Volker Ladenthin: Zur Pädagogik Maria Montessoris
Rezensiert von Daniel Lieb, 16.06.2025
Volker Ladenthin: Zur Pädagogik Maria Montessoris.
Lit Verlag
(Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2023.
218 Seiten.
ISBN 978-3-643-15406-4.
Die Reform der Pädagogik - Band 2. Impulse der Reformpädagogik - Band 36.
Thema, Autor & Entstehungshintergrund
Im zweiten von zwei Bänden zur ‚Reform der Pädagogik‘ legt der emeritierte Bonner Pädagogikprofessor Volker Ladenthin eine Arbeit zur Montessori-Pädagogik vor, die auf der im ersten Band geleisteten Grundlagenarbeit zur Reformpädagogik aufbaut (zur Rezension des ersten Bandes: https://www.socialnet.de/rezensionen/33429.php). Angelegt als Band 36 der Reihe ‚Impulse der Reformpädagogik‘ diskutiert der Mitherausgeber der Gesammelten Werke Montessoris die Montessori-Pädagogik in expliziter Abgrenzung zum erziehungswissenschaftlichen Diskurs: Aktuell publiziert insbesondere die Salzburger Erziehungswissenschaftlerin Sabine Seichter kritisch zu Leben und Werk Montessoris (siehe hierzu die Rezension: https://www.socialnet.de/rezensionen/31951.php). Ladenthins Buch ist zeitlich vor Seichters Arbeiten erschienen, seine Kritik an verurteilenden Perspektiven auf Maria Montessori und ihre Pädagogik hat jedoch systematischen Charakter: Wer von vermeintlichen ‚Mythen‘ dieser Pädagogik oder einer Anpassung Montessoris an den italienischen Faschismus spricht, der gehe fälschlicherweise „von unhistorisch verstandenen Termini schnell zur biographischen Analyse“ (S. 139) über. Mit dem hier rezensierten Werk legt der Autor dem gegenüber eine Arbeit vor, die einen angemessenen historischen Umgang mit den Arbeiten Montessoris zu finden beansprucht. Wie schon der erste Band zur systematischen Erschließung der Reformpädagogik besteht auch dieser zweite größtenteils aus vergangenen, nur teils überarbeiteten Publikationen und Vorträgen Ladenthins, die dieser zwischen 1992 und 2022 an verschiedenen Stellen veröffentlicht und gehalten hat.
Aufbau
Das Buch ist so aufgebaut, dass in den Kapiteln 1 bis 3 zentrale Motive und Konzepte der Montessori-Pädagogik diskutiert werden, wobei nach einem Durchgang durch ihre Grundbegriffe (Kap. 1) die Motive ‚Bildsamkeit‘ (Kap. 2) sowie ‚Freiarbeit‘ (Kap. 3) im Fokus stehen. Kapitel 4 bricht ein wenig aus der immanenten Logik des Werkes aus, hier diskutiert Ladenthin ‚Gewalt‘ als eine ‚pädagogische Herausforderung‘ moderner Gesellschaften. Kapitel 5 systematisiert dann die erziehungswissenschaftliche Kritik an Montessori, der Ladenthin in Kapitel 6 einen aus seiner Sicht historisch akkurateren Zugang zu ihren Schriften entgegenhält. In den abschließenden Kapiteln 7 und 8 widmet sich der Autor dann noch einmal zwei werkimmanenten Aspekten der Montessori-Pädagogik: der ‚Theorie pädagogisch angemessenen Sprechens‘ (Kap. 7) sowie der ‚Vorläufigkeit des pädagogischen Handelns‘ (Kap. 8). Nach Abschluss der Lektüre bieten sich aus meiner Sicht mindestens zwei Möglichkeiten an, Anliegen und Inhalt der Publikation zu besprechen: Es wäre möglich, eine Zusammenfassung der jeweiligen Kapitel vorzunehmen und den Erkenntnisgewinn hinsichtlich des Verhältnisses von Montessori- und Reformpädagogik im Allgemeinen zu eruieren. Spannender scheint mir aber, mich Ladenthins methodischem Vorgehen zu widmen, das er aus den Schriften Montessoris ableitet und jenen Arbeiten entgegenhält, die er ‚unhistorisch‘ nennt – dabei bezieht sich der Autor vor allem auf Helene Leenders Untersuchung zum ‚Fall Montessori‘ und auf die betreffende, ihre Kritik bestärkende Rezension Fritz Osterwalders (zur Rezension: https://www.pedocs.de/volltexte/2021/1126/pdf/EWR_2002_2_Osterwalder_Rezension_Leenders_Der_Fall_Montessori.pdf). Ladenthin plädiert dafür, von derlei Verurteilungen aus der vermeintlich klügeren Perspektive der Gegenwart abzusehen und die Montessori-Pädagogik stattdessen aus sich selbst heraus und als Inspirationsquelle für eine Pädagogik der Gegenwart zu verstehen.
Inhalt
Hierzu gelte es zunächst zu sehen, dass die Montessori-Pädagogik die vielleicht produktivste Synthese der diversen reformpädagogischen Konzepte nach 1900 darstellt. Montessori habe das kindliche Lernen als einen vollständig selbsttätigen Akt interpretiert und als Übergang von einem alten in ein neues Weltverhältnis definiert. Die Fähigkeit zu diesem Übergang sei im Kind selbst angelegt, pädagogisch inszeniert, d.h. ‚gelehrt‘ werden könne nur das neue Weltverhältnis selbst. Hier rekurriert Ladenthin auf die in Band 1 hervorgehobene Rolle der reformpädagogischen Schule, die es als ihre Aufgabe verstehe, dem kindlichen (Er)Leben etwas Neues hinzuzufügen, auf das es aus sich heraus keinen Zugriff hätte. Den Beweis für dieses Bild vom selbsttätigen Kind findet Ladenthin in Montessoris Konzept der Polarisation der Aufmerksamkeit: Gerade weil Kinder in der Lage seien, sich völlig im Moment, im Umgang mit einem ihnen gerechten Gegenstand, zu verlieren, finde die Montessori-Pädagogik in der kindgerechten Gestaltung der Lernumgebung ihr „Zentrum […]: Diese Umgebung ersetzt die Lehre einer Person. Der Lehrende belehrt nicht mehr, sondern ist nur noch indirekt tätig. Er ermöglicht das Lernen oder fordert auf“ (S. 30). In diesem Sinne sei die pädagogisch vor- und aufbereitete Umgebung „nicht nur Ort für Bildung, sondern bereits ein Medium der Bildung“ (S. 45). Weil die Montessori-Pädagogik in diesem Maße kindgerecht und als Vorreiterin der Reformpädagogik – wie Ladenthin im ersten Band betonte – Signum einer liberalen und modernen Pädagogik sei, ist es seines Erachtens falsch, Montessoris Arbeit im faschistischen Staat selbst als faschistische Praxis zu interpretieren. Vielmehr habe sie ihr Möglichstes getan, um innerhalb des totalitären Regimes kindgerechte Orte offenzuhalten: „Wäre es besser gewesen, wenn Montessori auf ihre Pädagogik verzichtet und sich aus Italien sofort zurückgezogen hätte, um so die Kinder nunmehr der Pädagogik des italienischen Faschismus ganz zu überlassen?“ (S. 142). Anstatt eine seiner Meinung nach müßige „wissenssoziologische Analyse“ vorzulegen, konzentriert sich Ladenthin daher lieber auf „die genaue Lektüre der Texte Montessoris“ (S. 149).
Für seine Methodik einer betontermaßen historisch adäquaten Aneignung der Montessori-Pädagogik orientiert sich Ladenthin primär an Montessoris Text ‚Das Kind als Vater des Menschen‘ aus dem Jahr 1936. Aus ihm leitet er eine kritische Rekonstruktion von Geschichte im Sinne einer systematischen Reduktion ab; es handelt sich um eine Art Montessori-‚Brille‘, die der Autor hier konstruiert, und die gleichsam erhellend für seine Perspektive auf die Systematik der Reformpädagogik ist, die in Band 1 entwickelt wurde: Wer bis hierhin liest, erfährt, dass jene systematische Aneignung von Reformpädagogik bereits durch diese Montessori-‚Brille‘ erfolgt ist und wie der Autor die entsprechende Methode verstanden wissen will: „Die Geschichte ist weder nur vergangen noch nur Mittel, die Genese von etwas zu erklären. Sie entsteht erst in der Rekonstruktion – aber so, dass die Gedankenbewegung der Rekonstruktion viel mehr und anderes erfährt, als sie aus Interesse an der Vergangenheit aus dieser lediglich gespiegelt zu bekommen glaubte: Die Geschichte gibt Antworten, zu denen wir in der Gegenwart zuerst einmal die Fragen suchen müssen – denn sie sind uns verloren gegangen oder wir haben sie nie besessen“ (S. 158 f.; Herv. i.O.). Es handelt sich dabei um ein hermeneutisches Verfahren in der Tradition der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik, was insbesondere an einer Stelle auffällt, an der Ladenthin eine Formulierung wählt, die an Otto Friedrich Bollnows Arbeit ‚Was heißt einen Schriftsteller besser verstehen, als er sich selber verstanden hat?‘ erinnert: „[B]ei diesem Bemühen erfährt man das vergangene Geschehen besser, als dieses sich selbst verstehen konnte“ (S. 160). Das gelte nicht allein für die Arbeiten Maria Montessoris; Ladenthins Anliegen ist es vielmehr, einen neuen Weg der pädagogischen Historiographie aufzuzeigen, die weder Problem- noch Ideengeschichte, sondern ‚Beispielgeschichte‘ sein soll: „Sie gelingt im Sinne Montessoris erst dann, wenn die Gegenwart an der Vergangenheit das herausarbeitet, was jener an sich selbst nicht bekannt war, und diese Gegenwart mit der Vergangenheit an sich entdecken kann“ (S. 161; Herv. i. O.).
Der Versuch einer Neufassung pädagogischer Historiographie, den Ladenthin hier unternimmt, ist keineswegs trivial: Es geht ihm um nicht weniger als die Überschreitung sowohl der Logik der ‚Zwei Kulturen‘ von historischer und systematischer Forschung – ein Streit, der seit der universitären Etablierung eines akademischen Dualismus von philosophischem und naturwissenschaftlichem Paradigma ausgefochten wird – als auch der Grenze von Theorie und Praxis. Reformpädagogik als Pädagogik offener, moderner Gesellschaften und die Montessori-Pädagogik als ihre Vorreiterin seien geradezu prädestiniert für diese doppelte Überschreitung: „So unterscheidet sich die Pädagogik der Neuzeit von der Pädagogik in geschlossenen Kulturen: Individualität, Offenheit und Innovation lassen ein mechanistisches Verständnis von Theorie und Praxis nicht zu. Theorie und Praxis stehen nicht wie Ursache und Wirkung zueinander. Unterrichtsprozesse haben in der Moderne das Ziel, unvorhersehbare Mannigfaltigkeit auszulösen. Damit aber ist Praxis nicht mehr der Theorie nachgeordnet“, sondern ihr „gleichgestellt“ (S. 200; Herv. i.O.). Und weiter heißt es: „Wir formulieren Theorie immer in geltender Praxis; aber wir können Praxis nur begreifen, wenn wir vorab Begriffe haben. In dieser Doppelherrschaft ereignet sich Pädagogik“ (S. 215).
Diskussion
Ladenthins Neufassung einer pädagogischen Historiographie gibt Anlass zur Diskussion: Insbesondere in einer Zeit der empirisch-positivistischen Hegemonie innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Teildisziplinen sind Arbeiten zu begrüßen, die nicht allein hermeneutische Zugriffe in Geisteswissenschaftlicher Tradition bewahren, sondern eine produktive Verknüpfung der ‚Zwei Kulturen‘ von empirischer Systematik und hermeneutischem Historismus versuchen. Auch die angestrebte Überwindung jener strikten Trennung von Theorie und Praxis ist zu begrüßen, bewegt sich ein Großteil insbesondere Allgemeinpädagogischer Theoriebildung doch allzu häufig im Elfenbeinturm des akademischen Diskurses. Leider erschließt sich aus Ladenthins Beschreibung jedoch letztlich nicht, wie eine systematische Aneignung von Geschichte in Form einer Beispielgeschichte konkret aussehen könnte. Das kann auch an der Anlage des Buches liegen, das stärker noch als der erste Band in eine Sammlung nicht immer zusammenhängender Textfragmente zerfällt. Es ist dieses Fragmentarische, das einige methodische Fragen offen lässt: Kann ein induktives Verstehen historischer Pädagogiken, das Herantreten an sie mit den Fragen der Gegenwart, tatsächlich unproblematisch sein, oder entgeht einer solchen Perspektive nicht vielmehr gerade der historische Kontext, zu dessen konstruktiver Aneignung sie sich doch verpflichtet sieht? Auf den ‚Fall‘ Montessori bezogen: Ist es tatsächlich möglich, die Montessori-Pädagogik anhand einer aus ihr selbst abgeleiteten Methode zu verstehen und damit gleichzeitig die Kritik an ihrem Wirken zurückzuweisen, die zum Teil zwar auch inhaltlich argumentiert, aus deren Sicht ein Messen Montessoris an gegenwärtigen ethischen Maßstäben aber durchaus auch ihre Berechtigung findet? Kurzum: Es scheint, dass Ladenthins Kritik an der Kritik der Montessori-Pädagogik letztlich auf einer Ebene ansetzt, die diese Kritik gar nicht trifft. Dem hätte mit einer stärkeren Verortung des Bandes im erziehungswissenschaftlichen Diskurs und einer größeren Ernsthaftigkeit im Umgang mit der entsprechenden Kritik abgeholfen werden können.
Unterm Strich bietet Ladenthins Buch dennoch einen methodisch innovativen Zugriff auf die Montessori-Pädagogik, der – und das darf ja durchaus sein – quer zum aktuellen Diskurs um Montessori und ihre Tätigkeit während des italienischen Faschismus liegt. Gerade einer Arbeit mit einem so anspruchsvollen methodischen Zuschnitt hätte jedoch eine intensivere Auseinandersetzung mit den diversen Kritiken an Montessori und ihrer Pädagogik gutgetan, denn in der vorliegenden Form lesen sich viele Passagen insbesondere des zweiten Bandes teils affirmativ und unkritisch. Dem für den ersten Band herausgearbeiteten produktiven Zugang zu einem systematischen Begriff von Reformpädagogik tut dies keinen Abbruch. Insgesamt wäre beiden Bänden jedoch eine sorgfältigere Überarbeitung und Aktualisierung der ihnen zugrundeliegenden Textbausteine zu wünschen gewesen.
Fazit
‚Die Reform der Pädagogik‘ des emeritierten Pädagogikprofessors und Mitherausgebers der Gesammelten Werke Maria Montessoris Volker Ladenthin bietet einen Beitrag zur Montessori-Pädagogik, der quer zum aktuellen kritischen Diskurs innerhalb der Erziehungswissenschaft liegt. Aufbauend auf systematischen Grundlagen der Reformpädagogik regt insbesondere der Methodische Zuschnitt der Studie zur Diskussion an: Zwischen historischem und systematischem Paradigma und an der Schnittstelle von Theorie und Praxis angesiedelt, legt Ladenthin hier eine Beispielgeschichte der Montessori- bzw. Reformpädagogik vor, die in der gegenwärtigen Forschungslandschaft konkurrenzlos ist.
Rezension von
Daniel Lieb
M.A., Institut für Bildung und Kultur, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen historische und systematische Reformpädagogik, Erziehung und Bildung im Welt-System sowie Qualitativer Sozialforschung mit Schwerpunkt Grounded Theory. Daniel Lieb ist Redakteur der Erziehungswissenschaftlichen Revue im Ressort Vergleichende Erziehungswissenschaft und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Jenaplanpädagogik (GJP)
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