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Wilma Weiß, Tanja Kessler et al. (Hrsg.): Handbuch Traumapädagogik

Rezensiert von Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen, 02.07.2025

Cover Wilma Weiß, Tanja Kessler et al. (Hrsg.): Handbuch Traumapädagogik ISBN 978-3-407-83230-6

Wilma Weiß, Tanja Kessler, Silke Birgitta Gahleitner (Hrsg.): Handbuch Traumapädagogik. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2025. 2. Auflage. 544 Seiten. ISBN 978-3-407-83230-6. D: 54,00 EUR, A: 55,60 EUR.
Reihe: Beltz Handbuch.

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Thema

Die Autor*innen stellen mit dem Handbuch eine umfassende Übersicht der Traumapädagogik und ihrer Bezüge zur Pädagogik und Sozialen Arbeit dar und fokussieren u.a. die Genese, Charakteristik und die praktische Umsetzung traumapädagogischer Überlegungen und Konzepte. In einer interdisziplinären und interprofessionellen Ausrichtung enthält das Übersichtswerk Grundlagen traumapädagogischer Konzepte im Kontext eines gesellschaftskritischen Blickwinkels von insgesamt 64 namhaften Praktiker*innen, Theoretiker*innen und Forschungsvertreter*innen der Traumapädagogik, der Entwicklungswissenschaften und der Psychotraumatologie.

Für die 2. Auflage wurden Beiträge überarbeitet, bzw. die Literaturangaben aktualisiert und weitere ergänzt.

Herausgeberinnen

Wilma Weiß, Diplompädagogin und Diplomsozialpädagogin, arbeitet seit über 40 Jahren mit traumatisierten Mädchen und Jungen. 2008 gründete sie gemeinsam mit Martin Kühn die BAG Traumapädagogik (heute Fachverband Traumapädagogik) und engagiert sich im Vorstand und im Expert*innenrat des Fachverbandes.

Tanja Kessler, ausgebildete Erzieherin und Diplomsozialarbeiterin, Yogalehrerin mit dem Schwerpunkt traumasensibles Yoga ist Referentin für traumapädagogische Themen. Zudem leitet Tanja Kessler ein Zentrum für Traumpädagogik.

Silke Birgitta Gahleitner, Prof. Dr. phil. habil., Studium der Sozialen Arbeit, Promotion in Klinischer Psychologie, Habilitation in den Erziehungswissenschaften, war zunächst langjährig als Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin in sozialtherapeutischen Einrichtungen für traumatisierte Frauen und Kinder tätig. Silke Brigitta Gahleitner lehrt seit 2006 als Professorin für klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin.

Die Herausgeberinnen gewannen für dieses Buch 62 weitere namhafte PraktikerInnen, Theoretiker*innen und Forschungsvertreter*innen der Traumapädagogik und der Psychotraumatologie.

Aufbau und Inhalt

Das Handbuch erschien in einer ersten Auflage 2016 mit 478 Seiten und gliedert sich auch in der neuen Ausgabe mit 544 Seiten in sechs Abschnitte. Zunächst werden Bezüge der Traumapädagogik zur Pädagogik und der Sozialen Arbeit fokussiert, anschließend werden zentrale Inhalte, Handlungsfelder, methodische Vorgehensweisen, übergreifende Themen der Psychotraumatologie, sowie abschließend aktuelle Entwicklungen vorgestellt. Die 46 Beiträge von ca. 10 - 15 Seiten beinhalten jeweils ein meist umfangreiches Literaturverzeichnis.

Im Folgenden werden die Inhalte und Themen der einzelnen Teile kurz benannt, wegen der Fülle der Beitrage wird nur auf einzelne, mir subjektiv wichtige Aspekte in der Diskussion eingegangen.

Wilma Weiß, Tanja Kessler und Silke B. Gahleitner führen in das Handbuch ein. Hier (S. 11) weisen sie u.a. darauf hin, dass sich bei genauerer Betrachtung der Eindruck, dass die Beschäftigung mit Traumata eine Domäne der Psychotherapie sei, trügerisch ist, da bereits seit langem psychosoziale Fachkräfte der Sozialen Arbeit und (Heil-)Pädagogik in verschiedensten Kontexten tätig sind und seit jeher den größten Teil der Traumaversorgung übernehmen. 

Im ersten Teil fasst Wilma Weiß die Entstehung, Inspirationen und Konzepte der Traumapädagogik zusammen. Weitere Themen in diesem Teil sind die reformerische und emanzipatorische Pädagogik, die psychoanalytische Pädagogik, milieutherapeutische und -pädagogische Konzepte und die Behindertenpädagogik.

Zentrale Inhalte der Traumapädagogik werden im zweiten Teil mit Ausführungen über Belastungen in der Traumapädagogik, den Nutzen traumapädagogischer Haltungen und Konzepte für ethische Fragestellungen im pädagogischen Alltag, die Selbstbemächtigung, die Partizipation, die Bindungstheorie in ihrer Bedeutung für die Traumapädagogik, Aspekte zu den Dynamiken von Übertragung und Gegenreaktion in der traumapädagogischen Arbeit und die Strukturkategorie Gender thematisiert. Vier Beiträge in der neuen Auflage ergänzen diesen Abschnitt: Pia Andreatta und Gianluca Crepaldi fokussieren Scham und Beschämung mit Blick auf Trauma, Heik Zimmermann thematisiert unter dem Titel Traumapädagogische Settings diversitätssensibel öffnen, die Heteronormativität und das Wissen um deren Bedeutsamkeit in der Begleitung von LSBT*I*QA+ Kindern- und Jugendlichen. Im Anschluss fassen Newroz Duman, Lisa Hartke und Melanie Wurst Erkenntnisse über den Zusammenhang von Rassismus und Trauma als ein strukturelles Problem in der psychosozialen Arbeit zusammen. Dieser Teil schließt mit dem Beitrag von Renate Jegodtka über die sekundäre Traumatisierung (in Bezug auf die Helfer*innen).

Im 3. Teil werden die schulische Bildung, die Traumapädagogik in Kindertageseinrichtungen und der stationären Kinder- und Jugendhilfe vorgestellt. Anschließend werden die traumasensible pädagogische Arbeit mit Familien, die traumapädagogische Familienhilfe, die Zwangsmigration und ihre Bedeutung für eine Traumatisierung, der Umgang mit unbegleiteten jungen Flüchtlinge in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, die Pflegekindschaft als Chance für traumatisierte Kinder, die Traumapädagogik in der Behindertenhilfe, in der Psychiatrie und traumapädagogische Angebote zur Fallsteuerung durch das Jugendamt erörtert. Hinzugefügt wurden in diesem Teil die Artikel über die Traumapädagogische Familienhilfe (Jürgen Reinshagen und Martina Krauth), über die Zwangsmigration und Traumatisierung von

Kindern und Jugendlichen aus Kriegs- und Krisengebieten (David Zimmermann) und von Miriam Weber, Christopher Kahmen, Irène Koch, Nadja Brandenberger, Katharina Purtscher, Andrea Schober, Bettina Breymaier, Marc Schmid und Martin Schröder über die Kinder- und Jugendpsychiatrie als ein möglichst sicherer Ort durch traumapädagogische Haltungen.

Im vierten Teil über die Methoden der Traumapädagogik wird das diagnostische (Fall-)Verstehen, die Bindungsproblematik, Methodisches zur Arbeit mit traumatischer Übertragung und der Gegenreaktion, die Pädagogik der Selbstbemächtigung, die traumapädagogische Gruppenarbeit, traumapädagogische Fortbildungen für Kinder und Jugendliche, das Feld der Kooperation und der Netzwerkarbeit und die traumasensible Netzwerkarbeit fokussiert. Diesen Teil ergänzen die Beiträge von Beate Rohrer, Anna Krimmer und Pia Andreatta über die unheilvolle Verflechtung von Trauma und Schuld und der Beitrag von Jutta Metzenauer und Wilma Weiß über die Kraft des gemeinsamen Verstehens durch Workshops für Mädchen* und Jungen*.

Im fünften Teil diskutieren die Autor*innen das Verhältnis von Bewältigung und Anerkennung, die langzeitigen Folgen früher Traumatisierung durch Gewalt und Vernachlässigung, die Dissoziation, die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen, den Bezug von Trauma und Körper und die Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den Arbeitsfeldern Traumatherapie, Beratung und Pädagogik. Der Beitrag über Aspekte der internationalen Traumaarbeit wurde gestrichen.

Der sechste Teil beschäftigt sich mit aktuellen Entwicklungen, hier wurde der Artikel über die Forschung und Qualitätssicherung gründlich überarbeitet. Weiterhin problematisieren Autor*innen die Bedeutung der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik e.V. und die Entwicklung traumapädagogischer Standards. Der Artikel über die Grenzen der Traumapädagogik wurde gestrichen.

Das Handbuchbuch schließt mit einem Verzeichnis der Autor*innen.

Diskussion

Das umfangreiche Handbuch behandelt in einem Überblick kenntnisreich viele bedeutsame Themen der Traumapädagogik. Hilfreich sind auch die umfangreichen Literaturverzeichnisse. Deutlich wird auch mit diesem Handbuch wie weit sich die Traumapädagogik inzwischen differenziert hat und in manchen Arbeitsbereichen der Sozialen Arbeit an Bedeutung gewonnen hat. (Leider trifft dies in Bezug auf die Kinder- und Jugendhilfe weniger auf die Tätigkeit in Kitas, Schulen oder der offenen Jugendarbeit zu.)

In dieser Rezension kann nur auf einzelne Beiträge aus einer subjektiven Perspektive eingegangen werden. Mich beeindruckten insbesondere die Beiträge von Tanja Kessler über den methodischen Umgang mit der Übertragung und der Gegenreaktion und der Artikel von Maximiliane Brandmaier und Klaus Ottomeyer über den Zusammenhang von Trauma und Gesellschaft. 

Einleitend hätte in diesem Buch ausgeführt werden können, nach welchen Kriterien die Inhalte ausgewählt wurden. Zu Beginn wird leider der Traumabegriff nicht diskutiert, hier hätte deutlich werden können, welche Bedeutung die Thematisierung sozialer Traumata mit ihrer Betonung der subjektiven Bewertung eines Traumas, die über die Definitionen des ICD und des DSM hinausgeht und für die psychosoziale Arbeit von Bedeutung ist. Dies beinhaltet eine Diskussion über die noch immer vorherrschende Dominanz medizinischer und psychologischer Ansätze in der Traumatologie. Beispielhafte Phänomene sind in diesem Rahmen traumatische Erfahrungen im Kontext des Mobbing, der psychischen Gewalt, der Vernachlässigung und Zusammenhänge von Rassismus und Traumata.

Auch wenn bereits sehr viele gewichtige Themen in dieses Buch aufgenommen sind, zeigt die Praxis, dass immer noch bedeutsame Themen fehlen. Hierzu gehören beispielhaft konzeptionelle Ansätze über die Zusammenarbeit mit den Eltern und weiterer Bezugspersonen, wie zum Beispiel den Freund*innen und Lehrer*innen der traumatisierten Kinder und Jugendlichen. Thematisiert werden könnte auch eine mögliche „sekundäre“ Traumatisierung der Angehörigen. Ein weiteres bedeutsames Thema wäre im Bereich der Netzwerkarbeit die Kooperation mit z.B. Frauenhäusern, psychiatrischen Einrichtungen oder der Suchtkrankenhilfe, denn auch hier sind Kinder und Jugendliche (mit-)betroffen.

Im Kapitel über die aktuellen Entwicklungen fehlt mir ein Beitrag, indem auf die Bedeutung vermehrter Kenntnisse über Traumata im Studium (Bachelor- und Masterabschlüsse) und in der Ausbildung von Erzieher*innen, aber auch z.B. in der Heilpädagogik, der Motologie oder der Ergotherapie eingegangen wird, auch um die noch immer vielfach vorhandenen mangelhaften Kenntnisse in weiten Bereichen der pädagogischen und sozialen Arbeit (z.B. in der Arbeitsagentur, der Bewährungshilfe oder der Gemeinwesensarbeit) zu vermindern. Zudem fehlt mir ein Kapitel, indem diskutiert wird, inwieweit die Separierung einer Traumapädagogik, Traumaberatung und Traumatherapie heute noch nützlich ist. 

Fazit

Mit diesem Standardwerk wird den Leser*innen mit seinen vielfältigen Übersichtsartikeln eine umfassende Darstellung der Traumapädagogik, ihrer Konzepte und Handlungsfelder geboten. Das Handbuch ergänzt unser Wissen über die Bedeutung der Traumafolgen und einem professionellen Handeln im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen. Die Leser*innen erhalten eine fundierte Einführung in praxis- und ausbildungsrelevante Themen. Praktiker:innen und Studierenden soll dieses Handbuch empfohlen werden.

Rezension von
Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Beushausen
studierte Soziale Arbeit und Erziehungswissenschaft und absolvierte Ausbildungen als Familientherapeut und Traumatherapeut und arbeitet ab 2021 als Studiendekan im Masterstudiengang „Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit“ an der DIPLOMA Hochschule
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Es gibt 74 Rezensionen von Jürgen Beushausen.

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ISSN 2190-9245