Eva Matthes, Sylvia Schütze et al. (Hrsg.): Pädagogische Theorien
Rezensiert von Prof. Dr. Heiner Ullrich, 08.10.2025
Eva Matthes, Sylvia Schütze, Stefan T. Siegel (Hrsg.): Pädagogische Theorien. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2025. 323 Seiten. ISBN 978-3-8252-6494-9. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 32,50 sFr.
Thema
Es ist das Anliegen der Herausgeber*innen, Studierende und Dozierende erziehungswissenschaftlicher Studiengänge und der Lehrämter mit den „eigenen Theoriebeständen und Konzepten“ der Pädagogik vertraut zu machen, ohne dabei Theoriekonzepte anderer Sozialwissenschaften (Psychologie, Soziologie, Politik) mit einzubeziehen. Die eigenständige Theoriegeschichte der Pädagogik und die aktuellen erziehungswissenschaftlichen Konzepte gelten als die wichtigsten Grundlagen für ein reflexives Verständnis von Erziehung, Bildung, Unterricht und Beratung in den unterschiedlichen Handlungsfeldern. Der Band soll sowohl als Studienbuch und Nachschlagewerk dienen als auch als „Lektürefundament“ für Lehrveranstaltungen und für die Vorbereitung von Klausuren und Prüfungen. Für diesen Zweck beschließen kommentierte Literaturhinweise und ein ausführliches Literaturverzeichnis jeden der vierzehn Beiträge. Das Herausgeber-Team ist davon überzeugt, dass der Band „in seiner vorliegenden Form in der Erziehungswissenschaft bisher konkurrenzlos“ ist.
Autor*innen
Die Herausgeberschaft bilden Eva Matthes, Professorin für Pädagogik an der Universität Augsburg mit den Schwerpunkten Historische Bildungsforschung und Bildungstheorie, Sylvia Schütze, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Oberstufenkolleg der Universität Bielefeld mit dem Schwerpunkten Historische Bildungs- und Medienforschung, sowie Stefan T. Siegel, Dozent am Institut für Wirtschaftspädagogik der Universität St. Gallen mit den Schwerpunkten Pädagogische Theorien und Medienforschung. Die Autor*innen der jeweils ca. 20 Seiten umfassenden Beiträge dürfen durchweg als namhafte Experten für ihr Thema gelten.
Inhalt
Das breite Tableau der Beiträge ließe sich für den Leser thematisch gliedern in einen Kernbereich der pädagogischen Theorien zu Erziehung, Unterricht, Bildung, Schule und Beratung und in die den Kern umschließenden Theoriebestände zur Pädagogik der frühen Kindheit, zur Medienpädagogik, Berufspädagogik, Erwachsenenbildung, Sozialpädagogik und Organisationspädagogik; der übergreifende Schlussbeitrag behandelt erziehungswissenschaftliche Theorien in internationaler Perspektive. Die Herausgeber*innen gehen von einem „weiten Theorieverständnis“ aus, das allgemeine, intersubjektiv überprüfbare und systematisch strukturierte Aussagen umfasst, die sowohl für die erziehungswissenschaftliche Forschung als auch für die pädagogische Praxis relevant sind (vgl. Siegel & Biesta, S. 302). Der gedankliche Aufbau der allermeisten Beiträge folgt der Ideen- und Problemgeschichte des jeweiligen Begriffs bzw. Fachgebiets, was oft mit einer besonderen Akzentuierung der Klassiker verbunden ist und zu einem Übergewicht der jeweiligen Historie führen kann.
Exemplarisch für dieses historisch-systematische Vorgehen stehen die beiden ersten Kapitel zum Grundbegriff „Erziehung“. Eva Matthes entfaltet auf 23 Seiten in einem weit ausholenden geschichtlichen Rückblick die Ideenwelten der pädagogischen Klassiker von Aristoteles über Erasmus, Rousseau, Herbart und Schleiermacher bis zu Litt und Brezinka. Und Michaela Schmid stellt als maßgebende Theoretiker der gegenwärtigen Pädagogik in ähnlichem Umfang ein Spektrum von sieben Erziehungswissenschaftlern vor, das von Klaus Mollenhauer über Winfried Böhm und Klaus Prange bis zu Dietrich Benner und Arnd-Michael Nohl reicht. Der fachlich vorgebildete Leser hätte gerne gewusst, warum die Wahl gerade auf diese Repräsentanten der Pädagogik gefallen ist und nicht etwa auf Heinz-Elmar Tenorth und Werner Helsper.
Über „Unterricht“ informieren ebenfalls zwei Beiträge. Rotraud Coriand befasst sich ausführlich mit dem theoretischen Konzept des erziehenden Unterrichts bei Johann Friedrich Herbart und seinen schulpädagogischen Nachfolgern von Karl Volkmar Stoy bis zu Otto Willmann. Während die theoretischen Grundbegriffe Herbarts klar herausgearbeitet werden, gilt dies leider nicht im selben Maße für Willmann und für die ausgewählten zeitgenössischen Unterrichtstheorien von Klingberg, Sünkel und Prange. Stringent theoriebezogen ist der Beitrag von Thomas Rucker, der aus einer allgemeindidaktischen Perspektive einschlägige theoretische Positionen ausgehend von der problemgeschichtlich klassisch gewordenen Magna Didactica des Jan Amos Comenius rekonstruiert. Der Focus der Darstellung liegt auf den zeitgenössischen Ansätzen der bildungstheoretischen Didaktik Klafkis, der lehrtheoretischen Didaktik der „Berliner Schule“ um Paul Heimann sowie der konstruktivistischen Didaktik von Kersten Reich. Rucker hat in seiner Rekonstruktion der didaktischen Theorien die passende Gewichtung zwischen geschichtlichem Ursprung und gegenwärtigem Diskurs gefunden.
Es erscheint allein aus Gründen des Umfangs nicht sinnvoll, die fünfzehn Beiträge des Sammelbandes in der vorgegebenen Reihenfolge der Besprechung zu unterziehen. Stattdessen werden im Folgenden zunächst die Artikel stärker in den Blick genommen, die nicht nur durch ihren historischen Tiefgang, sondern auch durch die Qualität ihrer theoretischen Rekonstruktionen und ggf. durch ihre Forschungsorientierung überzeugen.
Diese Kriterien erfüllen Lothar Wigger und Thomas Mikhail in ihrem Beitrag über „Bildung“. Ausgehend von einer anspruchsvollen und komplexen Begriffsbestimmung differenzieren sie diese an ausgewählten Bildungstheorien aus der Philosophiegeschichte von Platon bis Hegel und aus der Pädagogik von Alfred Petzelt bis Hans-Christoph Koller.
Ähnlich lesenswert erscheint der Artikel von Oliver Hechler über „Beratung“. Von einer kulturanthropologischen Sicht auf das Phänomen ausgehend referiert Hechler in kurzen Abschnitten pädagogische Theorienansätze von Hanselmann über Bollnow, Fink und Mollenhauer bis in die Gegenwart. Er beschließt seine Ausführungen mit der Herausarbeitung von sechs Elementen einer pädagogischen Theorie der Beratung.
Der Beitrag von Eva Matthes, Sylvia Schütze und Jörg W. Link über „Schule“ stellt einen der Hauptpfeiler des Sammelbandes dar. Das Autor*innen-Team referiert in knappen, aber instruktiven Kapiteln die theoretischen Konzepte von Schule in der Neuzeit, beginnend mit Comenius, den Philanthropen und Humboldt sowie weiterführend über ausgewählte Reformpädagogen (Dewey, Petersen, Karsen) bis zu prominenten Schultheorien der Gegenwart z.B. bei Hartmut von Hentig und Helmut Fend. Bei aller Würdigung des bildungshistorischen und schultheoretischen Wissens hätte man sich auch eine stärkere Konzentration auf wenige exemplarisch ausgewählte Positionen vorstellen können.
Einen historisch und systematisch sehr überzeugenden Beitrag liefern Elmar Drieschner und Detlef Gaus über die „Pädagogik der frühen Kindheit“. Sie rekonstruieren in ihrem Text deren stufenweise Herausbildung aus ideen- und begriffsgeschichtlicher Sicht: von einer vorwiegend philosophischen und theologischen Orientierung (Fröbel und Fliedner) über entwicklungspsychologisch ausgerichtete Praxistheorien (z.B. Montessori) bis zu den stärker sozialwissenschaftlich und empirisch fundierten Erziehungs- und Bildungstheorien der Gegenwart, vom Situationsansatz bis zum Selbstbildungskonzept von Gerd Schäfer.
Der Beitrag von Elisabeth Meilhammer, Tetyana Hoggan-Kloubert und Daniel Straß über „Erwachsenenbildung“ hat die hochinformative Qualität eines Handbuchartikels, sowohl was den ideengeschichtlichen Zugang als auch die Strukturierung des aktuellen theoretischen und programmatischen Diskurses angeht. Ausgehend von einem Rückblick auf die „Neue Richtung“ der Vorkriegszeit referieren die Autor*innen dann bis heute diskutierte person-, subjekt-, demokratie- und emanzipationsorientierte Ansätze.
Karin Büchter referiert in ihrem anspruchsvollen Beitrag „Berufspädagogik“ zum einen zahlreiche normative Berufsbildungstheorien von Wilhelm von Humboldt über Eduard Spranger bis zu Herwig Blankertz und zum anderen empirisch ausgerichtete – interaktionistische, institutionelle, habitustheoretische und biographische – Theorien der beruflichen Sozialisation.
Nach einer anfänglichen Vergewisserung über die Begriffe Sozialarbeit und „Sozialpädagogik“ behandelt Nina Thieme die programmatische und theoretische Entwicklungslinie von Johann Heinrich Pestalozzi bis zu Herman Nohl, die zur Herausbildung der sozialpädagogischen Reflexion geführt hat. Der zweite Teil befasst sich dann mit den theoretischen Ansätzen der heutigen akademischen Sozialpädagogik bei Klaus Mollenhauer, Hans Thiersch und Michael Winkler. In ihrer Schlussbilanz hält sie fest, dass „die (erziehungswissenschaftliche) Theorieproduktion … fest in ‚Männerhand‘ war“ (258).
Einen klar strukturierten Überblick über die unterschiedlichen Praxis- und Forschungsfelder der „Medienpädagogik“ liefert der Text von Kerstin Mayrberger. Darin werden programmatische Konzepte und theoretische Ansätze zur Medienerziehung und -bildung sowie zur Mediendidaktik vorgestellt und mit dem eigenen Vorschlag einer konstruktivistisch fundierten partizipativen Mediendidaktik unter den Bedingungen der digitalen Transformation abgeschlossen.
Im Kapitel „Organisationspädagogik“ gibt Michael Göhlich einen Überblick über historische Vorläufer und heutige Repräsentanten des organisationspädagogischen Diskurses. Dabei erreichen seine Darlegungen nicht den historischen Tiefgang und die Prägnanz der theoretischen Rekonstruktionen in den meisten anderen Beiträgen des Bandes. Wo von Theorien die Rede ist, bleibt es oft bei der Wiedergabe von begrifflichen Rahmungen und kurzen Exkursen aufs organisationspsychologische Nachbarterrain.
Der Sammelband schließt mit einer Betrachtung über „Erziehungswissenschaftliche Theorien in internationaler Perspektive“ durch den Mitherausgeber Stefan T. Siegel und den in Großbritannien lehrenden Niederländer Gert Biesta. Der transkontinentale Blick zeigt, dass sowohl der Zuschnitt der akademischen Disziplinen als auch ihre Theorieproduktion kulturhistorische Konstrukte sind, die sich unterschiedlich entwickelt haben und nicht eins zu eins in andere Kontexte übertragbar sind. Nicht alle Grundbegriffe des deutschsprachigen Diskurses – z.B. „Bildung“ – sind kaum übersetzbar. Somit verbleibt die internationale Rezeption pädagogischer Theorien, wie sie im vorliegenden Band präsentiert werden, weitestgehend im tri-nationalen deutschsprachigen Kontext. Nur wenige Protagonisten aus der hiesigen Erziehungswissenschaft finden interkontinental Beachtung.
Diskussion
Der von Matthes, Schütze und Siegel herausgegebene Sammelband bietet den Leserinnen und Lesern aus erster Hand bedeutsames historisches und systematisches Wissen über die Grundbegriffe bzw. zentralen Handlungsfeldern der Pädagogik. In der expliziten Konzentration allein auf „pädagogische Theorien“ liegt aber nicht nur eine Stärke des Bandes, sondern auch das Risiko der Ausblendung der aktuellen Diskurse über Erziehungsprozesse und Erziehungswirklichkeit im Austausch mit den benachbarten Sozial- und Humanwissenschaften. Die Ansicht, dass sich der Band den Studierenden der Erziehungswissenschaft auch als „Lektürefundament für die Vorbereitung von Klausuren und mündlichen Prüfungen“ anbieten soll, entwertet eher die fachliche Höhenlage der allermeisten Beiträge. Sie sind vor allem für die wissenschaftliche Profession selbst geschrieben und spannen einen viel weiteren theoretischen Horizont der Pädagogik auf als die derzeit die Disziplin dominierende empirische Bildungswissenschaft.
Fazit
Mit seiner doppelten Fokussierung auf die Ideen der Klassiker der Pädagogik und auf die aktuellen Theorien in den Forschungsfeldern der Erziehungswissenschaft bereichert der Band tatsächlich „konkurrenzlos“ das bisherige Feld der Handbücher.
Rezension von
Prof. Dr. Heiner Ullrich
im Ruhestand
Institut für Erziehungswissenschaft
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
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