Marcus Waselewski: Demenz in Altenpflegeheimen
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 17.05.2002

Marcus Waselewski: Demenz in Altenpflegeheimen. Studie zur Bewohnerstruktur im Hinblick auf gerontopsychiatrisch bedingte Pflegeprobleme. Schlütersche Fachmedien GmbH (Hannover) 2002. 76 Seiten. ISBN 978-3-87706-692-8. 10,90 EUR. CH: 19,00 sFr.
Zur Thematik und Vorgeschichte des Buches
In der stationären Altenhilfe in Deutschland ist seit einigen Jahren vieles in Bewegung geraten: neue Finanzierungsmodalitäten (die Pflegeversicherung), Personalmindestverordnung, Einstufungs- und Zugangskriterien, Dokumentationspflichten und Qualitätskriterien (Qualitätssicherungsgesetz) u. a. verdeutlichen das Ausmaß an Veränderungen in allen Bereichen der Pflege im Heim. Hinzu kommt die Debatte über die angemessenen Versorgungs- und Pflegestrategien für Demenzkranke in den Einrichtungen, die gegenwärtig äußerst kontrovers geführt wird.
In diesen Kontext kann das vorliegende Buch eingeordnet werden.
Der Autor ist von der Ausbildung her Diplom-Gesundheitswirt und arbeitet als Heimleiter eines Altenpflegeheimes und als Referent einer freigemeinnützigen Trägergesellschaft in Magdeburg.
Inhalt
Im ersten Kapitel "Definition und Epidemiologie" werden die verschiedenen Aspekte der Demenz kurz dargestellt: Demenztypen, Krankheitsverlauf, demographische und epidemiologische Aspekte und Risikofaktoren.
Das zweite Kapitel "Die Diagnose Demenz in medizinischer Sicht" befasst sich mit den Klassifikations- und Testverfahren im Rahmen der Demenzdiagnose: ICD 10, DSM III, Mini-Mental-Status-Test, ein strukturiertes Interview (SIDAM) und ein Pflegeerhebungs-instrument (NOSGER).
Kapitel 3 "Pflegeanamnese: Gerontopsychiatrisch bedingte Pflegeprobleme" beschreibt die
Vorbereitung und Durchführung der Studie, den Erhebungsbogen und die Auswertungskriterien (Problembereiche wie u. a. Eigen- und Fremdgefährdung, Quantifizierung demenzspezifischer Krankheitssymptome wie Weglauftendenz oder aggressives Verhalten und die damit verbundenen Pflegeprobleme).
Im 4. Kapitel "Ergebnisse der Erhebung" wird das Datenmaterial in Tabellen und Abbildungen vorgestellt: Informationen von 1042 Bewohnern aus 14 Altenhilfeeinrichtungen, überwiegend aus Sachsen-Anhalt, wurden ermittelt: Geschlecht, Alter, Pflegestufen und psychiatrische Diagnosen.
Des weiteren wurde aus der Pflegedokumentation die Häufigkeit folgender demenzspezifischer Verhaltensweisen eruiert: Weglauftendenz, Fehleinschätzung gefährlicher Situationen, unsachgemäßer Umgang, Selbstaggressivität, Aggressivität, Eindringen in fremde Räume, inadäquates An- und Ausziehen, Verstecken/Sammeln, Kotschmierereien, Urinieren und Einkoten in Wohnräume, auffälliges sexuelles Verhalten und anhaltendes Schreien.
Das 5. Kapitel enthält einen Exkurs "Zeitlicher Mehraufwand im Bereich Pflege: Konsequenz für Personalbedarf entstehende Kosten", der die Ergebnisse einer Studie aus 13 Altenhilfeeinrichtungen aus dem Jahre 1999, die vom Ansatz und der Vorgehensweise her dem Rezensenten äußerst problematisch erscheint, anführt, der zufolge Demenzkranken täglich einen Mehraufwand von 45 Minuten an Pflege und Betreuung verursachen würden.
Das 6. Kapitel "Sozialpolitische Optionen" befasst sich u. a. mit verschiedenen neueren Diskussionsvorschlägen zur Verbesserung der Versorgungsleistungen der Pflegebedürftigen und vor allem auch der Demenzkranken im Kontext der gegenwärtigen rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen.
Kritische Würdigung
Die Publikation ist vom Umfang her recht bescheiden: knapp 60 Seiten Text einschließlich teils recht Raum einnehmender Graphiken, Tabellen und Abbildungen. Entsprechend knapp und oft fragmenthaft erscheinen dem Rezensenten die Ausführungen zu den einzelnen Themenschwerpunkten: eher kurze Hinweise als vertiefende Erklärungen.
Zu den Inhalten lassen sich folgende kritischen Anmerkungen machen:
Im ersten Kapitel gilt es kritisch anzuführen, dass der Begriff "Psychodemenz" dem Rezensenten nicht bekannt ist. Der Autor meint wohl die so genannte "Pseudodemenz" bei depressiv Erkrankten. Des weiteren überrascht die Aussage (ohne Literatur- oder Quellenverweis), dass etwa 10 Prozent der Demenzkranken vom Alzheimer Typ jünger als 60 Jahre alt sein sollen.
Im dritten Kapitel befasst sich der Autor u. a. mit neueren Konzepten der Pflege, wobei er
sich eingehend mit dem Ansatz von Tom Kitwood auseinander setzt. Er übernimmt recht unreflektiert die äußerst fragwürdigen Ansichten Kitwoods bezüglich eines "neuen Paradigmas" im Umgang mit Demenzen, die nach Einschätzung des Rezensenten auf obskur-spekulativen Annahmen beruhen und somit bar jedweder wissenschaftlichen und empirischen Fundierung in der Demenzforschung und Demenzpflege sind.
Im vierten Kapitel werden die Ergebnisse seiner Erhebung zwar allgemeinverständlich dargestellt, der Autor führt jedoch den Stand der Forschung in Gestalt vieler bereits vorliegenden Untersuchungen über Krankheitssymptome Demenzkranker in den Heimen aus dem In- und Ausland nicht an. Ohne Referenzdaten anderer Erhebungen lassen sich die Ergebnisse seiner Studie jedoch nicht angemessen interpretieren und verlieren somit an Validität.
Im letzten Kapitel "Sozialpolitische Optionen" wird auf den realitätsfremden und pamphletartigen Aufruf mit der Forderung nach Einrichtung einer Heim-Enquete im Bundestag eingegangen, um anschließend die angeführten Aussagen ("totale Institution" etc.) zu relativieren und damit zu entwerten. Des weiteren folgen kritische Ausführungen über bestimmte Aspekte der Pflegeversicherung (Budgetierung u. a.) und die sattsam bekannte Forderung nach mehr finanziellen Mitteln, um den fachlich bisher noch nicht nachgewiesenen "Mehraufwand für die Betreuung von gerontopsychiatrischen Menschen" leisten zu können.
Fazit
Es bleibt das betrübliche Fazit zu ziehen, dass die vorliegende Publikation weder für die Sozialplanung in der Altenhilfe noch für die Praxis in den Heimen neue Erkenntnisse, Anregungen oder Perspektiven enthält.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 17.05.2002 zu:
Marcus Waselewski: Demenz in Altenpflegeheimen. Studie zur Bewohnerstruktur im Hinblick auf gerontopsychiatrisch bedingte Pflegeprobleme. Schlütersche Fachmedien GmbH
(Hannover) 2002.
ISBN 978-3-87706-692-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/338.php, Datum des Zugriffs 29.09.2023.
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