobei die Schüler beim Lösen eines Problems etwas finden müssen, was sie bisher noch nicht kannten“ (S. 96).

Nach dieser ideengeschichtlichen ‚Vorrede‘ gelangt Ladenthin in Kapitel 4 zur systematischen Rekonstruktion von Reformpädagogik und beginnt dabei in Deutschland um 1900. Als Reaktion auf die Industrialisierung und die mit ihr einhergegangene Massenschule habe Reformpädagogik sich als kritische Antwort auf die dortige „Pädagogik vom Erwachsenen aus“ (S. 105; Herv. i.O.) konstituiert. Das Herzstück dieser Antwort finde sich in der „Verteidigung des Lebens (als Existenz des Ganzen vor jeder Interpretation) gegen den Begriff, die Zwecke, die Fragmentierung und die Funktionalisierung des Menschen“ (S. 119). Die Priorisierung des Lebens vor der Vernunft ist der innovative hermeneutische Schlüssel, den Ladenthin für ein Verständnis reformpädagogischen Denkens anbietet. Dieses verfolgt er von seiner ‚Kernzeit‘ um 1900 einerseits zurück in die Vergangenheit und findet es etwa in Goethes – in diesem Sinne: reformpädagogischer – Kritik an Basedows – in diesem Sinne gerade nicht reformpädagogischem – Dessauer Philanthropin ebenso wie in der postmodernen Philosophie eines Michel Foucault und dessen Versuchen, mit dem Diskurs der Vernunft zu brechen.

Ladenthin rückt Foucault im abschließenden fünften Kapitel in die Tradition Ellen Keys, deren Schriften er als falsche Radikalisierung reformpädagogischer Motive ablehnt. Gleichsam impliziere das reformpädagogische Motiv des Lebens in seiner kulturkritischen Anschlussfähigkeit eine hohe Gegenwarts- und Zukunftsrelevanz, so in der Kritik am fragmentierten und funktionalen Wissen im Sinne der PISA-Studie, der Verwaltung von Schule in Form des New Public Management sowie dem Menschenbild der Humankapitaltheorie. Auf diesen Handlungsfeldern gelte es, den Bildungsbegriff der Reformpädagogik hochzuhalten: „Bildung im umfassenden Sinne freilich – also die Befähigung, sein Leben gelingen zu lassen“ (S. 224 f.).

Diskussion

Ladenthins Buch bietet eine systematische Perspektive auf Reformpädagogik mit historischem Bewusstsein und fasst diese im Sinne einer Pädagogik moderner, d.h offener und demokratischer Gesellschaften auf. Damit weitet er den Gültigkeitsraum von Reformpädagogik über die ‚engen‘ kanonischen Grenzen Nohl’scher Tradition hinaus bis ins 18. Jahrhundert bzw. bis in Gegenwart und Zukunft aus. Ladenthins Alleinstellungsmerkmal etwa zu historisch ebenfalls in die Aufklärung weisenden Publikationen von Benner und Kemper oder dem entsprechenden Narrativ Koerrenz’scher Prägung liegt in der überzeugenden Analyse des Lebens als Apriori der Vernunft als hermeneutischem Schlüssel der Reformpädagogik. Wo der Autor diesem Motiv nachspürt und etwa an Foucault und dessen pädagogischer Rezeption die Intensität als „Lebensmodell des 20. Jahrhunderts“ (S. 248) erkennt, liest sich Ladenthins Werk selbst als eine ernstzunehmende Kulturkritik, die nicht nur Montessori-Pädagog:innen, sondern grundsätzlich Allen zu empfehlen ist, die sich für eine systematische Denkfigur der Reformpädagogik interessieren. In diesem Diskurs bietet Ladenthins Werk einen methodisch innovativen Diskussionsbeitrag in Form einer Beispielgeschichte, die mit historisch akkuratem Bewusstsein Möglichkeiten ihrer systematischen Aneignung ausweist.

Fazit

‚Die Reform der Pädagogik‘ des emeritierten Pädagogikprofessors und Mitherausgebers der Gesammelten Werke Maria Montessoris Volker Ladenthin bietet einen innovativen Diskussionsbeitrag zum Diskurs um einen systematischen Begriff der Reformpädagogik. Überzeugend rekonstruiert Ladenthin eine Beispielgeschichte der Reformpädagogik, die er zeitlich über ihre kanonischen Grenzen hinaus erweitert und gegenwartskritisch aneignet. Mit dem ‚Leben‘ als hermeneutischem Schlüssel zur Reformpädagogik bietet der Band einen spannenden Blick auf historische wie gegenwärtige Formen von Reformpädagogik, die interessierten Montessori-Leser:innen ebenso wärmstens zu empfehlen ist wie pädagogischen Praktiker:innen und theorieaffinen Leser:innen.

Rezension von
Daniel Lieb
M.A., Institut für Bildung und Kultur, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen historische und systematische Reformpädagogik, Erziehung und Bildung im Welt-System sowie Qualitativer Sozialforschung mit Schwerpunkt Grounded Theory. Daniel Lieb ist Redakteur der Erziehungswissenschaftlichen Revue im Ressort Vergleichende Erziehungswissenschaft und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Jenaplanpädagogik (GJP)
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ISSN 2190-9245