Jessica Hamed: Psychische Belastungen in der Vorbereitung auf das erste juristische Staatsexamen
Rezensiert von Prof. Dr. Hartmut Kreß, 13.10.2025
Jessica Hamed: Psychische Belastungen in der Vorbereitung auf das erste juristische Staatsexamen. Eine quantitative Untersuchung in Rheinland-Pfalz mit Empfehlungen für eine Reform der juristischen Ausbildung.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2025.
336 Seiten.
ISBN 978-3-7560-1938-0.
D: 109,00 EUR,
A: 112,10 EUR.
Reihe: Schriften zur rechtswissenschaftlichen Didaktik - Band 15.
Thema
Das Buch behandelt eine wichtige Spezialfrage des Studienbetriebs an Universitäten. Es setzt sich mit der psychischen Belastung auseinander, denen Studierende der Rechtswissenschaften bei der Vorbereitung auf das Erste Juristische Staatsexamen ausgesetzt sind. Dies erfolgt mithilfe einer empirischen Untersuchung, deren Ergebnisse in dem Buch ausgewertet werden.
Autorin
Dr. Jessica Hamed ist Fachanwältin für Strafrecht, stellvertretende Direktorin des Instituts für Weltanschauungsrecht, Oberwesel, und als Lehrbeauftragte an der Hochschule Mainz tätig.
Aufbau
Der Band ist in sechs Kapitel (A bis F) aufgeteilt. Im Anschluss an eine thematische Einführung (A) informiert das zweite Buchkapitel (B) über geschichtliche Hintergründe der deutschen juristischen Ausbildung und über gegenwärtige Reformdebatten. Danach folgt als Teil C des Buches ein Forschungsbericht, der den derzeitigen Wissensstand zur psychischen Belastung von Studierenden der Rechtswissenschaft wiedergibt. Teil D des Buches präsentiert die empirische Untersuchung, die die Autorin zu Defiziten der psychischen Gesundheit von Jurastudierenden durchgeführt hat. Dabei hatte sie die Phase der Examensvorbereitung im Blick. Teil E wertet die Ergebnisse der Untersuchung systematisch aus. Dies erfolgt mit Blick auf die Debatten, die zurzeit über eine Reform des Jurastudiums geführt werden. Den Abschluss des Buches (F) bildet ein knapper Ausblick auf konkreten Handlungs- und Reformbedarf.
Inhalt
Die beiden ersten Teile des Buches (A: Einleitung, S. 21–25, B: Überblick, S. 27–62) erinnern an die Entstehung der heutigen Ausbildung von Jurist*innen im 19. Jahrhundert und lenken die Aufmerksamkeit auf die aktuellen Diskussionen zu deren Reform. Zum Ist-Zustand hebt die Autorin hervor, dass Studierende der Rechtswissenschaften ihr Studium zurzeit mit einer Staatsprüfung abschließen müssen, für die eine jahrelange intensive Vorbereitung erforderlich ist, und dass ihre Studienleistungen in die Examensnote nicht einfließen (S. 57). Bei den Debatten über eine Reform des Jurastudiums gehe es u.a. um eine Beschleunigung der Ausbildung, um eine Abschaffung der Zwischenprüfung, um Veränderungen des Benotungssystems oder um die Modalitäten der Leistungsbewertung. Abgesehen von der bundesweiten Einführung des Freiversuches – der Möglichkeit, sich frühzeitig zum Examen zu melden, wobei der Versuch im Fall des Scheiterns als nicht unternommen bewertet wird – sei jedoch kaum etwas umgesetzt worden (S. 36–52).
Ihr hauptsächliches Augenmerk richtet die Autorin auf die psychischen Belastungen von Studierenden, die durch die heutigen Rahmenbedingungen der juristischen Examensvorbereitung bedingt seien. Hierzu fehle es „weitestgehend“ (S. 55, vgl. S. 63) an Untersuchungen. Um die Lücke zu füllen, habe sie die empirische Untersuchung vorgenommen, die sie im Buchteil D vorstellt. Es handele sich um eine quantitative Querschnittsstudie, in die zwei Gruppen einbezogen worden seien: Studierende in der Endphase des Studiums bzw. in der Examensvorbereitung (Examensgruppe) sowie eine Kontrollgruppe, nämlich ehemalige Studierende, die ihr Erstes Examen bereits absolviert haben (S. 60).
Bevor die Autorin ihre Querschnittsstudie genauer darstellt, berichtet sie in Teil C ihres Buches (S. 63–115) unter der Überschrift „Forschungsstand“ über vorhandene Erkenntnisse hinsichtlich der Situation, der Motivation und der Einstellungen von Studierenden der Rechtswissenschaften. Dabei greift sie bis in die 1980er Jahre zurück. Im Jahr 1986 habe in den USA eine Längsschnittstudie gezeigt, dass die juristische Ausbildung psychische Belastungen steigere. Dies gelte auch im Vergleich zu Medizinstudierenden (S. 65). Erhöhte Belastungswerte für Jurastudierende im Vergleich zu anderen Studienfächern seien ebenfalls in Australien belegt worden (S. 66). In Deutschland habe im Jahr 1996 eine Studie des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie ergeben, dass Jurastudierende angesichts der Prüfungsanforderungen sehr verunsichert seien, sich über zu hohe Arbeitsanforderungen im Studium beklagten und durch die Vergabe schlechter Noten belastet würden. Durch Letzteres werde zugleich die Funktion von Noten ausgehöhlt, Orientierung und Motivation zu vermitteln (S. 68 ff.). Besonderes Gewicht komme einer vom Fachbereich Psychologie der Universität Regensburg im Jahr 2018 initiierten Längsschnittuntersuchung zu, die die Belastung von Jurastudierenden in der Examensvorbereitung mithilfe von Untersuchungen im Magnetresonanztomografen, genetischer Analysen oder Hormonmessungen analysiert habe (S. 95 f.). Dabei sei ein medizinisch signifikanter Anstieg der Stress-, Angst- und Depressionssymptome vor der Prüfung festgestellt worden (S. 103). Andere Institutionen, etwa der Deutsche Anwaltverein, hätten sich dem Thema mithilfe von Befragungen gewidmet. Das Bündnis zur Reform der Juristischen Ausbildung e.V. habe in der Auswertung einer von ihm durchgeführten Befragung von einer bemerkenswerten Angstkultur und Anzeichen klinischer Depressionen bei Jurastudierenden gesprochen (S. 113).
Insgesamt liegen zur psychischen Gesundheit bzw. zur Gefahr psychischer Belastung von Jurastudierenden in Deutschland aus Sicht der Autorin bislang freilich noch zu wenige aussagekräftige Daten vor (S. 117). Diesem Mangel möchte sie durch die empirische Untersuchung entgegenwirken, die Teil D ihres Buches unter der Überschrift „Forschungsbericht“ wiedergibt.
In diesem Teil D (S. 117–238) entfaltet die Autorin, dass sie für ihre empirische Untersuchung einen Fragebogen mit geschlossenen, aber auch einigen halboffenen oder offenen Fragen verwendet habe. Gestützt auf die heutige Motivationspsychologie und auf andere einschlägige psychologische Konzepte (S. 120 ff.) sowie auf klinisch erprobte Testinstrumente (S. 158 ff.) sollte er die Motivation der Jurastudierenden (intrinsisch/​extrinsisch) und ihre Kontrollüberzeugung, also ihre Erwartung personinterner oder externer Verstärkung ihrer Vorhaben, und hiermit den Grad ihrer Selbstbestimmung, ihren Umgang mit Hilflosigkeit und ihre Bewertung der eigenen Fähigkeiten bzw. ihre Selbstwirksamkeit ergründen. Im Einzelnen interessierte sich der Fragebogen sodann für ihr Lernverhalten und ihre Lernzeit pro Woche, ihre soziale Absicherung, finanzielle Sorgen oder ihren Beziehungsstand, weil solche Faktoren für die Stressbewältigung und den Umgang mit Angst relevant seien.
Unter Zusicherung der Vertraulichkeit enthielt der Fragebogen überdies „validierte Instrumente zur Erhebung von Prüfungsangst, Depressivität und psychischen Belastungen“ und einen „Kurz-Persönlichkeitstest“ (S. 157). Hierbei sei zutage getreten, dass ein größerer Teil der Studienteilnehmer*innen von Prüfungsangst oder Depressivität betroffen war als es bei Vergleichsgruppen der Fall sei (S. 198 f., vgl. S. 203 f., S. 258 ff., S. 276 f.). Hinsichtlich Depression, allgemeiner psychischer Belastung und Prüfungsangst hätten sich bei Frauen höhere Werte als bei Männern gezeigt (S. 226).
Nicht zuletzt bat der Fragebogen die Jurastudierenden um eine Bewertung der juristischen Ausbildung. Mehrheitlich wünschten sie eine stärkere Praxisorientierung, eine Eingrenzung des Examensstoffs, das Einfließen von Studienleistungen in die Examensnoten und eine zeitliche Entzerrung, ein Abschichten der Prüfung (S. 190 ff., vgl. S. 257).
Im Buchteil E (S. 239–308) wertet die Autorin die Resultate der Fragebogenumfrage aus und diskutiert sie. Dabei befürwortet sie Angebote der Universität zur Stärkung der Kontrollüberzeugung, mithin des Zutrauens zu eigenem Verhalten und der Autonomie von Jurastudierenden, um psychischen Störungen entgegenzuwirken, die ihre Leistungs- und Lernfähigkeit zu beeinträchtigen drohen (S. 286). Sie unterstreicht die in der Umfrage bekundeten Wünsche der Studierenden, den Prüfungsstoff zu reduzieren, auch weil mithilfe der im Examen zurzeit „abverlangte[n] ‚repetitive[n] Höchstleistung‘ keine ‚autonome juristische Denk- und Arbeitsweise‘ demonstriert“ werden könne (S. 277). Die überbordende Stoffmenge drohe die Examenskandidat*innen zu überfordern. Um dies zu kompensieren, reiche es allerdings nicht aus, nur aufseiten der Studierenden anzusetzen und ihre subjektive Stabilität bzw. ihre „internale Kontrollüberzeugung“ zu unterstützen. Vielmehr sei strukturell anzusetzen; es bedürfe einer Korrektur in der Sache (S. 279).
Daher plädiert Hamed auf der Basis ihres Fragebogens für verschiedene Reformen, z.B. für die Abschichtung oder Aufteilung der Prüfung anstelle der psychisch sehr belastenden „Alles-oder-nichts“-Prüfung, die zurzeit blockartig am Ende des Jurastudiums steht. Zudem sei es sinnvoll, im Rahmen des Jurastudiengangs einen Bachelor-Abschluss erwerben zu können, sodass Studierende, die nicht bis zum Ersten Staatsexamen vordringen, immerhin ein Abschlussdokument besitzen (S. 283 ff.).
Zu den Stressfaktoren des Jurastudiums gehöre ferner, dass das Vertrauen der Studierenden in die Fairness der Prüfung gering sei. Diesbezüglich lasse sich durch organisatorische Maßnahmen Abhilfe schaffen. Z.B. werde die Bewertung von Examensarbeiten für die Studierenden akzeptabler, wenn – anders als es bislang zumeist üblich sei – die Zweitkorrektur einer Arbeit unabhängig von der Erstkorrektur erfolge (S. 290 f.). Ebenso könne es sich entlastend auswirken, die mündliche Prüfung des juristischen Examens nicht mehr in Form von Gruppen-, sondern von Einzelprüfungen zu organisieren (S. 303).
In einem Ausblick (Teil F des Buches, S. 309–313) hebt die Autorin nochmals ihr Anliegen hervor, dass bei den laufenden Debatten über eine Reform des Jurastudiums die hohe psychische Belastung der Studierenden in der Abschlussphase mit bedacht werden müsse (S. 309). Zu den Ergebnissen ihrer Untersuchung gehört die Feststellung, „dass ein komplexes Zusammenspiel von Kontrollüberzeugung, Motivation, psychischer Belastung, Prüfungsängstlichkeit sowie der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur besteht. Durch eine weitgehende Entschlackung des Prüfungskatalogs etwa ließe sich mutmaßlich eine enorme Entlastung für die Studierenden erzielen“ (S. 310).
Diskussion
Für ihre empirische Untersuchung der psychischen Belastung von Jurastudierenden greift die Autorin, eine Juristin, auf einschlägige psychologische Theorieansätze zurück. Ihre Studie stellt in dieser Form ein Pilotprojekt dar, das über die Rechtswissenschaften hinaus auch für andere Studiengänge, etwa die Medizin, Schule machen sollte. Denn dort fehlen, soweit ersichtlich, ebenfalls in die Tiefe gehende Untersuchungen, die sich mit psychischen Belastungen durch das Studium befassen.
Ethisch und verfassungsrechtlich stellt die psychische Gesundheit ein Schutzgut dar, das nicht nur für die Organisation der Erwerbsarbeit zu berücksichtigen ist – ein Anliegen, dem in der Bundesrepublik Deutschland inzwischen auch durch Gesetzesnormen Rechnung getragen wird. Vielmehr bedarf ebenfalls die psychische Gesundheit von Studierenden der fundierten Aufarbeitung. Rechtsphilosophisch lässt sich dieses Postulat mit der von Amartya Sen entwickelten Theorie der Befähigungsgerechtigkeit begründen. Ihr zufolge ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, Menschen in die Lage zu versetzen und sie dazu zu befähigen, ihre individuellen Lebensperspektiven so eigenständig und eigenverantwortlich wie möglich definieren und realisieren zu können.
Zu einer solchen Befähigungsgerechtigkeit sollte auch der Studienbetrieb der Universitäten seinen Beitrag leisten. Insofern ist es wohlbegründet, dass sich in den Universitäten insbesondere die Studierendenwerke vermehrt mit psychischen Belastungen von Studierenden beschäftigen und sie Beratungsangebote vorhalten, um ihre psychische Gesundheit zu stabilisieren. Interesse verdient indes die Pointe, die das vorliegende Buch zusätzlich gesetzt hat. Es fokussiert einen ganz bestimmten Einzelsachverhalt, nämlich die psychische Belastung von Studierenden der Rechtswissenschaften durch das juristische Abschlussexamen, um den psychischen Gesundheitsschutz dann gezielt in die Reformdebatte einzubringen, die zum juristischen Examen geführt wird. Für die Universitäten resultiert aus dem Schutz der psychischen Gesundheit in doppelter Hinsicht das Gebot der Verhältnisprävention. Es gilt, die Angebote zur Beratung und Psychoedukation Studierender zu stärken und auszubauen, darüber hinaus aber auch zu prüfen, ob bzw. in welcher Hinsicht Anlass besteht, die Studien- und Examensstrukturen unter dem Aspekt der Gesundheitsverträglichkeit zu reformieren. Das juristische Examen würde durch entsprechende Reformschritte nicht entwertet oder voreilig „leichter“ gemacht; vielmehr könnten seine Sachangemessenheit, Transparenz und Akzeptanz gesteigert werden.
Fazit
Am Beispiel des Jurastudiums und des juristischen Examens verdeutlicht das vorliegende Buch eine Problematik, die für den Studienbetrieb in Universitäten generell zu durchdenken ist: dass Studierende durch bestimmte Vorgaben der Studien- und Examensordnungen psychisch zu stark unter Druck gesetzt werden. Die psychische Gesundheit stellt ethisch und verfassungsrechtlich ein hohes Schutzgut dar. Es bedarf weiterer, auch interdisziplinärer Forschung, Desiderate des Schutzes der psychischen Gesundheit im Universitätsbetrieb aufzuarbeiten und strukturelle Verbesserungsvorschläge zu entwickeln.
Rezension von
Prof. Dr. Hartmut Kreß
Professor für Sozialethik an der Universität Bonn
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