Wilfried Breyvogel (Hrsg.): Eine Einführung in Jugendkulturen. Veganismus und Tattoos
Rezensiert von PD Dr. Barbara Stauber, 09.10.2006
Wilfried Breyvogel (Hrsg.): Eine Einführung in Jugendkulturen. Veganismus und Tattoos.
VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2005.
261 Seiten.
ISBN 978-3-8100-3540-0.
22,90 EUR.
Reihe: Lehrbuch.
Thema
Die Betrachtung jugendkultureller Ausdrucksformen ist ein wichtiger Zugang zu jugendlichen Lebenswelten und Problemlagen. Sie hat gegenüber anderen analytischen Zugängen den Vorteil, das aktiv gestalterische Moment zu betonen, das über die schiere Bewältigung von Konflikten und Anforderungen - etwa im Übergang von der Schule in den Beruf, ganz generell jedoch im Übergang von der Jugend ins Erwachsensein - hinausgeht. Gleichzeitig liegt in dieser Umstellung der Perspektive die Gefahr der Überhöhung und Idealisierung von Subjektleistungen.
Dem vorliegenden Band gelingt diese Gratwanderung sehr gut: er anerkennt die in Jugendkulturen geleistete symbolische Arbeit, indem er sie theoretisiert, gleichzeitig kontextualisiert er die verschiedenen vertieften jugendkulturellen Strömungen sozial und historisch.
Aufbau
Das Buch besteht eigentlich aus drei Büchern: nach einem knapp 60-seitigen ersten Teil, in dem Winfried Breyvogel die Geschichte der Jugendkulturen in Deutschland nachzeichnet, folgt eine knapp 100-seitige Monographie von Thomas Schwarz zum Veganismus, und eine 70-seitige Monographe zur "Tätowierung in der Nachmoderne".
1 Geschichte der Jugendkulturen in Deutschland
Winfried Breyvogel beginnt seinen Einführungsteil mit einem sich über 2 Seiten hinweg ziehenden "Tableau der Jugendkulturen", das einen Überblick gibt über die zentralen jugendkulturellen Strömungen zwischen 1900 und 2000. Das Tableau ist theoretisch gehaltvoll, weil es unterlegt ist mit den Begriffen "Jugendkultur", "Populärkultur" und "Massenkultur", die als Skala für die Einordnung der jeweiligen Jugendkultur dienen. Leider wird diese Theorie-Fracht in langen Fußnoten gleich zu Beginn des eigentlichen Textes ausgekippt. Sie hätte sicherlich im Text einen prominenteren und passenden Ort gehabt. Überraschend ist, dass weder Veganismus noch die Tattoo-Kultur auf dem Tableau zu finden sind, eine Erklärung hierfür ergibt sich indirekt dadurch, dass Breyvogel sich auf Musik als "magisches Bindemittel" zumindest der neueren jugendkulturelle Entwicklungen konzentrieren will. So startet sein historischer Rückblick zwar bei den Wandervögeln und bei der bündischen Jugend, deren historische Rolle sehr differenziert dargestellt wird, geht dann aber sogleich über zur Rolle des amerikanischen Jazz. Für die Frage, wie dieser nach Europa kam, wird am Beispiel eines Leipziger Fans zu Beginn der frühen 30-er Jahre die Relevanz früher Fankulturen sehr gut illustriert. Über Hot Jazz und Swing geht es weiter. Um die öffentliche Wirkung der Swing-Jugend im nationalsozialistischen Deutschland deutlich zu machen, greift Breyvogel auf eine empirische Stilanalyse auf Grundlage von Beobachtungsprotokollen eines HJ-Spitzels zurück. Bebop - Cool Jazz - Country - Rhythm'n Blues - Rock'n Roll - dieser Durchgang bestätigt die These, dass Musik Transportmedium für Jugendkulturen sei. Unter der erläuterungsbedürftigen Zwischenüberschrift "Jugendliche in der Katastrophenzeit (1943-1948)" wird zunächst auf die Rolle der Edelweißpiraten eingegangen, in deren Rügegebräuchen und auf Hitler anspielenden Abkürzungen und Verschlüsselungen Breyvogel frühe Symbolisierungen einer faschistischen Jugendkultur der Nachkriegszeit sieht. Quasi am Gegenpol hierzu stehen die im Anschluss hieran beschriebenen "Hot Clubs" der Jazz-Szene. Interessant sind die folgenden Abschnitte zu den sog. Halbstarkenkrawallen der 50-er und den Rockern der 60-er und 70-er Jahre. Eine Zäsur stellt für Breyvogel die Bildungsreform der 60-er Jahre dar, in deren Folge sich das Bildungsgefüge der Jugendkulturen veränderte, auch in Form eines zunehmend internationalen Bezugs von Protestkulturen. Dies ist vor allem vor dem Hintergrund der deutschen Nachkriegskultur zu sehen: "Es waren zwei Spezifika, die die Gesellschaft der BRD von den westdeutschen Gesellschaften besonders deutlich unterschieden und die Jugendlichen die Identifikation und Integration erschwerten: ein überspannter, anachronistischer, teils pathologischer Normalitätsdruck und eine semiotische Anfälligkeit und Reizbarkeit" (ebd: 47). Mit dieser Charakterisierung im Blick nimmt Breyvogel dann eine Auswahl der Jugendkulturen vor, die er im letzten Drittel dieses Buchteils genauer diskutiert: Punks, Skinheads, Hip-Hop und Rap, House und Techno. In seinem abschließenden "Fazit" führt Breyvogel dann überraschender Weise neue Gedanken ein: zum einen zeichnet er drei Schleifen in der Musikentwicklung nach, den Übergang von Jazz zum Swing, den Übergang vom Rhythm and Blues zum Rock'n Roll, den Übergang vom Hip-Hop des DJ und MC des Ghettos zum Hip-Hop und Rap der westlichen Migrationsgesellschaften. "In dieser dritten Schleife ist das Ghetto in der Weltgesellschaft angekommen. In diesem sich dreimal wiederholenden Vorgang steckt jeweils ein Moment der Enteignung und der Aneignung im eigenen, national-lokalen Kontext" (67). Zum zweiten betont er, dass aufgrund der Brüche, die oberflächlich die Kontinuitätslinien jugendlicher Subkulturen zerstört haben, Kontinuität sich nur in Einzelbiographien rekonstruieren lässt. Hier deutet sich, ohne dass dies näher ausgeführt wird, ein Forschungsprogramm an. Zum dritten schließlich beschreibt er die zunehmende Unmöglichkeit, von jugendkulturellen Stilen Rückschlüsse auf soziale Herkunftsmilieus oder Bildungsschichten zu ziehen. Das Beispiel der schicht- und bildungsmilieuübergreifenden Popularität von Techno zeigt dies überdeutlich. Ebenso zeigt es - und hier wird das Buch fast pathetisch - dass Techno von einem "Versinken in der Mitte nicht ausgenommen (war, B.S.). Es bleibt in allem der Flug des Phoenix, in der Sonne des Erfolgs werden die schönsten Zeichen, die innigsten Versprechen zu Asche" (ebd.: 68).
2 Verganismus und Tierrechtsbewegung
Sehr unvermittelt und ohne Überleitung beginnt nun ein zweiter Teil von Thomas Schwarz zum Veganismus und zur Tierrechtsbewegung. Dieser bereitet die historischen Wurzeln dieser Bewegungen und ihre Verästelungen akribisch auf und bietet einen umfassenden Überblick zum Forschungsstand. Doch eine an Jugendkulturen interessierte Leserin muss sich durch die Hälfte der insgesamt knapp 100 Seiten durcharbeiten, bis sie auf den jugendkulturellen Zusammenhang von Veganismus stößt. Hier allerdings findet sie dann viel Interessantes zu Hard-Core und Straight-Edge, inklusive eigenen gut aufbereiteten Interviewmaterials mit jungen vegan lebenden Männer. Die Geschlechter-Perspektive bleibt trotz dieser Auswahl an Interviewpartnern außen vor. In seinem kritischen Ausblick hebt Schwarz Veganismus als Lebensstilkonzept von einer Ernährungslehre unter vielen ab. In den dann folgenden 10 Punkten findet sich eine etwas skurrile Textsortenmischung, die den persönlichen Standort des Autors sehr deutlich zu erkennen gibt, dabei immer wieder die Grenze zwischen der Wissenschaftssprache und der proklamatorischen Sprache sozialer Bewegungen überschreitet. So finden sich neben hilfreichen Begriffsklärungen szene-immanente Überlegungen, utopietheoretische Rekurse (auf Marcuse zurückgehend), Informationen zu den neuesten Entwicklungen im Bereich der Ernährungsindustrie, in denen "vegan" sich durchsetzt, und Prognosen zur Relevanz der Tierrechtsbewegung und des Veganismus bei jungen Menschen.
3 Tattooing
In der zweiten Monographie zu Tattooing von Tobias Lobstädt wird nach einer angemessen knapp gehaltenen Geschichte der Tätowierung auf im Kontext von Jugendkulturforschung zentrale theoretische Konzepte (soziale Zeichenhaftigkeit - darunter: Symbol, Ritual, Emblem, Stil -, Theatralität, Selbstdarstellung, Korporalität und Körperzeichen) Bezug genommen. Diese Konzepte werden in dem Abschnitt "Lesarten der Tätowierung in der Mediengesellschaft" aufgegriffen und genutzt. Auf 24 Seiten wird dann noch eine eigene Studie vorgestellt, die vom Autor anhand von 10 narrativen Interviews - mit sechs weiblichen, vier männlichen Befragten zwischen 17 und 28 Jahren - durchgeführt wurde. Als Auswertungskategorien wurden aus dem Material generiert: Sichtbarkeit, Inszenierung und Zeichenhaftigkeit der Tätowierung, wobei die Gruppe der Befragten nach Einzel-, Mehrfach- und Extremtätowierten unterschieden wird. Dies erlaubt einen differenzierten Blick auf/in die sehr heterogene Tattoo-Szene. Innerhalb dieser ist das besondere Merkmal der Extrem-Tätowierten, dass ihre Tätowierungen eine Verhüllung durch Kleidung ausschließen und zum gruppenkonstitutierenden Merkmal werden. Lobstädt geht es über diese Differenzierung hinaus aber um die individuellen Sinnbezüge der Tätowierten, wobei er verschiedene Zeichenklassen auffindet, die sich zumeist überschneiden: Individualitätszeichen genauso wie ästhetische Prestigesymbole, Distinktions- bzw. Zugehörigkeitszeichen (zu denen auch soziale Geschlechtszeichen gehören, was am Beispiel einer jungen Tätowierten deutlich gemacht wird) genauso wie Stigmata. Diese Dimensionen stellen sich ihm gleichzeitig als geeignete Perspektiven dar, "um die subjektiven Bedeutungsaspekte einer Tätowierung in der jeweiligen Biographie zu rekonstruieren" (ebd: 234).
Zielgruppen
Das Buch richtet sich an Studierende und Dozierende der Erziehungswissenschaften/Sozialen Arbeit, der Soziologie, sowie an Jugendkultur-Interessierte.
Fazit
Das Buch ist sehr
instruktiv. Um es wirklich mit Gewinn lesen zu können, muss man jedoch bereits
die Instrumente parat haben, wie die theoretischen Bausteine, die historischen
Informationen und die vielen Details zu den jugendkulturellen Ausprägungen zu
sortieren und anzubinden sind. Deshalb ist die Bezeichnung "Lehrbuch"
oder gar "Einführung" irreführend. Diese Bezeichnung trifft
eigentlich nur auf den ersten Teil von Wilfried Breyvogel zu. Die anderen beiden Teile sind jeweils
Monographien zu Veganismus und Tattooing, zwar sehr kenntnisreich und
detailliert geschrieben, aber für eine "Einführung in
Jugendkulturen", die auch ein Lehrbuch sein will, nicht sehr geeignet. Die
in der Monographie "Tattooing" sehr spät eingeführten theoretischen
Konzepte setzen viel Vorwissen voraus, um diese Perlen auf die Schnur zu
fädeln. Sie hätten übrigens auch schon in der Monographie zum Veganismus Sinn
gemacht, insgesamt wäre dabei eine deutlichere Betonung der
Geschlechterperspektive wünschenswert gewesen. Außerdem fehlt eine Begründung
für die Auswahl genau dieser beiden Themen, die dann als gar nicht so eindeutig
„jugendkulturelle“ präsentiert werden. Gäbe es ein Editorial, das die drei
unverbunden nebeneinander stehenden Teile zusammenbände, oder eine Hinführung
auf diese beiden Themen im ersten Teil von Breyvogel, dann würde diese Einschätzung wahrscheinlich anders
ausfallen. So aber fehlen die Verbidnungslinien. Selbst die im ersten Teil aufgestellte These, die sich noch durch
den Veganismus-Teil zieht: dass der Motor und innere Zusammenhalt von
Jugendkulturen durch Musik geleistet wird, wird im dritten Teil nicht mehr
aufgegriffen.
Rezension von
PD Dr. Barbara Stauber
Tübinger Institut für frauenpolitische Sozialforschung (TIFS) und Institut für regionale Innovation und Sozialforschung (IRIS), Tübingen. Arbeitsschwerpunkte: biographische Übergänge zwischen Jugend und Erwachsensein unter der Gender-Perspektive, Familien- und Intergenerationenbeziehungen, jugendkulturelle Selbstinszenierungen junger Frauen und Männer.
Es gibt 1 Rezension von Barbara Stauber.
Zitiervorschlag
Barbara Stauber. Rezension vom 09.10.2006 zu:
Wilfried Breyvogel (Hrsg.): Eine Einführung in Jugendkulturen. Veganismus und Tattoos. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2005.
ISBN 978-3-8100-3540-0.
Reihe: Lehrbuch.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3380.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.
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