Jessy Wellmer: Die neue Entfremdung
Rezensiert von Dr. phil. Rita Zellerhoff, 04.11.2025
Jessy Wellmer: Die neue Entfremdung. Warum Ost- und Westdeutschland auseinanderdriften und was wir dagegen tun können. Verlag Kiepenheuer & Witsch (Köln) 2024. 255 Seiten. ISBN 978-3-462-00531-8. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Thema
Sensibilisierung für die Notwendigkeit des beidseitigen Zueinanderfindens von Ost- und Westdeutschen
Autorin
Jessy Wellmer ist eine ARD-Hauptmoderatorin, die zunächst federführend in der Sportberichtserstattung war, zum Beispiel als Hauptmoderatorin bei den olympischen Spielen. Wegen ihrer neuen Aufgabe als Hauptmoderatorin bei den Tagethemen hat sie diese Tätigkeit aufgegeben. Ein Schwerpunkt ihres Wirkens liegt nun in der Motivation von Menschen, sich über ihre Sorgen auszutauschen. Hierzu hat sie eine Talkrunde im Landesfunkhaus in Mecklenburg-Vorpommern etabliert. In Schwerin mobilisierte sie die Menschen, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Die Beiträge der Bürgerinnen und Bürger wurden aufgezeichnet. Die Sendung ist noch bis zum 01.10. 2027 abrufbar.
Entstehungshintergrund
Die Erstarkung rechtsextremistischer Parteien und die unterschiedliche Bewertung des Krieges in der Ukraine
Aufbau
Das Buch umfasst 255 Seiten. Nach dem Vorwort folgen zwölf Kapitel und ein Quellen- und ein Literaturverzeichnis
Inhalt
Wellmer bezeichnet sich selbst als Wendekind. Sie hatte eine glückliche Kindheit in der DDR. Als Jugendliche wuchs sie im wiedervereinten Deutschland auf und blieb von Repressalien, wie der Erziehung zu einer sozialistischen Persönlichkeit durch eine paramilitärische Dressur verschont. Nach der Öffnung der Mauer hat sie, wie ein Viertel der Anwohner, ihre Heimat verlassen und ist zum Studium nach Berlin gezogen. Dort ist nun ihr Lebensmittelpunkt mit Ihrem westdeutschen Mann und ihren Kindern. Sie hat, als eine der wenigen Kollegen aus dem Osten, eine veritable Position als ARD-Moderatorin inne. Die große Anzahl von Ostfrauen musste sich, wie auch die Autorin, am Aufbau Ost nicht mehr beteiligen. Die Verbleibenden haben es schmerzhaft erlebt, dass ihre Lebensleistung nicht gebührend honoriert wurde. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hegt Wellmer das Gefühl, dass sich die Kluft zwischen Ost- und Westdeutschland wieder verbreitert. Sogenannte Experten aus dem Westen kamen, die in Universitäten und Redaktionen angestammte Menschen verdrängten. Während ein Drittel der Bevölkerung im Osten lebt, sind die Beförderungsstellen dort nur einstellig.
Wellmer erwähnt einen möglichen Grund für die Diskrepanz zwischen den Spitzenforschern aus Ost- und West. Der Unterschied kann auch daran liegen, dass in der DDR nur ca. 15 Prozent der Schüler zum Abitur zugelassen wurden. Ob bei dieser Zulassung auch das Parteibuch der Eltern eine positive Rolle spielte, ist nicht auszuschließen. Die Limitierung ermöglichte jedenfalls eine geringere Chance für kluge Köpfe die Gesellschaft voranzubringen. Es besteht möglicherweise ein Zusammenhang mit einer unzureichenden Finanzierung. Meine Freundin von der Universität Halle hat bei ihrer Bewerbung in Erfurt zwar den ersten Platz errungen, aber dann erfahren, dass die Stelle mangels erforderlichen Honorars nicht besetzt werde. Nach dem Mauerfall kam sie mit Studierenden zur Hospitation in die Abteilung für Sprachheilpädagogik der Universität zu Köln und lud mich nach Halle ein, um mit ihren Studierenden ein Seminar zu halten.
Ein weiterer Nachteil lag offenbar in der maroden Infrastruktur. Die Autorin benennt dies am Beispiel des Telefonnetzes, denn 1990 habe es in der DDR nur 1,8 Millionen Telefone gegeben. Auf Verbindungen ins Ausland habe man damals bis zu zehn Stunden warten müssen. Die Häuser aus der Vorkriegszeit seien zerstört gewesen oder nur noch notdürftig repariert. Als ich Anfang Oktober dieses Jahres in Dresden war, zeigte mir ein Taxifahrer ein mehrstöckiges Haus, das schon zum Abriss freigegeben worden war, aber von einem Investor wieder restauriert worden sei.
Die Neugestaltung des Rechtswesens erforderte zwingend den Einsatz westdeutscher Juristen, die halfen, Schandurteile aufzuklären. Wellmer gibt zu bedenken, dass Juristen dies als Chance genutzt hätten, eine Anstellung zu bekommen. Diese „zweite Garnitur“ aus dem Westen habe auf Jahre Stellen besetzt.
Die Ausbürgerung von Wolf Biermann habe massenhaft viele ehrgeizige junge Ostdeutsche bewogen, die DDR zu verlassen. Wellmer zitiert Carsten Schneider, den Ostbeauftragten der Bundesregierung: „Mehr Ostdeutsche in Führungspositionen!“ Seine Recherche habe ergeben, dass es ein Ungleichgewicht selbst in der Regierung gebe. Er sieht die Ursache in den westdeutsch geprägten Rekrutierungsstrukturen. Wellmer bemängelt, dass ein Bericht über Schneiders Erkenntnisse es zwar in die „ZEIT im Osten“ geschafft habe, aber nicht in die bundesdeutsche Gesamtausgabe.
Wellmer betont, dass der Osten diverser sei als angenommen. Die Menschen hätten zwar viele Sorgen, würden aber entschlossen nach Lösungen suchen. Die Grundstimmung sei oft gut genug. Die „Das bringt nüscht“-Haltung müsse aufgeweicht werden, denn Demokratie gelinge nur, wenn die Menschen mitmachten. Nur durch Abgrenzung könne keine Teilhabe entstehen. Die Lebensleistung der Menschen in Ostdeutschland müsste anerkannt werden und die Geschichte des Ostens müsste Teil der gesamtdeutschen Geschichte werden.
Diskussion
Die Entfremdung der Menschen zwischen Ost und West ist in Wellmers Buch an lebendigen Beispielen aufgezeigt worden. Ihr Anliegen, diese zu überwinden, erfordert ein wechselseitiges Aufeinanderzugehen der Menschen. Wellmer nimmt sich dieser Aufgabe an, indem sie das Bewusstsein der Bevölkerung für die Ungleichgewichte schärft. Bei der Vergabe von Stellen sehe ich Parallelen zu Praktiken der frühen Bundesrepublik, wie sie Dichgans in seinem Buch „Das Unbehagen in der Bundesrepublik“ beschrieben hat.
Ich habe noch sehr frische Eindrücke meines Besuchs in Dresden, bei dem in diesem Jahr das Fest der deutschen Einheit und das Erntedankfest nahe beieinanderlagen. Der Frauenkirchenpfarrer Markus Engelhardt spannte beim Sonntagskonzert in seiner Ansprache einen Bogen zwischen beiden Festen.
Ich habe in den drei Tagen mit vielen Menschen gesprochen, die eine positive Entwicklung des Ostens sehen. Ein Taxifahrer sagte mir: „Das war unsere letzte Chance“.
Fazit
Das Buch ist lebendig geschrieben. Es ist ermutigend für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen aus West und Ost. Es könnte die Leser anregen, sich wechselseitig zu besuchen und sich für gerechtere Chancen der Menschen in Ost und West einzusetzen.
Literatur
Dichgans, H. (1968): Das Unbehagen in der Bundesrepublik. Ist die Demokratie am Ende? Econ Verlag, Düsseldorf und Wien
Rezension von
Dr. phil. Rita Zellerhoff
Lehrerin für Sonderpädagogik mit den Förderschwerpunkten: Sprache, Lernen, Emotionale und soziale Entwicklung
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