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Emily M. Engelhardt, Stefan Kühne: Künstliche Intelligenz in der Beratung

Rezensiert von Dipl-Päd. Wolfgang Schindler, 01.07.2025

Cover Emily M. Engelhardt, Stefan Kühne: Künstliche Intelligenz in der Beratung ISBN 978-3-525-40871-1

Emily M. Engelhardt, Stefan Kühne: Künstliche Intelligenz in der Beratung. Ein Kompass für die systemische Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2025. 176 Seiten. ISBN 978-3-525-40871-1. D: 28,00 EUR, A: 29,00 EUR.

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Thema

Ängste vor dem Verlust menschlicher Kommunikation und Hoffnungen auf kostengünstigen Ersatz beraterischer Arbeitskraft durch Computer werden spätestens seit den 1970er-Jahren auch in der Beratungsszene kontrovers diskutiert. Joseph Weizenbaum, IT-Professor und Schöpfer eines Chatbots namens ELIZA warnte bereits 1984 vor einem „Kurs auf den Eisberg“.

Ein halbes Jahrhundert später ist dessen sichtbarer Teil groß geworden und wächst unter der Oberfläche weiter. Denn „Künstliche Intelligenz“ ist ein Querschnitts-Produktionsmittel und zeigt Fähigkeiten, die vorher nur Menschen hatten, in uneinholbarer Geschwindigkeit – einschließlich deren Fehlleistungen.

Ungeachtet der in Beratungskreisen (bis zur Corona-Pandemie ab 2020) dominanten Ablehnung computergestützter Beratung umriss bereits das erste „Heft“ des e-beratungsjournals 2005 „Felder von Online-Beratung“. Es wird herausgegeben von Stefan Kühne, der nun, zwanzig Jahre später, zusammen mit der systemisch orientierten Onlineberaterin und Hochschullehrerin Emily Engelhardt, auf 176 Seiten einen „Kompass für die systemische Praxis“ vorlegt, „für den Aufbruch ins Unbekannte“.

Die Autor:innen ermutigen und motivieren ihre Zielgruppe, Praktiker:innen systemischer Beratung, zum „Aufbruch zur digitalen Entdeckungsreise“; anfangs vor allem durch die Lektüre des Buches, später gefolgt von Anregungen, selbst mit KI-Systemen zu experimentieren. Denn gebraucht werde ein „Überblick, welcher Akteur hier das Feld der Beratung betritt und wie wir als Fachkräfte darauf reagieren können – und müssen.“

Daher darf auch ein:e dritte:r Autor:in mitschreiben: ChatGPT 4o heißt dieser Akteur, dessen schillernde Rolle im Beratungsprozess untersucht wird: Akteur – oder doch lieber nur IT-Werkzeug? Dann aber tendenziell ein sehr nützliches Multifunktionswerkzeug und kein ‚Blechtrottel‘, wie humanoide Roboter wie R2-D2 in der Star-Wars-Saga abwertend bezeichnet wurden.

Aufbau und Inhalt

Im ersten von fünf Teilen wird eine Landkarte der künstlichen Intelligenz (KI) entfaltet, gefolgt von Berichten über deren Varianten „im Land der Beratung“, als Teil zwei. Der dritte Teil beschreibt KI „als Weggefährte im systemischen Beratungsprozess“. Teil vier eröffnet „neue Horizonte der Künstlichen Intelligenz“, und führt dann im fünften Teil zum Gipfel: mit Ausblick, Überblick und Weitblick. Jeder Teil schließt mit der Aufforderung zur Reflexion, gibt kleine Arbeitsaufgaben und fordert auf zu persönlicher, handlungsfeldbezogener Stellungnahme.

Teil 1 berichtet von der historischen Entdeckung der KI- Landschaften, von A. Turing über J. Weizenbaum bis J.R. Searle. Es folgen Begriffserklärungen, was ‚Künstliche Intelligenz‘ im Einzelnen alles umfasst – eine unverzichtbare Differenzierung der Technologie hinter dem Begriff „Artificial Intelligence (ai)“ (deutsch: Künstliche Intelligenz, KI). Verständlich wird, dass etwa ChatGPT den Turingtest längst besteht, also wie ein:e menschliche Autor:in schreibt.

Erfahrbar wird KI längst im Alltag, in Medien, in digitaler Kommunikation, bei Banken, im Gesundheits- und Bildungswesen. Es muss Hochschulen etwa aufrütteln, wenn spätestens seit 2024 Bachelor- und Masterarbeiten oder ganze Forschungsdesigns mit einem Bruchteil des Aufwands erstellt werden können. Das führt zu ethischen Fragestellungen, erzwingt neue Konzepte, um nicht vorschnell die Chancen der technologischen Entwicklung auszugrenzen. Es macht Entscheidungen zu Implementation und zu Grenzen des KI-Einsatzes, gerade auch in der Beratung, nötig.

Aufgezeigt werden zehn Punkte, um Berater:innen bei der Gestaltung und Entscheidung für den Einsatz generativer KI wie ChatGPT in der Beratung zu unterstützen. Die hier gestellten Fragen erfordern Antworten und Maßnahmen, die auch für KI-Einsatz in nicht systemisch orientierter Beratung von großer Relevanz sind. Sie stellen damit eine hohe Schwelle dar, was Kompetenz und Handlungsoptionen menschlicher Akteure angeht. Soziale und ökologische Auswirkungen sowie regulatorische Versuche werden abschließend dargestellt.

Teil 2 widmet sich der „Künstliche[n] Intelligenz im Land der Beratung“. Es geht um Chatbots als Dialogpartner in Beratung und Therapie und um Expertensysteme, um KI-Systeme als digitale Pfadfinder „auf der Spurensuche zwischen Algorithmus und Menschlichkeit“.

Mit KI „in Ausbildung und Supervision“ werden eine Fülle von Einsatzmöglichkeiten skizziert: als Learning Buddy (Kumpel), als Simulationspartner beim Üben von Beratungsgesprächen, als Instrument beim Entwickeln von Fallstudien und Rollenspielen. Künstliche Intelligenz kann Supervisor:in und Wissenscoach sein.

Reflektiert werden diese Einsatzszenarien mit Blick auf Konzept und Instrumentarium systemischer Beratung: Die Maschine kann nicht nur als Werkzeug genutzt, sondern muss auch als Teil des ‚Systems‘ verstanden werden. Abgeklärt werden müssen daher neue Rollen und neues Selbstverständnis, wenn die Maschine auftragsgemäß in der Rolle als systemische:r Berater:in eingesetzt werden soll. Wie reagieren Klient:innen auf diesen Akteur, offenbaren sie sich der Maschine gar tiefer als dem Menschen? Geraten Berater:innen in Konkurrenz mit dem eloquenten Chatbot?

In Teil 3 legt die Kapitelüberschrift nahe, dass die Autoren ein KI-System weniger als Werkzeug denn als Wesen verstehen, „als Weggefährte[n] im systemischen Beratungsprozess“. Untersucht wird KI als Akteur: beim Erfinden von Metaphern, bei der Hypothesenbildung, als Reflecting Team beim Visualisieren von Genogrammen und systemischen Mustern.

Konsequenterweise endet der dritte Teil mit einem KI-generierten fiktiven Trialog: Beraterin, Klient und ChatGPT reflektieren, wie sich hier, im Gegensatz zum Dialog, die Beratungssituation ändert, mit Vor- und Nachteilen. ChatGPT „spricht“ hier immer in der Ich-Form, weist aber auch bescheiden darauf hin, nonverbale Signale nicht verarbeiten zu können.

Kühne und Engelhardt erläutern hier beispielshaft die Grenzen dieses Weggefährten, der, als technisches System, z.B. keine Resonanz mit Klienten haben kann. Stattdessen neigen die Systeme dann zu „Halluzinationen“, geben vor, „als ob“ sie verstünden.

Teil 4 öffnet neue Horizonte der Onlineberatung mit Künstlicher Intelligenz, der dabei aber nun vor allem eine Werkzeugrolle zugewiesen wird. Denn der Begriff der Onlineberatung sei definiert als Dialog zwischen Menschen. Beim Einsatz von Textgeneratoren müsse daher Transparenz darüber gewährleistet sein. Es bestehe Kennzeichnungspflicht und gründliche Reflexion, was das Vertrauensverhältnis im digitalen Raum zwischen Berater:in und Klient:in angehe.

Die Autorinnen betonen die Notwendigkeit einer bewussten Haltung. Dazu wird eine Checkliste zum KI-Einsatz in der Onlineberatung angeboten. Sie plädieren aber auch für Offenheit und Lernbereitschaft unter der Überschrift „Kompass Neujustierung – wo wollen wir hin?“. Das sei gerade auch dann nötig, wenn (zunehmend) Klient:innen ihrerseits bereits Beratungserfahrung mit einem Chatbot haben und eventuell gar wertschätzen.

In Teil 5 wird ein Szenario „Systemische Beratung im Jahr 2030“ riskiert und eröffnet Ausblicke für die weitere Praxis: Multi-Modalität, Mehrsprachigkeit, KI-basierte Avatare. Er schließt ab mit kritischen Anmerkungen zu „Datenkapitalismus“.

Skizziert wird ein Blick vom Gipfel, was künstliche Intelligenz für Ratsuchende wie für Berater:innen bedeuten könne, mit Fragen an die Forschung. Da geht es zuletzt um Autopoiese, strukturelle Kopplung, Kybernetik zweiter Ordnung sowie Komplexität und Emergenz.

Im Nachwort unterhalten sich die drei Autor:innen über ihren Prozess beim Verfassen des Buches und schließen mit der Frage an die Leser:innen, wer dieses Nachwort wohl geschrieben habe.

Mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis und einem Glossar wichtiger Begriffe, zunächst erstellt von Chat-GPT, endet das Buch.

Diskussion

Als Landkarte eines für die Zielgruppe neuen Landes ist die Lektüre des Buches uneingeschränkt zu empfehlen – ein Reiseführer, der auf leicht Übersehbares inmitten all des Neuen aufmerksam macht und unbedingt zu besuchende Orte kennt. Bestenfalls gestreift werden aber die politischen Verhältnisse in ‚Neuland‘, in dem nur Wenige fast alle Macht haben.

Wer Trainingsdaten hat, herrscht über die Antworten der KI, die immer die Ideologie ihrer Besitzer spiegelt – der eingebaute „Bias“, der im Buch erwähnt, aber nicht wirklich konkretisiert wird. Wenn überhaupt, dann können Staaten dem libertären Geschäftsgebaren von Big Tech (Google, Amazon, Apple, Meta und Microsoft) etwas entgegensetzen.

So mutet es eher pflichtgemäß an, wenn im Buch wiederholt auf die ethische Verantwortung der einzelnen Berater:innen für die Gewährleistung des Schutzes persönlicher Daten verwiesen wird, für ihre Entscheidung für oder gegen den Einsatz von KI in der Beratung. Ist etwa eine brillant formulierte systemische Intervention den damit ausgelösten Ressourcenverbrauch (Strom, Wasser, etc.) wirklich wert?

Wie könnten Berater:innen hier Verantwortung tragen? Für Angestellte stellt sich das wohl nur graduell anders dar als für Freiberufler:innen. Denn KI als Produktionsmittel verspricht, mutmaßlich zu Recht, Kosteneinsparung und/oder Ausweitung der Produktion. Auf beides können Institutionen und Freiberufler nicht lange verzichten.

Weil KI „gekommen ist, um zu bleiben“, führt an der Aneignung dieses Produktionsmittels kein Weg vorbei für jene, die sich im Markt behaupten müssen. Ob Künstliche Intelligenz allerdings als Werkzeug oder als Wegefährte begriffen und beim Weg ins Neue Land eingesetzt wird, entscheidet sich beim Blick auf den Kompass, ein Wegweiser, der aber weder systemisch noch analytisch ist. Er lässt sich zwar mit einem Magneten ablenken, zeigt danach aber immer wieder zuverlässig (fast genau) nach Norden. Gerade beim Erforschen unbekannten Terrains ist das essentiell. Denn Landkarten und GPS-Signale können gefälscht sein, aber Norden bleibt Norden.

Fazit

„Künstliche Intelligenz in der Beratung“ gibt professionellen Berater:innen erste Orientierung zum Verständnis einer neuen Kulturtechnik. Die kenntnisreichen Autor:innen regen zu – unverzichtbarem- eigenen Experimentieren mit KI-Werkzeugen an, denen sie sogar die Rolle eines Weggefährten zutrauen. Erst danach sollten Leser:innen begründet eigene Entscheidungen treffen.

Rezension von
Dipl-Päd. Wolfgang Schindler
Gruppenanalytiker und Supervisor, Betreiber einer Onlineberatungsplattform, bis 2025 Vorsitzender des Instituts für Kollegiale Beratung und Onlineberatung e.V. (IKOB)
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Es gibt 2 Rezensionen von Wolfgang Schindler.

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ISSN 2190-9245