Johannes Lindenmeyer: Alkoholabhängigkeit
Rezensiert von Arnold Schmieder, 15.12.2006
Johannes Lindenmeyer: Alkoholabhängigkeit.
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2005.
2., überarbeitete Auflage.
124 Seiten.
ISBN 978-3-8017-1916-6.
19,95 EUR.
CH: 34,90 sFr.
Reihe: Fortschritte der Psychotherapie - Band 6.
Thema
Angesichts der Komplexität des Suchtgeschehens und der sich stellenden Forschungsaufgaben könnte man der "Versuchung unterliegen, in eine agnostizistische Haltung zu resignieren", meinte schon Feuerlein, Nestor der Alkoholismusforschung. Vor diesem Problem steht auch Lindenmeyer, ohne allerdings zu resignieren. Antons und Schulz, nicht minder prominent in der Alkoholismusforschung, zogen als Fazit aus ihrer Zusammenschau den Schluss, Theorieansätzen und Untersuchungsergebnissen zu dieser Problematik wohne immer nur eine mehr oder minder begrenzte Plausibilität inne. Allerdings sei der Alkoholismus besonders geeignet, um "modellhaft zur Darstellung eines psycho- und soziodynamischen Krankheitskonzepts beizutragen."
Seit solchen Statements ist die Halde an - zum Teil heftig konkurrierenden - Forschungsbeiträgen und theoretischen Erklärungsansätzen um einiges höher geworden, doch was therapeutischer Praxis handlungsanleitend eine eindeutige Marschrichtung vorgeben könnte, ist bislang nicht in Sicht, auch nicht aus neurobiologischem Blickwinkel. Zwar hat sich eine ihrem Selbstverständnis nach kritische Soziologie in den letzten Jahren zu Wort gemeldet, die zwar gesellschaftliche Verursachungszusammenhänge über ökonomisches Kalkül und politisch interessierte Inanspruchnahmen hinaus aufzuhellen vermag, aber summa summarum wird daraus auch nur einmal mehr deutlich, dass Alkoholismus als Symptomwahl Ausdruck eines Verzichts auf Bearbeitung lebensgeschichtlich normaler und normal-alltäglicher Belastungen ist, Mittel und Methode einer Hemmung, vorgefundene (überfordernde, unbefriedigende, krank machende) Lebensumstände und eigene Lebensbedingungen sozialkreativ zu verändern - so es denn möglich ist.
Immerhin bleibt das Desiderat einer interdisziplinären Vernetzung für die Zwecke therapeutischer Intervention, die auch je nach Katamnesezeitraum zwischen 46,4% und 74,9% (bei dingfest gemachten Alkoholabhängigen wohlgemerkt) Erfolge verbuchen kann, wiewohl Lindenmeyer einräumt, "dass keine Aussagen über die Wirksamkeit einzelner konkreter Therapiemaßnahmen möglich sind, weil es sich "um hochkomplexe Langzeittherapien mit einer Vielzahl von eklektisch-pragmatisch zusammengesetzten Komponenten aus unterschiedlichen Therapierichtungen handelt". (S. 111) Wenn's hilft, macht solch interdisziplinär zusammenschusternder Eklektizismus praktischen Sinn (wenngleich es aus kritischer Sicht ein Werkeln am Symptom bleibt und somit kaum etwas für Prävention abwirft, doch aber ersichtlich Rückfallgefahren zu bannen versteht).
Inhalt
Lindenmeyer, selbst Praktiker und Direktor einer Fachklinik, gelingt es, die Alkoholismusproblematik in all ihren relevanten Aspekten systematisch aufzufalten, und zwar in einer auch dem Uneingeweihten verständlichen Sprache. Dabei geht die Stringenz der Präsentation nicht zu Lasten von Inhalten: der Anspruch, ein Manual für die Praxis zu sein, wird ohne wesentliche Substanzverluste eingelöst.
In klassischer Weise wird zunächst die „Störung“ beschrieben, um anschließend Störungstheorien und -modelle vorzustellen; sicherlich ein wissenschaftlicher Schnelldurchgang, der aber den Zweck solider Information erfüllt. Die Kernstücke Diagnostik und Information sowie Behandlung sind mit durchaus kritischem Blick immer auf unmittelbaren Praxisbezug hin angelegt und schlagen somit einen Pfad durch das Dickicht aus diagnostischen Methoden und solchen der Behandlung. Dass der Umgang mit rückfälligen PatientInnen während und nach der Behandlung ein eigenes, gesondertes aber nicht minder gravierendes Problem ist, die Einbeziehung von Angehörigen (inzwischen) unhintergehbar ist, findet auf nur wenigen Seiten Erwähnung, wobei allerdings auf weiterführende Literatur verwiesen wird. Leider vergeblich sucht man nach Angaben über den so genannten Co-Alkoholismus, was gerade für Betroffene und freiwillige SuchtkrankenherlferInnen eine sinnvolle Handreichung hätte sein können. Eine Darstellung von Varianten der Behandlungsmethoden, Faktisches über Effektivität und Prognosen sowie ein Anhang und Karten mit sehr konkreten Verhaltensvorschlägen komplettieren die Arbeit.
Diskussion
Es mag immer noch durch das banale Alltagsbewusstsein geistern, Alkoholismus sei bloß "Krankheit des Willens", wie gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts von Benjamin Rush beschrieben. Der interessierte Laie wird hier gründlich aufgeklärt. Wenn Aufklärung auch Absicht des Autors ist, hätten vielleicht einige wenige Irritationen in der zweiten Auflage aufgehoben werden sollen. Etwa zum Problem der so genannten Alcopops liegen inzwischen Untersuchungen vor, die dieses Medienereignis und willkommenen politischen Fechtboden doch wissenschaftlich sachlich relativieren. (vgl. S.11) Gerade die eingestreuten Hinweise auf sekundäre Alkoholabhängigkeit (S. 15 et pass.) legen zumindest kursorische Aufnahme auch soziologischer Forschungsergebnisse nahe, zumal der Verfasser im Vorwort eine "Vorrangigkeit von gezielten Maßnahmen zur Förderung von Teilhabe am Arbeitsleben und gesellschaftlichen Leben" betont und erkennt, dass Psychotherapie "nur im Zusammenwirken eines interdisziplinären Behandlungsansatzes erfolgreich sein kann." Soziale und psychosoziale Deprivationen wären so mit (u.a.) dem neurobiologischen Modell zusammen zu denken, demnach "ein genetischer oder durch anhaltenden Alkoholkonsum erworbener Defekt verschiedener Transmittersysteme (u.a. dopaminerges und serotonerges System; endogene Endorphine) in einer mangelden Selbstaktivierung des Belohnungssystems seinen Niederschlag findet" (S. 31) - was immer auch äußere Stimuli impliziert. Wenn Problemanalyse zentraler Bestandteil der Behandlung sein soll, gilt es auch hier, den Blickwinkel für Optimierung des therapeutischen Ziels zu erweitern. Dabei dürfte allerdings eine "Expositionsübung in vivo" (S. 90), d.h. eine Konfrontation mit Alkohol im natürlichen Umfeld des Patienten bei realer Möglichkeit, tatsächlich Alkohol zu trinken, bei den meisten Vertretern von Helfergemeinschaften und Selbsthilfegruppen auf Skepsis stoßen, wenngleich es sich auch dabei immer noch um eine „Laborsituation“ handelt.
Fazit
Doch solche Einrede gegenüber lässlichen akademischen Stolpersteinen ist nur marginal: Der Autor überzeugt, indem er Theorie, empirische Befunde und Praxis plausibel zusammenbringt und so seinen Anspruch einlöst, ein "Behandlungsmanual" für Suchtbehandler vorzulegen, eine im besten Sinne solide Handreichung und wohltuend angesichts der vielen publizistischen Aschrams zum Thema.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 15.12.2006 zu:
Johannes Lindenmeyer: Alkoholabhängigkeit. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2005. 2., überarbeitete Auflage.
ISBN 978-3-8017-1916-6.
Reihe: Fortschritte der Psychotherapie - Band 6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3361.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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