Thomas Nagel: Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt
Rezensiert von Dr. Antje Flade, 20.10.2025
Thomas Nagel: Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2024. 111 Seiten. ISBN 978-3-518-58828-4. D: 23,00 EUR, A: 23,70 EUR, CH: 32,90 sFr.
Thema
Das Buch enthält zwei Aufsätze, die sich mit der Frage der moralischen Erkenntnis und dem Konzept der moralischen Wahrheiten und deren Zugänglichkeit befassen. Einander gegenübergestellt werden der Utilitarismus und die deontologische Ethik als Ansätze, um zu bewerten, ob eine Handlung gut und richtig oder schlecht und falsch ist.
Autor
Thomas Nagel ist emeritierter Professor für Philosophie und Recht an der New York University.
Inhalt
Zum ersten Aufsatz
In dem Aufsatz: „Bauchgefühle und moralisches Wissen“, weist der Autor auf den Unterschied zwischen einer (natur-)wissenschaftlichen und einer moralischen Argumentation hin. In der Wissenschaft geht es um das Auffinden von Kausalitäten, im moralischen Urteilen um die Bewertung, ob etwas gut oder schlecht, richtig oder falsch ist. Moralische Wahrheiten liefern einen Maßstab, um Handlungen danach zu beurteilen, ob sie gut oder schlecht sind. Diese Wahrheiten sind indessen nur wirksam, wenn sie den Menschen zugänglich sind. Inwieweit das der Fall ist, hängt von historischen Entwicklungen ab.
Was die moralische Erkenntnis betrifft, gibt es zwei Positionen: den Konsequentialismus und dessen bekannteste Version, den Utilitarismus, sowie die deontologische Ethik. Im ersten Fall sind für die Bewertung von Handlungen deren Konsequenzen ausschlaggebend, die zu guten oder schlechten Ergebnissen führen. Danach ist es z.B. gerechtfertigt zu lügen, wenn dadurch viele Menschen gerettet werden. Im zweiten Fall hängt die Bewertung, ob eine Handlung gut oder böse ist, von internalisierten Werten und Pflichten ab. Richtschnur des Handelns können sowohl die Konsequenzen als auch die deontologische Ethik sein. Die Frage ist, was jeweils für oder gegen die beiden Positionen spricht, denn: „Beide Seiten sind praktikable moralische Auffassungen“ (S. 32 f.). Konsequentialistische Werturteile sind leichter nachvollziehbar. Mit dem Argument der Unverletzlichkeit des Individuums, das für die Unverletzlichkeit von allen Menschen steht, plädiert der Autor für die deontologische Ethik.
Zum zweiten Aufsatz
In dem Aufsatz: „Moralische Wirklichkeit und moralischer Fortschritt“, stellt der Autor zu Beginn die Frage, welche Art des Denkens über den moralischen Fortschritt richtig ist. In den Naturwissenschaften besteht der wissenschaftliche Fortschritt in der Auffindung von Wahrheiten, die schon immer wahr gewesen sind. Die moralisch richtige Position muss indessen durch Gründe gestützt werden. Die Wahrheit einer moralischen Aussage meint, dass es für den Menschen einen Grund gibt, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, und dass dieser Grund zugänglich ist. Gründe sind Gründe für Menschen, in einer bestimmten Weise zu handeln; getrennt von ihnen existieren sie nicht.
Moralische Wahrheiten sind nicht zeitlos, denn inwieweit sie zugänglich sind, hängt von historischen Entwicklungen ab. Ein Fortschritt ist, sie zugänglich zu machen. Beispiele für moralischen Fortschritt sind die Abschaffung der Sklaverei, die Ersetzung der Aristokratie durch Demokratie, die Zunahme religiöser Toleranz und Meinungsfreiheit, die Emanzipation von Frauen, der Tierschutz usw. Moralischer Fortschritt manifestiert sich in der Anerkennung von etwas, was die ganze Zeit über wahr gewesen war.
Die Zugänglichkeit zur moralischen Wahrheit ist nicht immer gegeben, wie der Autor am Beispiel der Sklaverei im antiken Griechenland zeigt. Sklaverei wurde für notwendig gehalten; der Gedanke, dass Sklaverei ungerecht ist, war nicht allgemein zugänglich. Sofern er es z.B. bei Aristoteles war, folgte eine Rechtfertigung in Form der Begründung, dass manche Menschen von Natur aus unfähig seien, über sich selbst zu bestimmen.
Zweifellos hat die menschliche Moral eine Geschichte. So sind die evolutionären Ursprünge der menschlichen Moral empirisch belegt. Kognitive Fähigkeiten sind erforderlich, um normative Grundsätze zu verstehen. Diese kognitiven Fähigkeiten sind schon bei Kindern vorhanden. Der moralische Fortschritt bezieht sich insbesondere auf das Verhältnis zwischen dem Individuum und der kollektiven Macht des Staates. Die Grundfrage ist hier: „Welche Beschränkungen der Macht des Staates über das Individuum müssen in der Grundverfasstheit des Staates enthalten sein, damit diese Individuen in der Lage sind, die mit Zwangsgewalt ausgestattete Autorität des Staates über sie als legitim zu betrachten?“ (S. 92). Ein zweiter Punkt, den moralischen Fortschritt betreffend, geht über die Vorstellung von Volkssouveränität hinaus, indem es jetzt um die Anerkennung der Verantwortung des Staates für die gerechte Verteilung sozialer und wirtschaftlicher Vorteile geht. Ein dritter Punkt ist die Benachteiligung von Frauen in manchen Gesellschaften und die sexuelle Belästigung von Frauen durch Männer. Der moralische Fortschritt liegt hier auf der Hand. Die Frage, was Gerechtigkeit in den Beziehungen zwischen souveränen Staaten ausmacht, ist ein weiteres Thema, das Nagel aus der Perspektive des moralischen Fortschritts betrachtet. Diskussionspunkte sind hier insbesondere die wirtschaftliche und informationelle Globalisierung und die Migration. Die Globalisierung der Gerechtigkeit kollidiert mit der Überzeugung, dass jede Nation das Recht hat, den Interessen der eigenen Bürger Vorrang einzuräumen. Es ist eine offene Frage, wie auf den wachsenden Druck globaler Notlagen reagiert werden sollte. Wie Nagel meint, muss die Antwort erst noch gefunden werden. Diese wird die Form eines moralischen Fortschritts erfordern, die eine Erweiterung der Moral darstellt und nicht lediglich eine Anerkennung dessen, was die ganze Zeit schon wahr gewesen ist.
Diskussion
Von einem moralischen Fortschritt ist die Rede. Auf die Möglichkeit eines moralischen Niedergangs geht der Autor nur in einer Fußnote ein, denn die moralischen Wahrheiten würden auch in einer solchen Situation nicht verloren gehen. Sie wären nur nicht zugänglich. Damit wäre die Frage, wie diese Zugänglichkeit hergestellt werden kann. Doch dazu heißt es, dass die Antwort erst noch gefunden werden muss. Die enorme Ungleichheit im internationalen Vergleich zeigt unmissverständlich, dass die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit utopisch ist. Auf die Frage nach einer grundsätzlichen Gerechtigkeit haben wir, wie der Autor einräumt, keine überzeugende Antwort. Die Rede von einem moralischen Fortschritt ist so gesehen euphemistisch. Kriege, eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, eine strikte Benachteiligung von Frauen in einigen Ländern sind kein Zeichen eines Fortschritts.
Im Übrigen können die moralischen Wahrheiten durchaus zugänglich sein, wie der Autor am Beispiel des Aristoteles anführt, der die Sklaverei mit dem Argument, dass die Menschen sich in ihren Fähigkeiten unterscheiden, gerechtfertigt hat. Doch auf diesen weit verbreiteten gängigen Mechanismus der Rechtfertigung unmoralischen Verhaltens geht Nagel nicht weiter ein.
Der Autor verweist auf die kognitiven Fähigkeiten von Kindern. Doch diese, darunter auch die moralischen Wahrheiten, sind nicht von vornherein gegeben, denn im Kindesalter findet eine Moralentwicklung statt, wie sie der amerikanische Entwicklungspsychologe Lawrence Kohlberg detailliert beschrieben hat. Seine Theorie der Moralentwicklung ist allgemein bekannt. Nagel scheint sie nicht zu kennen – zumindest erwähnt er sie nicht –, obwohl sie Grundlegendes zum Thema Moral liefert. Ohnehin wäre bei dem Thema Moral ein kurzer Blick in die Psychologie, der Wissenschaft vom Erleben und Verhalten, angebracht gewesen, denn zu den Konsequenzen und der Deontologie als Richtschnur menschlichen Handelns kann die Lern-, Kognitions- und Motivationspsychologie Etliches beitragen.
Fazit
Die zwei Aufsätze in dem Buch befassen sich mit dem grundlegenden Thema „Moral“. Einander gegenübergestellt werden der Utilitarismus und die deontologischen Ethik als Ansätze, um zu bewerten, ob eine Handlung gut oder schlecht, richtig oder falsch ist. Im ersten Fall ist der Blick auf die Konsequenzen des Handelns gerichtet, im zweiten Fall hängt die Bewertung einer Handlung von internalisierten Werten ab.
Rezension von
Dr. Antje Flade
Psychologin, Sachbuchautorin
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