Gesa Linnemann, Julian Löhe et al. (Hrsg.): Künstliche Intelligenz in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Emily Engelhardt, 13.10.2025
Gesa Linnemann, Julian Löhe, Beate Rottkemper (Hrsg.): Künstliche Intelligenz in der Sozialen Arbeit. Grundlagen für Theorie und Praxis. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2025. 269 Seiten. ISBN 978-3-7799-8561-7. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Thema
Der vorliegende Herausgeberband widmet sich einem Thema, das in den letzten Jahren sowohl in der Fachwelt als auch in der breiteren Öffentlichkeit stark an Bedeutung gewonnen hat: dem Einsatz Künstlicher Intelligenz (KI) in der Sozialen Arbeit. Während in Bereichen wie Wirtschaft, Medizin oder Verwaltung längst umfassende KI-gestützte Systeme etabliert sind, steht die Soziale Arbeit erst am Beginn einer breiteren Auseinandersetzung mit den Potenzialen, aber auch den Risiken dieser Technologien. Gleichwohl wird zunehmend deutlich, dass der Einfluss von KI weit über technische Aspekte hinausreicht. Er betrifft grundlegende Fragen der professionellen Identität, der Beziehungsgestaltung in sozialen Handlungsfeldern sowie ethische und rechtliche Dimensionen.
Das Buch greift diese Entwicklung auf und führt zunächst in die technologischen und begrifflichen Grundlagen der KI ein. Darauf aufbauend beleuchtet es die vielfältigen Schnittstellen zur Sozialen Arbeit: von der Kommunikation und Interaktion zwischen Menschen und intelligenten Systemen über den Einsatz in Handlungsfeldern wie Kinder- und Jugendhilfe, Beratung, Inklusion oder Altenarbeit bis hin zu Fragen des Sozialmanagements, der IT-Sicherheit und der hochschulischen Lehre. Auch normative und theoretische Perspektiven kommen zur Sprache – etwa, wie sich durch KI das Selbstverständnis der Profession und die disziplinäre Theoriebildung verändern könnten.
Vor dem Hintergrund einer noch jungen, aber rasch wachsenden Diskussion zeigt das Inhaltsverzeichnis, dass das Werk die Debatte breit auffächert: Es verknüpft technisches Wissen mit fachlichen, ethischen und rechtlichen Überlegungen und bietet so eine Grundlage für ein vertieftes Verständnis der Chancen, Herausforderungen und Implikationen, die KI für die Soziale Arbeit mit sich bringt.
Aufbau & Inhalt
Der Herausgeberband besteht aus 18 Kapiteln. Nach einem Vorwort folgt eine Einführung der Herausgeber:innen in das Thema des Bandes. Es folgen zwei Kapitel zu den Grundlagen Künstlicher Intelligenz: Beate Rottkemper führt in zentrale technische Begriffe ein und bietet eine Begriffsdefinition und -bestimmung für den Sammelband an. So werden zum Beispiel Maschinelles Lernen, Large Language Modells und Generative KI verständlich erläutert. Gesa Linnemann geht in ihrem Grundlagenbeitrag auf das Thema „Mensch-KI“-Interaktion ein. Es wird die gesellschaftliche Relevanz des Themas u.a. in einem Rückblick auf die technologischen Entwicklungen der letzten 60 Jahre diskutiert. Ebenso erfolgt ein Überblick über zentrale theoretische Konzepte, wenn KI die Rolle eines „Gesprächspartners“ einnimmt.
Jörn Dummann behandelt in seinem Beitrag die Frage, welche Bedeutung KI für die Disziplin und Profession der Sozialen Arbeit hat. Er zeigt auf, dass KI die Soziale Arbeit sowohl in ihrer Praxis als auch in ihren theoretischen Grundlagen beeinflusst und dabei neue Möglichkeiten eröffnet, zugleich aber eine reflektierte Auseinandersetzung mit ethischen Fragen und professionellen Werten erfordert. Er macht in seinem Beitrag deutlich, dass KI lediglich unterstützend eingesetzt werden sollte und nicht die menschliche Urteilsfähigkeit ersetzen kann. Es folgt ein Artikel von Angelika Beranek zu KI und Theorie(bildung) Sozialer Arbeit. Beranek analysiert, welche theoretischen Komponenten der Sozialen Arbeit im Zusammenhang mit Künstlicher Intelligenz von Bedeutung sind, wobei Handlungspraxis, das Verständnis des „Sozialen“ und die Zielsetzung der Sozialen Arbeit diskutiert werden. Zum Schluss wird die Überlegung aufgeworfen, ob die Soziale Arbeit im Umgang mit KI eine eigene neue Theorie benötigt.
Das Thema Künstliche Intelligenz und Ethik wird im Beitrag von Wolfgang M. Heffels thematisiert. Er erläutert, dass KI-Ethik als Technologieethik verstanden wird, die im Sozial- und Gesundheitsbereich klare Regelwerke und Community-Expertise erfordert, um Chancen und Risiken differenziert zu bewerten, ohne in Stigmatisierung oder Verklärung zu verfallen. Ihre Umsetzung vor Ort hängt dabei von Aufklärung, Qualifizierung sowie der Etablierung neuer Strukturen und Prozesse ab.
Michael Macsenaere und Monika Feist-Ortmanns skizzieren in ihrem Beitrag mögliche Anwendungsfelder von KI in der Kinder- und Jugendhilfe, von Predictive Analytics über automatisierte Dokumentation bis hin zu virtueller Beratung und administrativer Unterstützung und diskutieren die damit verbundenen Chancen und Risiken. Zur strukturierten Einführung wird ein sechsstufiges Modell vorgestellt, das Technologie, Daten, Arbeitsprozesse und Menschen in den Organisationen integriert.
Der Beitrag Künstliche Intelligenz als Gestalterin von Medienkulturen von Eik-Henning Tappe untersucht aus medienpädagogischer Perspektive, wie KI zunehmend Sozialisierung und Identitätsarbeit prägt, indem sie digitale Ausdrucks- und Partizipationsräume eröffnet, zugleich aber auch neue Abhängigkeiten und Risiken schafft. Er hebt die Bedeutung einer kritisch-reflexiven Medienpädagogik vor, die Nutzer:innen befähigt, algorithmische Prozesse zu verstehen und ihre gesellschaftliche Wirkung aktiv mitzugestalten.
Robert Lehmann diskutiert in seinem Beitrag Künstliche Intelligenz in der Beratung. Er untersucht, wie Künstliche Intelligenz zunehmend in der psychosozialen Beratung Anwendung findet und welche Veränderungen dies für die professionelle Praxis mit sich bringt. Hierbei geht er von schriftbasierten Reflexionshilfen über die simulationsgestützte Ausbildung bis hin zur Unterstützung komplexer Einschätzungen aus. Zugleich wird die Notwendigkeit einer ethisch fundierten Integration von KI hervorgehoben, um Chancen wie bessere Zugänge für Ratsuchende verantwortungsvoll zu nutzen.
Das Thema Künstliche Intelligenz und Inklusion wird von Olivier Steiner vorgestellt. In seinem Beitrag geht es um Chancen, Herausforderungen und Risiken die der Einsatz von Künstlicher Intelligenz für die Inklusion benachteiligter Gruppen mit sich bringt. Hierfür wird ein kritisches Verständnis von Inklusion als Grundlage für die Bewertung von KI-Anwendungen entwickelt. Auf dieser Grundlage werden verschiedene Analyseebenen unterschieden und Empfehlungen formuliert, wie KI-Technologien inklusiv, sozial verantwortlich und praxisnah gestaltet werden können.
Eine Einführung in das Thema KI und Alter gibt der Beitrag von Anna Schlomann. Er untersucht, welche Chancen und Herausforderungen Künstliche Intelligenz für ältere Menschen vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, mit sich bringt, und nutzt Alters- und Kohorteneffekte als Rahmen, um Unterschiede in Nutzung, Akzeptanz und Integration neuer Technologien zu erklären. Anhand von Beispielen aus den Bereichen Wohnen, Mobilität, soziale Teilhabe sowie Gesundheit und Pflege werden Potenziale und Risiken wie digitale Spaltung, Datenschutzfragen und Altersdiskriminierung diskutiert, ergänzt durch Einblicke aus dem Projekt KI-Alter.
Als einer der Mitherausgeber untersucht Julian Löhe in seinem Artikel zu Mensch, Maschine und Management den Einsatz von KI zwischen Sozialarbeit und Sozialmanagement und macht deutlich, dass sie zwar administrative Prozesse erleichtert, in fachlichen Kernaufgaben aber Risiken birgt. Er unterstreicht die Bedeutung von AI Literacy sowie von Investitionen in Infrastruktur, Schulung und Organisationskultur für einen verantwortungsvollen Einsatz.
Der Beitrag Textanalysetechniken auf Tagesdokumentationen zur Prozessassistenz von Felix Holz, Michael Fellmann, Angelina Clara Schmidt zeigt, wie in sozialen Dienstleistungsorganisationen vorhandenes Wissen aus Berichten und Dokumentationen systematisch erschlossen werden kann. Im Fokus stehen klassische Verfahren der KI und Sprachverarbeitung, die Potenziale zur Prozessunterstützung eröffnen und zugleich mehr Kontrolle über die Datennutzung ermöglichen als neuere Ansätze.
Im Beitrag Aktennotizerstellung in der Sozialen Arbeit durch Künstliche Intelligenz von Christina Plafky, Mitra Purandare, Benjamin Plattner, Svitlana Hrytsai wird eine datenschutzkonforme Anwendung vorgestellt, die Sprachaufnahmen mithilfe von Speech-to-Text und Large Language Models in strukturierte Aktennotizen überträgt. Die Ergebnisse des im Artikel vorgestellen Forschungsprojektes zeigen ein hohes Potenzial für die Praxis, zugleich aber auch Grenzen durch mögliche Fehler und den Bedarf an fachlicher Kontrolle.
Jan Pelzl führt in seinem Beitrag zu IT-Sicherheit und Datenschutz im Kontext von KI-Sprachmodellen in grundlegende Aspekte von Daten- und IT-Sicherheit ein und diskutiert Chancen, Risiken und Schutzmaßnahmen beim Einsatz von KI-Sprachmodellen. Er zeigt, wie Verfahren des datenschutzfreundlichen maschinellen Lernens und etablierte IT-Sicherheitskonzepte genutzt werden können, um Privatsphäre und Autonomie auch im Kontext von KI-Anwendungen zu wahren.
Einen Überblick über die rechtlichen Vorgaben des EU-AI-Acts für den Einsatz von KI in der Sozialen Arbeit gibt der Beitrag von Sebastian Dötterl. Er erläutert den risikobasierten Ansatz der Verordnung, zeigt Anforderungen für verschiedene Anwendungsszenarien auf und bietet praxisnahe Handlungsempfehlungen für einen rechtssicheren Umgang mit Künstlicher Intelligenz in diesem Kontext.
Welche Rolle Künstliche Intelligenz in der Lehre der Sozialen Arbeit spielt, behandeln anschließend Edeltraud Botzum, Madeleine Dörr, Andrea Gergen, Florian Müller. Sie diskutieren hierzu didaktische, ethische und hochschulpolitische Fragen rund um den Einsatz von KI in Studium und Lehre. Am Beispiel des Projekts digi.peer wird gezeigt, wie KI-gestützte Tools beim wissenschaftlichen Schreiben unterstützen können.
Die Herausgeber Gesa Linnemann, Julian Löhe und Beate Rottkemper skizzieren im letzten Beitrag des Bandes Künstliche Intelligenz und Soziale Arbeit: Ausblick und Perspektiven die tiefgreifenden Veränderungen, die KI für Gesellschaft, Interaktionen und professionelle Praxis mit sich bringt. Sie weisen darauf hin, dass KI nicht neutral ist, sondern soziale Ungleichheiten verstärken kann, und heben daher Kompetenzaufbau, kritische Reflexion, Partizipation an Technikgestaltung und verantwortungsvolle Nutzung als zentrale Voraussetzungen für eine menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit hervor.
Diskussion
Der Sammelband überzeugt zunächst durch seine Themenbreite. Nach einer fundierten Einführung in technische und theoretische Grundlagen werden zentrale Praxisfelder, ethische Fragen, rechtliche Rahmenbedingungen sowie didaktische Aspekte aufgegriffen. Diese Vielfalt ermöglicht es, das Thema Künstliche Intelligenz aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und sowohl den wissenschaftlichen Diskurs als auch die berufspraktische Ebene einzubeziehen. Besonders hervorzuheben ist die interdisziplinäre Zusammensetzung der Beiträge, die technische Expertise, medienpädagogische Perspektiven, sozialarbeitswissenschaftliche Analysen und rechtliche Einschätzungen miteinander verbindet.
Über die einzelnen Kapitel hinweg lassen sich verschiedene Querschnittsthemen erkennen. Fast alle Beiträge thematisieren die Chancen und Risiken des KI-Einsatzes, wobei der Aufbau fachlicher Kompetenzen (AI Literacy), Fragen des Datenschutzes und der IT-Sicherheit sowie die Wahrung professioneller Werte immer wieder betont werden. Der Band unterstreicht damit die Bedeutsamkeit einer reflektierten Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz im Kontext Sozialer Arbeit sowie deren verantwortungsvollen Einsatz.
Zugleich treten typische Spannungsfelder klar hervor. Einerseits wird das große Potenzial von KI sichtbar, etwa für effizientere Arbeitsprozesse, verbesserte Zugänge oder neue Formen digitaler Partizipation. Andererseits wird deutlich, dass eine unkritische Implementierung die professionelle Urteilsfähigkeit gefährden, soziale Ungleichheiten verstärken und ethische Standards unterlaufen könnte.
Die Stärke des Bandes liegt darin, Grundlagenwissen mit anwendungsbezogenen Studien und Projekten zu verbinden. Praxisbeispiele wie KI-Alter, digi.peer oder die Entwicklung von Tools zur Notizerstellung machen deutlich, wie konkrete Einsatzmöglichkeiten bereits heute aussehen und wo deren Grenzen liegen. Gleichzeitig bieten theoretische Beiträge Orientierung, indem sie Konzepte wie Inklusion, Medienkulturen oder Theorieentwicklung in den Blick nehmen. Der Band liefert sowohl praktische Impulse als auch theoretische Reflexionsangebote.
Trotz seiner thematischen Breite bleiben einige Aspekte unerwähnt oder werden nur am Rande behandelt. So fehlen eine stärkere Einbindung der Stimmen von Adressat:innen wie auch intersektionale Aspekte in Hinblick auf KI in der Sozialen Arbeit. Auch Fragen partizipativer Technikgestaltung sowie ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen hätten vertieft werden können. Der Band beleuchtet rechtliche Aspekte vor allem über den EU AI Act, doch weiterführende Fragen der nationalen Umsetzung, Finanzierung, sozialrechtlichen Einbettung, Haftung und Partizipation bleiben weitgehend offen. Dabei wären gerade diese Punkte für die Praxis Sozialer Arbeit von zentraler Bedeutung. Damit eröffnet der Band wichtige Grundlagen, zeigt aber zugleich auf, wo künftige Forschung und Debatten ansetzen sollten. Hier muss man jedoch auch anmerken, dass diese Punkte den Sammelband weitaus umfangreicher gemacht hätten. Bei den dynamischen Entwicklungen in diesem Themenfeld wird eine 2. Auflage sicherlich weitere/neue Aspekte aufgreifen.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie die inhaltliche Vielfalt stärker miteinander verbunden werden könnte. Denn auch wenn die Themenbreite eine große Stärke ist, stehen die Beiträge teilweise eher unverbunden nebeneinander. Eine stärkere Vernetzung oder gemeinsame Klammer zwischen Theorie- und Praxisbeiträgen hätte den roten Faden noch deutlicher hervortreten lassen, was sich auch durch eine klarere Gliederung der Themenbereiche bereits im Inhaltsverzeichnis konkreter hätte abbilden lassen können.
Besonders erfreulich ist, dass der Band im Open Access erschienen ist und somit kostenfrei vor allem auch Studierenden zur Verfügung steht.
Fazit
Insgesamt legt der Band eine sehr fundierte und zugleich praxisnahe Grundlage für die Auseinandersetzung mit Künstlicher Intelligenz in der Sozialen Arbeit. Er verbindet technische, ethische und rechtliche Grundlagen mit konkreten Praxisbeispielen und eröffnet damit wertvolle Orientierungen für Fachkräfte, Studierende und Forschende. Gerade durch seine thematische Breite bietet er zahlreiche Anknüpfungspunkte für die weitere Diskussion und macht deutlich, wie wichtig eine reflektierte Gestaltung von KI im sozialen Kontext ist. Der Band ist damit uneingeschränkt zu empfehlen für alle, die sich fundiert mit den Chancen und Herausforderungen von KI in der Sozialen Arbeit auseinandersetzen möchten.
Rezension von
Prof. Emily Engelhardt
Professorin für Digitale Transformation in Sozialen Handlungsfeldern und Gesellschaft an der Hochschule München
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