Peter Hammerschmidt, Regine Schelle et al. (Hrsg.): Kindheitspädagogik in Bewegung
Rezensiert von Nicole Klinkhammer, 03.07.2025

Peter Hammerschmidt, Regine Schelle, Gerd Stecklina (Hrsg.): Kindheitspädagogik in Bewegung.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2025.
162 Seiten.
ISBN 978-3-7799-8930-1.
D: 30,00 EUR,
A: 30,90 EUR.
Reihe: Aktuelle Themen und Grundsatzfragen der sozialen Arbeit.
Thema
Der rezensierte Sammelband setzt sich mit den verschiedenen Herausforderungen und Entwicklungslinien sowie den Gegenstandsbereichen der Kindheitspädagogik auseinander. Dies umfasst disziplinäre Grundsatzfragen der Kindheitspädagogik, die als vergleichsweise junge Teildisziplin der Erziehungswissenschaft sich insofern in Bewegung befindet, ihr disziplinäres Profil zu entwickeln. Zudem werden Themen als Bewegungsimpulse für die Kindheitspädagogik bearbeitet, die das Aufwachsen von Kindern und das gesellschaftliche Phänomen Kindheit nachhaltig verändert haben bzw. weiterhin verändern. Dies beinhaltet den Wandel von Familie als Lebensform und dem Aufwachsen von Kindern als eine stärker von institutioneller Betreuung geprägte Kindheit, die wachsende Bedeutung digitaler Bildung in Kindertageseinrichtungen bis hin zu sozialen Problemlagen wie Armut und Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund, geflüchteten Kindern sowie Kinder mit zugeschriebener Behinderung.
Herausgeber:innen
Die drei Herausgeber:innen sind Professor:innen an der Fakultät für angewandte Wissenschaften der Hochschule München.
Peter Hammerschmidt hat die Professur für die Grundlagen Sozialer Arbeit, u.a. mit den Schwerpunktender Theorie und Geschichte Sozialer Arbeit sowie Sozialpolitik und Gesellschaftstheorie.
Regine Schelle ist Professorin für Kindheits- und Sozialpädagogik und ihre Arbeits- und Forschungsbereiche umfassen u.a. die Themen Inklusive Pädagogik, Qualitätsentwicklung und Professionalisierung.
Gerd Stecklina hat die Professur für Theorien und Geschichte Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Geschlechterforschung sowie den Arbeits- und Forschungsbereichen zu Jüdischer Sozialarbeit und Kinder- und Jugendhilfe.
Entstehungshintergrund
Erschienen ist das Band in der Reihe „Aktuelle Themen und Grundsatzfragen der Sozialen Arbeit“, die von der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München herausgebracht wird. Die Reihe fungiert zugleich als Dokumentation der Beiträge im Colloquium Soziale Arbeit, das nunmehr seit 2009 jährlich mit verschiedenen thematischen Schwerpunkten an der Fakultät veranstaltet wird. Mit der Publikation schaffen die Herausgeber:innen die Möglichkeit, dass die an der Hochschule diskutierten Themen zugleich für ein breiteres Fachpublikum in Wissenschaft und Praxis zugänglich sind.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband „Kindheitspädagogik in Bewegung“ beinhaltet insgesamt acht Beiträge. Während der einführende Beitrag von Regine Schelle, Gerd Stecklina und Peter Hammerschmidt sowie der abschließende Beitrag von Helmut Lechner stärker die Bewegungen in der Disziplin der Kindheitspädagogik sowie Fragen der Professionalisierung in den Blick nehmen, werden in den sechs weiteren Beiträgen verschiedene thematisch zugespitzte Bewegungsimpulse bearbeitet.
In der Einleitung setzen sich Regine Schelle, Gerd Stecklina und Peter Hammerschmidt mit der Frage auseinander, welche „Suchbewegungen“ die Kindheitspädagogik als Disziplin prägen und was diese kennzeichnet. Dabei wird deutlich, dass deren disziplinäre Kerngegenstand weiterhin ungeklärt und die Disziplin deshalb in Bewegung ist. Als Berufsprofil von Kindheitspädagog:innen, als übergreifendes Praxisfeld mit unterschiedlichen Arbeitsbereichen, als Professionsfeld durch die Akademisierung der pädagogischen Ausbildung sowie als Forschungsfeld für dezidiert kindheitspädagogische Studien zeichnen die Autor:innen die Mehrdimensionalität und Komplexität der Kindheitspädagogik und deren fachlichen Bezügen nach. Als eine Art Minimalkonsens hinsichtlich der Gegenstandsbestimmung bieten die Autor:innen folgende Einordnung an: So bezieht sich die Kindheitspädagogik „auf die gesamte Phase der Kindheit und auf außerschulische Bildung, Betreuung und Erziehung“ (S. 14). Für Schelle, Stecklina und Hammerschmid stellen die (veränderten) Perspektiven auf das Aufwachsen von Kindern, die Vielfalt von Kindheiten sowie die zunehmende Bedeutung der Förderung kindlicher Bildungsprozesse und dem damit einhergehenden Bedeutungszuwachs früher Bildung, insbesondere in Kindertageseinrichtungen zwei wesentliche Impulse dar, die „von außen“ auf die Kindheitspädagogik Einfluss nehmen. Den Autor:innen zufolge sollte sich Kindheitspädagogik gegen eine weitere Ökonomisierung von Bildung positionieren und sich für Konzepte kindlicher Bildung stark machen, die auf eine Subjektorientierung, kindliches Wohlbefinden und den Ansatz der „Slow Pedagogy“ setzen, um mehr Chancengerechtigkeit für Kinder zu erreichen (S. 21–22). Weitere Perspektiven ergeben sich durch die stärker diversifizierenden Lebens- und Familienformen, dem Anspruch und Auftrag einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe sowie den Digitalisierungsprozessen, auf die auch die Kindheitspädagogik reagieren muss. Die Beiträge greifen diese Aspekte auf.
So bietet der Beitrag von Rita Braches-Chyrek eine historische Rekonstruktion der Entwicklung institutioneller Betreuung, Bildung und Erziehung in der frühen Kindheit. Die Autorin skizziert, wie sich gesellschaftliche Vorstellungen von Kindheit als Ideensystem im Laufe der Zeit gewandelt haben und damit einhergehend die Positionierung der Kinder in den für sie geschaffenen Institutionen. Von der „verwahrenden“ Fürsorge über die „fördernde“ Betreuung und der „disziplinierenden Erziehung bis hin zur „bildenden“ Institution zeichnet die Autorin die verschiedenen, teils widersprüchlichen Paradigmen in den Praktiken der Erziehung, Betreuung und Bildung nach. Sie kritisiert die zunehmende Ökonomisierung frühkindlicher Bildung und fordert eine stärkere Orientierung an kindlichen Bedürfnissen sowie einer grundlegenden Humanität. Zugleich zeigt sie auf, dass die Idee der Optimierung der Lebensphase Kindheit ein historisches Kontinuum darstellt. Für die Auseinandersetzung mit der Gegenwart erscheint es demnach lohnenswert, die historische Genese normativer Leitbilder von Kindheit sowie bestehender Ungleichheitsverhältnisse in den Blick zu nehmen, denn diese prägen das Feld bis heute.
Gabriela Zink widmet sich im zweiten Kapitel den gegenwärtigen Veränderungen im Kinder- und Familienalltag. Sie skizziert, wie Kindheit zunehmend institutionalisiert, pädagogisiert und inszeniert wird. Damit beschreibt sie Entwicklungen, wie die Normalisierung des Kita-Besuches in der frühen Kindheit, aber auch die Inanspruchnahme von organisierten Förder- und Bildungsangeboten außerhalb der Kita. Der Kinderalltag ist der Autorin zufolge auf diese Weise von den institutionellen Logiken und Zeitmustern geprägt, die beispielweise ein selbstverständliches Treffen mit Peers zur Herausforderung machen. Auch Zink kritisiert die Dominanz der ökonomisch geprägten Vorstellung einer Bildungskindheit. Zudem thematisiert die Autorin die Herausforderungen, die sich durch veränderte Familienstrukturen und -dynamiken im Alltag ergeben. Mit dem Konzept des „doing family“ wird die aktive Herstellungsleistung von Familie als komplexe Anforderung analysiert. Die Veränderungen des Erwerbslebens sowie der Werte und Normen des Zusammenlebens führt zu Entgrenzungsprozessen, die ebenso das Beziehungs- und Erziehungsgeschehen im Familienalltag beeinflussen. Zink problematisiert, dass der bestehende gesellschaftliche Anspruch an eine optimale Bildung Eltern unter Druck setzt. Das sowie der Mangel an Zeit in Familien verursacht ein hohes Stresslevel im Alltag von Kindern und Familien. So fordert sie u.a. von der Profession der Kindheitspädagogik eine kritische Positionierung gegenüber einem neoliberalen Bild von Kindheit und der vermeintlich unausweichlichen „Optimierungsspirale“ in der Lebensführung von Familien (S. 66).
In den folgenden drei Beiträgen werden Kinder in den Blick genommen, die im Kontext der Kindertagesbetreuung von diskriminierenden Strukturen und Praktiken durch Akteur:innen im kindheitspädagogischen Berufsfeld betroffen sind. Kinder in Armut, geflüchtete Kinder bzw. Kinder mit Migrationshintergrund sowie Kinder mit zugeschriebener Behinderung sind mit jeweils spezifischen Formen von Benachteiligungen konfrontiert, die die Beiträge herausarbeiten und problematisieren.
In ihrem Beitrag analysiert Regine Schelle Daten über Armut und deren Folgen für das Aufwachsen von Kindern. Dabei wird deutlich, dass die Erwartungen, die durch Politik, Wissenschaft und Fachöffentlichkeit u.a. mit Blick auf die kompensatorische Förderung an das kindheitspädagogische Handeln zum Ausdruck gebracht werden, in einem Spannungsverhältnis zu empirischen Befunden stehen. Schelle arbeitet heraus, dass die Kita durchaus ein Ort der (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit sein kann. Dabei problematisiert sie eine fehlende Armutssensibilität im Handeln der pädagogischen Fachkräfte, die sich in fehlender Reflexionsfähigkeit hinsichtlich bestehender struktureller Ungleichheitsbedingungen und Machtasymmetrien in der Gesellschaft zeigt. Armut wird so zu einem individuellen Problem einer Familie und normative Vorstellungen von Kindheit und Elternschaft bilden die Orientierungsfolie im pädagogischen Handeln. Die Autorin sieht es als notwendige Aufgabe der Kindheitspädagogik „die eigene Verwobenheit in Macht- und Differenzverhältnisse zu reflektieren“ (S. 85). Sehr überzeugend argumentiert Schelle, dass eine Armutssensibilität in pädagogischen Organisationen alleine nicht reicht, um diskriminierende Ungleichheitsstrukturen zu überwinden. Sie plädiert vielmehr für ein armutssensibles Gesamtsystem, in dem alle Ebenen und Akteure im System der Kindertagesbetreuung Verantwortung für die Verbesserung der Bedingungen im Aufwachsen von Kindern tragen. Dabei kann Pädagogik nicht die Aufgaben der Politik lösen, zugleich ist es jedoch erforderlich, dass sich auch die Kindheitspädagogik für die Herstellung von Differenzgerechtigkeit einsetzt und diskriminierende Strukturen und benachteiligte Lebenslagen klar benennt.
Die bildungspolitische Erwartung an Kindertageseinrichtungen spielt ebenfalls im Beitrag von Seyran Bostancı und Emma Kunz eine zentrale Rolle. Die Analyse der Situation von geflüchteten und rassifizierten Kindern in Kitas zeigt vielmehr, dass diese – ähnlich wie Schelle es darstellt – verschiedene Formen des institutionellen Rassismus in der frühen Bildung erleben. Dass die Ebene der Kita beeinflusst wird von den „Verhandlungen, Widersprüchen, Gegensätzen und Allianzen“ (S. 92) der postmigrantischen Gesellschaft und entsprechend geprägt ist von den dort eingeschriebenen Dominanzverhältnissen, führt folglich zu rassistischen Diskriminierungen durch Akteur:innen im Kita-System. Dabei werden „rassifizierte Kinder … für strukturelle Versäumnisse bei der Anpassung von Kitas an die postmigrantische Gesellschaft verantwortlich gemacht“ (S. 93). Sehr differenziert beleuchtet der Beitrag auf Basis der Critical Race Theorie, wie sich Rassismus als gesellschaftliches Struktur- und Organisationsprinzip auf verschiedenen Ebenen auswirkt; auf der strukturellen Ebene im systematischen Ausschluss von geflüchteten und rassifizierten Kindern und damit dem fehlenden Zugang zur Kita (institutionelle Exklusionsprozesse), durch die vorherrschende monolinguale Norm und dem hierarchischen Umgang mit Sprachvielfalt in den Abläufen und Praktiken in der Kita sowie die Gestaltung der Lernumgebung mitfehlender oder falscher Repräsentation von Vielfalt und der Weitergabe von rassistischem Wissensbeständen in Büchern und Spielmaterialien. Dabei bleibt der Umgang mit interkulturellen Ansätzen in der Professionalisierung von pädagogischem Personal in der Regel oberflächlich und symbolischer Art, ohne diskriminierende Strukturen und strukturelle, ungleichheitserzeugende Machtverhältnisse zu hinterfragen. Für den institutionellen Abbau von Diskriminierungsprozessen braucht es Bostancı und Kunz zufolge in den Handlungsstrategien einen gesamtsystemischen Ansatz, in dem nicht nur das pädagogische Personal sensibilisiert und weiter professionalisiert wird, sondern auch auf der Ebene der Träger, der Politik und Unterstützungssysteme von Kitas gezielt Maßnahmen ergriffen werden. So schlussfolgern die beiden Autorinnen, dass der bestehende strukturelle Rassismus sowie die Diskriminierung in der Kita nur durch die Etablierung einer inklusiven und machtkritischen Pädagogik, die auf Diversität setzt, überwunden werden kann. Dazu formulieren sie fünf überzeugende Thesen für die Entwicklung von Kitas zu diskriminierungsfreien Bildungsorten für alle Kinder. Langfristig lassen sich nachhaltige Veränderungen jedoch nur erreichen, wenn die Überwindung von institutionellem Rassismus als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen wird.
Katja Zehbe thematisiert im fünften Kapitel den Umgang mit Diversität und Teilhabe von Kindern mit zugeschriebener Behinderung in Kindertageseinrichtungen. Für die Auseinandersetzung benennt die Autorin zwei zentrale Aspekte: zum einen sind Kinder mit zugeschriebener Behinderung keine „homogene Kategorie“, sondern es ist von einer Vielfalt von Kindern innerhalb dieser Zuordnung auszugehen. Zum anderen versteht die Autorin Behinderung als Konstrukt, das in verschiedene gesamtgesellschaftliche Strukturen eingebettet und durch Zuschreibungsprozesse als solches hergestellt wird. Zehbe unterstreicht auf diese Weise, dass eine reflexive Perspektive auf und kritische Distanzierung zu Normalisierungspraktiken in der binären Ordnung von Behinderung und Nichtbehinderung zentral für eine kindheitspädagogische Betrachtung ist. Kinder, so die Autorin, werden als Kinder perspektiviert und Behinderung als „Erfahrungsaufschichtung“ (S. 110). Welche Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder mit zugeschriebener Behinderung in der Kita ergeben, diskutiert die Autorin vor dem Hintergrund eines Beteiligungsbegriffes, der Teilhabe und Partizipation entlang von institutionellen Beteiligungsformen, alltäglicher Mitsprache, Beteiligungsrechten und -pflichten analysiert. Dabei arbeitet sie heraus, dass Kinder – insbesondere bei „Mehrfachzugehörigkeiten … in spezifische Heterogenitätsdimensionen“, wie zugeschriebenen Behinderung und Migrationshintergrund – kaum gerechte Teilhabe und Partizipation im Kontext von Bildungsprozessen erfahren. Bereits Chancen auf einen gerechten Zugang zu Bildung sind für Kinder mit zugeschriebener Behinderung verwehrt. Trotz gesetzlicher Rahmen, wie der UN-Behindertenrechtskonvention oder dem Kinder- und Jugendstärkungsgesetz, kritisiert die Autorin, dass in der alltäglichen Mitsprache Beteiligungsmöglichkeiten nicht ausreichend realisiert werden. Anstelle dessen lässt sich die Konstruktion einer besonderen Vulnerabilität von Kindern mit zugeschriebener Behinderung ausmachen, die bestehende generationale Machtverhältnisse eher verstärkt. Zehbe fordert eine „intersektional informierte kindheitspädagogische Perspektive“ (S. 120), die für die Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern mit zugeschriebener Behinderung zwischen Teilhabe, Teilgabe und Exklusion sensibilisiert. Solche Beteiligungsmöglichkeiten zu schaffen, stellt der Autorin zufolge eine „genuin pädagogische Anforderung“ an „das professionelle Handeln von pädagogischen Fachkräften“ dar. Dies impliziert eine veränderte Perspektivierung von Beteiligungsmöglichkeiten für Kinder (mit zugeschriebener Behinderung) entlang ihrer unterschiedlichen individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen sowie einen reflexiven Blick auf die Gestaltung von pädagogischen Settings und Praktiken.
Mit dem Beitrag von Jana Heinz findet ein Perspektivwechsel hin zu den Anforderungen statt, die die von Digitalisierungsprozessen geprägte Gesellschaft an den Bildungsauftrag von Kitas hervorbringen. Dabei arbeitet die Autorin heraus, dass mit der Digitalisierung nicht nur technische Aspekte einhergehen, sondern mit den Begriffen Digitalität und Postdigitalität verweist sie auf damit verbundene gesellschaftliche Metaprozesse, bei denen sich soziales Handeln, kulturelle Prozesse und individuelle Präferenzen gegenseitig beeinflussen. Digitale Bildung geht Heinz zufolge über das Vorhandensein von digitalen Kompetenzen in Gestalt technischer Fähigkeiten und einem kritischen Umgang mit digitalen Medien hinaus. Vielmehr umfasst diese Bildung die Reflexion des Digitalen und der sozialen Implikationen, die u.a. mit existierenden Diskriminierungen, die durch die in menschliche Programmierungen eingeschriebene Bias erzeugt werden. Mit Blick auf die Frage der Sicherung von Bildungsgerechtigkeit in der digitalen Gesellschaft, verweist die Autorin auf bestehende Ungleichheiten, die sich aktuell eher verschärfen. In der frühkindlichen Bildung tragen ungünstige Bedingungen im System, wie fehlende Fachkräfte und Betreuungsplätze, die Heterogenität der Kinder mit Blick auf sozioökonomische Hintergründe und die dem entgegenstehenden Anforderungen an qualitativ hochwertige Lernumgebungen eher zu einem „digital divide“, also einer sich abzeichnenden Kluft, bei. Heinz problematisiert, dass gerade Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Herkunftsmilieus über niedrige digitale Kompetenzen verfügen, was Ungleichheiten für die erforderlichen Schlüsselkompetenzen einer Teilhabe, wie Kreativität oder Problemlösungsfähigkeit, in digitalen Gesellschaften impliziert. Während digitale Medien längst Teil kindlicher Lebenswelten sind und auch die Bildungspläne der Länder die Umsetzung digitaler Bildung in Kitas empfehlen, zeichnen sich Heinz zufolge in der Praxis eher Hürden und Vorbehalte ab. Kitas werden von Fachkräften häufig als „Schutzraum“ gesehen, ohne eine eigene Strategie oder ein eigenes medienpädagogisches Konzept vorliegen zu haben. Eine Ursache hierfür stellt eine eher problematische, weil von Misstrauen und Vorbehalten geprägte Zusammenarbeit zwischen Eltern und Fachkräften an diesem Punkt dar. Heinz betont die Rolle der Fachkräfte als feinfühlige medienpädagogische Begleiter:innen und skizziert sehr anschauliche Beispiele alltagsintegrierter digitaler Bildungsanlässe, die durch kreative, kollaborative und kommunikative Gestaltung neue qualitative Lernerfahrungen für Kinder bieten können. Die Gestaltung digitaler Bildung und die Nutzung der emanzipatorischen und kreativen Potenziale digitaler Medien sind, so bilanziert die Autorin, gerade vor dem Hintergrund neuer Ungleichheitsdimensionen eine hochrelevante Aufgabe für Kitas.
Helmut Lechner zieht im abschließenden Beitrag eine Bilanz zu der sich seit zwei Jahrzehnten entwickelnden Akademisierung der pädagogischen Fachkräfte im Feld der frühen Bildung. In einem kurzen historischen Abriss skizziert der Autor, wie die „Dualität des Elementarbereichs mit seiner fürsorgenden wie auch bildenden Funktion“ (S. 146) bis heute ein „Wesensmerkmal“ darstellt, auch wenn der Diskurs in den 2000er Jahren gerade den Bildungsauftrag in frühpädagogischen Einrichtungen fokussierte. Studienergebnisse aus dieser Zeit, wie die aus der PISA-Studie oder auch der IGLU-Untersuchung, problematisierten den starken Zusammenhang zwischen dem Bildungserfolg der Kinder und deren sozialer Herkunft sowie die nur unzureichend genutzten Chancen der frühen Bildung, Lechner beschreibt, wie in diesem Zeitgeist, in dem die frühe Bildung eine Schlüsselrolle einnahm, die Frage der Qualifikation und Verbesserung der Erzieher:innenausbildung in den Fokus geriet und das „Projekt der Akademisierung“ seinen Anfang nahm. Begründet wurde eine akademisch ausgerichtete Ausbildung mit den komplexen Anforderungen an das Bildungssystem und somit auch an die frühkindliche Bildungseinrichtungen. Mit einer formal höheren akademischen Ausbildung wurde, so Lechner, erwartet, dass Fachkräfte einerseits die erforderlichen Kompetenzen erwerben und der Elementarbereich durch eine Akademisierung stärkere gesellschaftliche Anerkennung erfährt. Denn mit der Akademisierung wurde die Erwartung einer Qualitätssteigerung in der frühen Bildung verbunden. Diese Steigerung lässt sich nicht seriös nachzeichnen und rein quantitativ zeigt sich in vorliegenden Daten, dass ein kontinuierlicher Anstieg von akademisch qualifiziertem Personal zu verzeichnen ist; das Niveau bleibt jedoch weiterhin vergleichsweise gering. Der aktuelle qualitative wie quantitative Fachkräftemangel fordert das Feld der Frühpädagogik ein weiteres Mal und Lechner problematisiert die daraus resultierende „Gefahr der Deprofessionalisierung“ (S. 155). Der Autor schließt seinen Beitrag mit zehn Thesen, die die zukünftige Entwicklung der Kindheitspädagogik umreißen. Dabei macht er deutlich, dass das Projekt der Akademisierung keinesfalls an seinem Ende angelangt ist. Wenngleich Lechner auch perspektivisch eher von einer Teilakademisierung des frühpädagogischen Feldes ausgeht, so ergeben sich wichtige Diskussionsfragen zur Weiterentwicklung des Berufs- und Arbeitsfeldes ebenso wie des Professions- und Forschungsfeldes, wie beispielsweise konzeptionelle Überlegungen zum Einsatz von akademischen Fachkräften in der Kita, der Veränderung des Tarifrechts oder der klaren Positionierung freier Träger für eine Steigerung der Akademisierung.
Diskussion
Der Sammelband überzeugt sowohl durch die gesetzten Themen der Beiträge, deren theoretische Fundierung sowie die gesellschafts- wie fachpolitische Relevanz der analysierten Inhalte. Die Beiträge formulieren Handlungsanforderungen und -strategien, bieten aber keine einfachen Lösungen. Die Autor:innen fordern zur kritischen Reflexion und aktiven Mitgestaltung der Kindheitspädagogik auf, deren Profil und Gegenstandsbereiche es weiter zu konturieren gilt. Besonders hervorzuheben ist die konsequente Verbindung von Theorie und Praxis sowie die klaren fachpolitischen Botschaften in den Beiträgen. Eine gewisse Heterogenität zeigt sich im theoretischen Anspruch und in der Tiefe der Analysen. Während einige Beiträge (z.B. Schelle, Bostancı/Kunz, Zehbe) dezidiert strukturelle Machtverhältnisse analysieren, bleiben andere (z.B. zur Digitalisierung) eher auf einer konzeptionellen Ebene, was jedoch keinesfalls deren analytische Qualität mindert. Sehr überzeugend wird das vermeintlich universelle Ideal „guter Kindheit“, das von bestimmten normativen Erziehungsidealen geprägt ist, kritisiert und herausgearbeitet, dass die Bedingungen, in denen Kinder aufwachsen ungleich sind und dies entsprechend Auswirkungen auf ihre Kindheiten hat.
Für Studierende der Kindheitspädagogik bietet der Band wertvolle Anknüpfungspunkte. So ermöglicht er eine fundierte Theorie-Praxis-Reflexion, indem er aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen von Armut, Migration, Inklusion dem Wandel von Familie usw. mit dem frühpädagogischen Praxisfeld der Kindertagesbetreuung und der frühen Bildung verknüpft. Die Beiträge regen zur kritischen Auseinandersetzung mit Fragestellungen an, die die Kindheitspädagogik als Disziplin bewegen und bieten Denkanstöße für die Entwicklung eines kritischen Professionsverständnisses. Nicht zuletzt bietet der Band Bewegungsimpulse für die Entwicklung einer ethisch reflektierten Haltung zu Themen, wie Armut und Migration, ebenso wie für eine explizit akademisch ausgerichtete Identitätsbildung im Praxis- und Professionsfeld der Kindheitspädagogik. Interessant und weiter zu denken gilt es das an verschiedenen Stellen thematisierte disziplinäre Verhältnis von Kindheits- und Sozialpädagogik im Kontext Sozialer Arbeit. Inwiefern hier disziplinäre Abgrenzungen wie interdisziplinäre Kooperationen und gemeinsame Perspektiven auf die Bedingungen des Aufwachsens von Kindern noch systematischer zu betrachten sind, gilt es zukünftig zu diskutieren.
Fazit
„Kindheitspädagogik in Bewegung“ stellt ein differenziert ausgearbeiteter und „imulsgebender“ Sammelband dar, der Studierende sowohl zum Nachdenken über ihr professionelles Selbstverständnis als auch Prozesse zur politischen und ethischen Positionierung im Berufs- und Professionsfeld anregt. Damit bietet der Band eine wertvolle Ressource – sowohl für das Studium als auch für die Entwicklung einer reflektierten, engagierten pädagogischen Haltung. Zugleich bereichert der Band die Fachdebatte zur Konturierung der Kindheitspädagogik und bietet wichtige Perspektiven für die weitere fundierte Auseinandersetzung mit aktuellen Herausforderungen im Aufwachsen von Kindern, wie Armut, Migration oder Digitalisierung. Damit kann der Band durchaus als Standortbestimmung und Impulsgeber für eine reflexive, gesellschaftlich engagierte Kindheitspädagogik fungieren.
Rezension von
Nicole Klinkhammer
Professur für Frühe Kindheit und Familie, Technische Hochschule Augsburg,
Studiengang Soziale Arbeit
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