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Omer Bartov: Genozid, Holocaust und Israel-Palästina

Rezensiert von Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens, 17.10.2025

Cover Omer Bartov: Genozid, Holocaust und Israel-Palästina ISBN 978-3-633-54335-9

Omer Bartov: Genozid, Holocaust und Israel-Palästina. Geschichte im Selbstzeugnis. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2025. 521 Seiten. ISBN 978-3-633-54335-9. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,50 sFr.

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Thema

Bücher mögen ein Thema behandeln, ihre Autor(inn)en verfolgen in aller Regel ein Anliegen, ob sie es nun selbst so ausweisen oder erst von Leser(inne)n beim Namen genannt werden. Omer Bartov legt die zwei Hauptanliegen seines hier zu betrachtenden Buches auf den ersten Seiten offen:

  • „Es plädiert erstens dafür, den Holocaust im weiteren Zusammenhang neuzeitlichen Genozids zu verstehen und ihn zugleich als ein Geschehen zu begreifen, das die Geschichte von Israel-Palästina entscheidend beeinflusst hat.“ (S. 22)
  • „Zweitens empfiehlt es einen konkreten methodischen Ansatz, um diesen Verbindungen nachzugehen, nämlich den Blick durch das Prisma der Lokalgeschichte und der Geschichte aus Sicht der ersten Person. Die Beziehung zwischen ‚großer‘ und ‚kleiner‘ Geschichte – der Geschichte von oben und der Geschichte, wie sie von unten, aus Sicht ihrer Protagonisten, gesehen, erlebt und erzählt wird – zieht sich als Thema durch das gesamte Buch.“ (ebd.)

Entstehungsgeschichte

Das Buch, das frühere Publikationen der letzten Jahre (Details: S. 427-429) vereinigt, zeichnet den Entwicklungsprozess des Historikers und politischen Menschen Omer Bartov in den letzten zwei Jahrzehnten nach: „Er führt von der Erforschung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zur vergleichenden Genozidforschung einerseits und zur Mikrogeschichte des Holocaust andererseits, von der deutschen Geschichte zur Geschichte der interethnischen Beziehungen in Osteuropa und von der jüdischen Geschichte zum fortdauernden Konflikt in Israel-Palästina.“ (S. 22) Das Buch ist die deutsche Übersetzung des wenige Tage vor dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Massaker der Hamas, erschienenen englischsprachigen Originals.

Mit „Osteuropa“, darauf sei gleich hier am Anfang aufmerksam gemacht, meint der Autor faktisch alle Gebiete östlich des heutigen Deutschlands – also nicht nur Russland bis zum Ural, Belarus und den mittleren sowie östlichen Teil der Ukraine, sondern auch die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn und die im Westen der heutigen Ukraine liegende, bis 1918 zu Österreich gehörige historische Landschaft Galizien. Diese Gebiete werden nach anderer Anschauung als „Ostmitteleuropa“ bezeichnet (Heekerens 2024a).

Autor

Omer Bartov wurde 1954 als Kind von Links-Zionisten geboren im zwischen Haifa und Tel Aviv gelegenen Kibbuz En HaChoresch, der 1931 von Mitgliedern des Hashomer Hatzair, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Galizien geschaffenen sozialistisch-zionistischen Jugendorganisation, gegründet worden war. In En HaChoresch haben einige für die Geschichte des linken Zionismus bedeutende Personen gelebt – darunter Abba Kovner (1918 – 1987), einer der bekanntesten jüdischen Widerstandskämpfer gegen den Nazi-Terror (Heekerens 2025, Lehnstaedt 2025).

Sein Vater, dessen Eltern aus dem Gebiet des heutigen Westpolens kamen, ist Sabre (Tzabar): Er wurde 1925 in Petach Tikwa, der ersten ländlichen Siedlung von Juden auf dem späteren Staatsgebiet Israels, geboren, kämpfte während des Zweiten Weltkriegs in der Jüdischen Brigade der britischen Armee und 1948 im Unabhängigkeitskrieg. Seine Mutter verließ als Elfjährige mit ihren Eltern ihre damals unter polnischem Regime stehende Heimatstadt Buczacz (heute ukrainisch: Butschatsch), die bis 1918 zum österreichischen (Ost-)Galizien gehörte, jenem Grenzland, aus dem in den drei Generationen vor dem Ersten Weltkrieg viele Jüdinnen und Juden „durch das ‚Heraustreten in die Welt‘ zu Herolden der Moderne“ (S. 30) wurden (von einigen wird auch bei Heekerens 2024a berichtet).

Omer Bartov wuchs weitgehend in Tel Aviv auf, legte dort am renommierten Neuen Gymnasium (Tichon Hadash) die Reifeprüfung ab, absolvierte danach ab 1972 seinen Militärdienst, u.a. 1973 als Infanterist im Jom-Kippur-Krieg, um anschließend an der Universität Tel Aviv das Geschichtsstudium aufzunehmen, das er 1979 abschloss. In diesem Jahr begann er mit Hilfe eines DAAD-Stipendiums am (2009 geschlossenen) Goethe-Institut in Murnau Deutsch zu lernen. Anschließend setze er seine historischen Studien am international ausgerichteten St Antony’s College in Oxford fort und beendete diese mit einer Promotion über den Krieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion.

Danach lehrte er ohne Festanstellung in Harvard und Princeton, um 1985 als Alexander-von-Humboldt-Stipendiat an das (2012 aufgelöste) Militärgeschichtliche Forschungsamt der Bundeswehr in Freiburg im Breisgau zu gehen. Dort lernte er den 2022 verstorbenen Juristen und Militärhistoriker Manfred Messerschmidt, den damals bedeutendsten Fachmann für das Thema „Wehrmacht und NS-Staat“, kennen, dem er wesentliche Forschungsanregungen verdankt.

Heute forscht und lehrt Omer Bartov an der Brown University in Providence, der Hauptstadt des US-Bundesstaates Rhode Island, die zu den ältesten und renommiertesten Universitäten der USA zählt. Seine Forschungstätigkeit konzentrierte er zunächst auf die Gleichschaltung der Wehrmacht im NS-Staat, bevor er sich mit den Verbrechen der Wehrmacht in Ostmittel- und Osteuropa beschäftigte. Später untersuchte er Verbindungen zwischen den Auswirkungen des Ersten Weltkrieges und den rassistischen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg sowie die Geschichte und die Hintergründe des Holocaust.

Von seinen zahlreichen wissenschaftlichen Büchern sind neben dem vorliegenden bislang nur zwei ins Deutsche übersetzt worden: „Hitlers Wehrmacht: Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges“ (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1995) und „Anatomie eines Genozids: Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz“ (Berlin: Suhrkamp, 2021). Auch wer seine Bücher und wissenschaftlichen Zeitschriftenartikel nicht gelesen hat, mag ihn aus anderen Quellen kennen, So gibt es eine Reihe von YouTube-Videos von und mit ihm, von denen zwei auch deutschsprachig sind. Da ist einmal ein anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine entstandenes taz-Interview vom März 2022 und sein Vortrag „Die letzten Tag von Buczacz“ vom März 2007 im Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien (https://www.youtube.com/watch?app=desktop&v=s-adSk_8dXo); Simon Wiesenthal wurde 1908 in Buczacz geboren.

Aufbau und Inhalt

Den Kern des Buches machen elf Kapitel aus, die fünf Buchteilen zugeordnet sind. Dem voraus findet sich ein Vorwort zur deutschen Ausgabe, auf das unten eingegangen wird, und eine bereits im englischen Original vorhandene Einleitung, in welcher der Autor sein Anliegen darlegt und einen Überblick über das Buch gibt. Dem geht es, die Thematik betrachtet, darum „möglichst prägnant und klar in einige der komplexesten aktuellen Debatten einzuführen – zu Genozid und Holocaust, Erinnerungsgesetzen und den Verbindungen zwischen dem Holocaust und der Nakba“ (S. 23) Mit Blick auf die Methodik werden neue Forschungsansätze vorgestellt, „die sich auf Lokalgeschichte, die Einbeziehung von Selbstzeugnissen und Geschichtsdarstellungen aus Sicht der ersten Person stützen“ (ebd.).

Der erste Buchteil „Über die Gräuel schreiben“ umfasst zwei auf einander bezogene, der geschichtswissenschaftlichen Methodik gewidmete Kapitel zum Verhältnis von Holocaust und Genozid einer- und zur Geografie des Holocaust andererseits. Die zentrale Aussage des 1. Kapitels Historische Einzigartigkeit und integrierte Geschichte lautet: „Der Holocaust war einer von mehreren Genoziden des 20. Jahrhundert [!]. Er war […] besonders extrem, und einige seiner Erscheinungen, vor allem die Vernichtungslager, sind bis heute ohne Parallele. Andere, wie kommunale Massaker, sind in bemerkenswert ähnlicher Form wiederholt auch bei anderen Genoziden aufgetreten.“ (S. 55–56) Die Überlegungen im 2. Kapitel Osteuropa als Stätte des Genozids münden in eine Forderung an künftige Historiker(innen): „Es obliegt einer neuen Historikergeneration, die Forschung zum Holocaust in [Ostmittel- und] Osteuropa mit der allgemeinen Holocaustforschung ins Verhältnis zu setzen und die Geschichte des Holocaust zugleich im Zusammenhang der einzelnen [Ostmittel- und] osteuropäischen Länder zu betrachten.“ (S. 102)

Der zweite Buchteil „Lokalgeschichte“ hat als Schwerpunkt die Erforschung des Holocaust auf lokaler Ebene unter Einbeziehung von Selbstzeugnissen als historischen Dokumenten. Er enthält zwei Kapitel: Die Rekonstruktion des Genozids auf lokaler Ebene (Kap. 3) am Beispiel von Buczacz und Selbstzeugnisse als historische Dokumente (Kap. 4). In der ostgalizischen Stadt wurde rund die Hälfte der Juden vor den Augen der Nachbarn und mithilfe lokaler Kräfte umgebracht. Das ist typisch für den gesamten Holocaust, weshalb Lokalstudien dessen Bild verändert, das bislang ganz überwiegend als ein Morden in isolierten Ghettos und entfernt liegenden Lagern gezeichnet wurde. Lokalstudien müssen sich umfassend auf Selbstzeugnisse stützen, die man, was auch immer die damit verbundenen methodischen Schwierigkeiten sein mögen, als historische Dokumente zu würdigen hat.

Der dritte Buchteil, „Justiz und Erinnerung“ befasst sich in zwei Kapiteln „mit zwei problembehafteten Themen – erstens mit der Frage der juristischen Vergeltung für Genozid und zweitens mit Bestrebungen, bestimmte Formen der Erinnerung gesetzlich zu privilegieren und andere an den Rand zu drängen oder gar zu kriminalisieren“ (S. 26–27). In Der Holocaust vor Gericht werden die vor bundesdeutschen Gerichten seit Ende der 1950er verhandelten Fälle von Anklagen gegen Holocaust-Täter einer Analyse und Bewertung unterzogen; da wurde nur in Ausnahmefällen Gerechtigkeit hergestellt. Kapitel Erinnerungsgesetze als Werkzeug des Vergessens „zeigt, wie Erinnerungsgesetze in der Ukraine, Polen und Israel das Gedenken an die traumatische Vergangenheit des eigenen Landes verankern. Zugleich ist die Offenlegung eigener Verbrechen und das Gedenken daran in allen drei Staaten gesetzlich sanktioniert.“ (S. 28)

Auch der vierte Teil des Buches, „Geschichte im Selbstzeugnis“ enthält lediglich zwei Kapitel, das 7. und 8. Das erste hat den Titel Panorama – H.G. Adlers Ent-Bildungsroman und das zweite ist mit Die Weltveränderer aus dem Schtetl überschrieben. Hier wird analysiert, „wie sich individuelle Erzählungen auf die Rekonstruktion der Vergangenheit auswirken und inwieweit solche Geschichten aus Sicht der ersten Person die konventionellen Vorstellungen einer komplexen und traumatischen Vergangenheit korrigieren oder unterminieren“ (S. 28). Bei den „Weltveränderern aus dem Schtetl“ lernen wir u.a. die Schriftsteller Iwan Franko (ukrainisch), Karl Emil Franzos und Samuel Joseph Agnon (beide jüdisch), das anarcho-syndikaistische Brüderpaar Max und Siegfried Nacht (beide jüdisch) und den jüdischen Orientalisten David Heinrich Müller kennen.

Der fünfte und letzte Buchteil hat den Titel „Wenn die Erinnerung kommt“: „Hier geht es darum, nachzuvollziehen, wie sich die reale Erfahrung der kollektiven und persönlichen Vertreibung und die Erinnerung an sie ausgewirkt haben. Aus dieser Perspektive lassen sich die Zusammenhänge zwischen Holocaust und Nakba erhellen.“ (S. 30). Das geschieht in drei Kapiteln. Das erste trägt die Überschrift Rückkehr und Vertreibung in Israel – Palästina und entfaltet die These: „Das Schicksal der Juden in Europa, insbesondere in den multiethnischen Orten des Ostens, steht […] in einer komplexen, von abgründiger Ironie erfüllten Beziehung zu dem Schicksal, das die siegreiche politische und militärische Führung des neuen Staates Israel der palästinensischen Bevölkerung auferlegte […]“ (S. 313) Im nachfolgenden Kapitel In die Vergangenheit und zurück – meine Wege und Umwege bietet der Autor Einblick in seine Vita und in seine wissenschaftliche Arbeit, die mit seinen Lebenserfahrungen rng verwoben ist. Das letzte Kapitel Erzählen, was war, um die Zukunft zu bauen enthält Schlussüberlegungen, deren Inhalt man an den Überschriften der Abschnitte ablesen kann: Herkunft und Vergessen, Tilgung und Erinnerung, Buczacz – Die Heimatstadt meiner Mutter, Asch-Schaicb Muwannh – Ort meiner Kindheit, Vergangenheit neu erzählen.

Am Ende des Buches findet sich ein Anhang, in dem der Autor zunächst all jenen Verlagen und Zeitschriften Dank ausspricht, die die Zusage dafür erteilten, dass früher bei ihnen Veröffentlichtes im Buch publiziert werden darf. Es folgen das Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen, eine Auswahlbibliografie, das über 60 Seiten lange Verzeichnis der Anmerkungen sowie ein detailliertes gemischtes Personen- und Sachregister.

Die deutsche Ausgabe des Buches ist im Unterschied zum englischen Original nach dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Massakers der Hamas, erschienen – aber noch vor dem israelisch-iranischen Krieg vom Juni 2025. Der Autor nimmt im Vorwort zur deutschen Ausgabe Stellung zum noch immer anhaltenden neusten Gaza-Krieg und zur Diskussion darüber. Er hat das auch zum Erscheinen der deutschen Angaben in zahlreichen deutschsprachigen Interviews (etwa in der ZEIT: Middelhoff und Staas 2025) getan und dafür nicht nur Zustimmung, sondern auch Kritik (z.B. in haGalil: Buser 2025) erfahren hat. Zu den kritischen Fragen, die Omer Bartov hier aufwirft, gehören auch solche an Deutschland:

„Die deutsche Debatte zu Israel hat […] einige drängende Fragen aufgeworfen, die darauf zielen, genauer zu prüfen, ob und inwieweit die in den Jahrzehnten der Holocaust-‘Bewältigung’ entwickelte deutsche Innen- und Außenpolitik revidiert werden muss. Hat beispielsweise das Insistieren darauf, dass die neuen Migranten sich die deutsche Verantwortung für vergangenes Unrecht gegen die Juden zu eigen machen, die gesellschaftlichen Integrationsanstrengungen erschwert? Und hat die Position von Ex-Bundeskanzlerin Merkel, die die vorbehaltlose Unterstützung des Staates lsrael zur deutschen Staatsräson erklärte, das Land womöglich davon abgehalten, seine Verpflichtung zur Durchsetzung des humanitären Völkerrechts zu erfüllen, das nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust eingeführt wurde?“ (S. 10–11)

Diskussion

Die beiden Hauptanliegen des Buches, so wie sie der Autor selbst sieht, wurden eingangs benannt. Mit beiden geht er Wagnisse ein, weil er bestimmte Grundüberzeugungen angreift. Indem er es unternimmt, „den Holocaust im weiteren Zusammenhang neuzeitlichen Genozids zu verstehen“ (S. 22) ruft er den Widerspruch all jener hervor, die, aus welchen Gründen auch immer, durch ein solches Unterfangen die Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit des Holocaust, ja dessen Würdigung überhaupt in Frage gestellt sehen. Und mit seinem Projekt einer Geschichtsschreibung „aus Sicht der ersten Person“ (S. 22) kann er beim Gros der Fachhistoriker(innen) nur Protest hervorrufen, stehen Berichte einzelner Beteiligter und Betroffener doch unter dem methodisch wohlbegründeten Verdacht des „Subjektivismus“.

Die Unvergleichbarkeit und Einzigartigkeit des Holocaust ist Staatsdoktrin Israels, gehört zu den Grundüberzeugungen vieler, wenn nicht der Mehrzahl des jüdischen Volkes inner- und außerhalb Israels und wird in Deutschland gleichsam als offizielle Meinung behandelt. Das Buch mag hier zu hilfreichen Verstörungen führen. Und was den Kanon der geschichtswissenschaftlichen Methodik anbelangt, so kann es als befreiend und bereichernd erlebt werden, wenn man sich einlässt auf die Wandlungen des Autors: „In methodischer Hinsicht folgt […] auf eine ‚Geschichte von unten‘ (über die Wehrmacht) eine Lokalgeschichte (über Buchczacz) und schließlich Geschichtsschreibung aus Sicht der ersten Person (über meine Generation).“ (S. 32)

Von diesen beiden Schwerpunkten abgesehen, findet sich in dem Buch Vieles, das Aufmerksamkeit erregt. Etwa zu Sigmund Freuds Vorfahren väterlicherseits. Von dessen Vater Jakob (oder Jacob) weiß man vielleicht noch, dass er im ostgalizischen Tyśmienica (heute ukrainisch: Tysmenyzja), nahe Stanislau (heute ukrainisch: Iwano-Frankiwsk), geboren wurde, meist nicht aber dass dessen Vater und Großvater aus dem rund 50 Kilometer östlich gelegenen Buczacz, der Heimatstadt von Omer Bartovs Mutter stammen.

Wer sich mit der Geschichte der Ukraine beschäftigt, erfährt hier, was in von ukrainischer Seite geschriebenen Geschichtsbüchern wie etwa dem von Yaroslav Hrytsaks (2024; Heekerens 2024b) weitgehend fehlt: Der Prozess der Bildung einer ukrainischen Nation war begleitet von scharfem Antisemitismus. Das gilt auch für den ostgalizischen Schriftsteller Iwan Franko (1856 - 1916), in der Ukraine seit der Zeit als Sowjetrepublik hoch geehrt und viel gelesen. Er schuf „eine Reihe drastischer literarischer Darstellungen von Juden als Parasiten, die im Dienste der ausbeuterischen und unterdrückerischen polnischen Gutsbesitzer das Blut aus der ukrainischen Nation saugen“ (S. 285).

Eindrücklich ist, was der Autor zur Erinnerungskultur in einzelnen Ländern zu sagen weiß. Auch wenn man es vorher schon in etwa wusste, erschreckt doch die nüchterne Bilanz Omer Bartovs: Die Erinnerung an die Millionen Jüdinnen und Juden Galiziens wird in dessen West- (heute Polen) wie seinem Ostteil (heute: Ukraine) nicht nur nicht gepflegt, sondern gar unterdrückt. Und das Gleiche gilt für die israelische Erinnerung an die Palästinenser auf dem Staatsgebiet Israels.

Die englischsprachige Originalfassung des Buches erschien noch vor dem 7. Oktober 2023 und war damals schon von großer Aktualität. Von der hat das Werk bis heute nichts verloren – im Gegenteil. Die Lektüre des Buches kann bei fast allen Leserinnen und Lesern sowohl bei der Geschichte des Holocaust wie der des Palästina-Konflikts Lücken schließen und Voreingenommenheiten beseitigen. Die Lektüre des Buches schärft das Bewusstsein dafür, was unter Genozid zu verstehen und welches Bild vom Holocaust wir uns zu machen haben. Schließlich wirft es die Frage auf, wie wirkmächtig Erinnerungen, die immer „hergestellte“ sind, wirken können.

Der jüngste Gaza-Krieg ist nicht vorbei, wenn die Waffen einmal schweigen werden. Ihn zu verstehen, ist Voraussetzung dafür, dass in Israel-Palästina Frieden auf Dauer wachsen kann. Das vorliegende Buch leistet dabei Hilfe.

Fazit

Die Lektüre des Buches ist ein Muss für alle, die sich ein vollständigeres Bild vom Holocaust als einer besonderen Form des neuzeitlichen Genozids machen wollen. Zugleich hilft es den seit Jahrzehnten bestehenden Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern als Folge des des Holocaust besser zu verstehen.

Quellenverzeichnis

Buser, Verena, 2025. Holocaustforscher als „Experten“ für den „Genozid“ in Gaza und die Dethematisierung der Hamas in der deutschen Presse [online; Zugriff am 15.08.2025]. In: haGalil vom 11.08.2025. Verfügbar unter: https://www.hagalil.com/2025/08/holocaustforscher-als-experten-fuer-den-genozid-in-gaza/

Heekerens, Hans-Peter, 2024a. So fern – so nah: Eine Lesereise nach Galizien. Berlin u.a.: LIT Verlag

Heekerens, Hans-Peter, 2024b. Rezension vom 20.11.2024 zu: Yaroslav Hrytsak, 2024. Ukraine: Biographie einer bedrängten Nation. München: C.H. Beck [online; Zugriff am 11.09.2025]. In: socialnet Rezensionen. Verlag. ISBN 978-3-406-82162-2 [Rezension bei socialnet]. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/rezensionen/32280.php

Heekerens, Hans-Peter, 2025. Rezension vom 20.05.2025 zu: Stephan Lehnstaedt, 2025. Der vergessene Widerstand: Jüdinnen und Juden im Kampf gegen den Holocaust. München: C.H. Beck [online; Zugriff am 15.08.2025]. In: socialnet Rezensionen. Verfügbar unter: https://www.socialnet.de/rezensionen/33024.php

Hrytsak, Yaroslav, 2024. Ukraine: Biographie einer bedrängten Nation. München: C.H. Beck Verlag

Lehnstaedt, Stephan,: Der vergessene Widerstand: Jüdinnen und Juden im Kampf gegen den Holocaust. München: C.H. Beck

Middelhoff, Paul und Christian Staas, 2025. Interview mit Omer Bartov [online; Zugriff am 15.08.2025]. In: DIE ZEIT vom 27.06.2025. Verfügbar unter: https://www.zeit.de/2025/25/omer-bartov-benjamin-netanjahu-nahostkonflikt-kritiker-instrumentalisierung-holocaust/komplettansicht

Rezension von
Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Heekerens
Hochschullehrer i.R. für Sozialarbeit/Sozialpädagogik und Pädagogik an der Hochschule München
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Es gibt 187 Rezensionen von Hans-Peter Heekerens.

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ISSN 2190-9245