Frank Thieme: Alter(n) in der alternden Gesellschaft
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter, 22.03.2008

Frank Thieme: Alter(n) in der alternden Gesellschaft. Eine soziologische Einführung in die Wissenschaft vom Alter(n). VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2007. 327 Seiten. ISBN 978-3-531-14563-1. 24,90 EUR.
Autor
Frank Thieme ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Ruhr-Universität Bochum.
Zielgruppe
Das vorliegende Buch ist in der Lehrbuch-Reihe des VS Verlages für Sozialwissenschaften erschienen und richtet sich nach Angaben des Verlages an Studierende und Dozierende der Soziologie, Pflege- und Gesundheitswissenschaften und der Sozialen Arbeit sowie an Personen in der Pflegeberufsausbildung. Der Autor spricht in seinem Vorwort davon, dass sich dieses Buch "an die interessierte Öffentlichkeit, ebenso an Schüler der Oberstufe von Gymnasien und Gesamtschulen sowie an Studierende in frühen Semestern an Fachhochschulen und Universitäten (richtet)" (S. 6).
Aufbau
Das Buch gliedert sich in insgesamt neun Kapitel
- Einleitung,
- Wege zur Alter(n)sforschung,
- Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft,
- Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland,
- Fitsein im Alter? Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Persönlichkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit von Senioren,
- Warum wir altern – Antworten der Naturwissenschaften,
- So leben die Alten,
- Fazit und Ausblick und
- Literaturverzeichnis.
Vorbemerkung
Das Alter und das "Altern der Gesellschaft" ist nicht erst seit heute oder gestern ein Thema, dem sich Öffentlichkeit und Wissenschaften verstärkt widmen. Zwischenzeitlich liegen eine Reihe solider empirischer Befunde, theoretischer Ansätze, aber auch wüste Spekulationen und effektheischende Berichte vor, sodass ein geordneter und einführender Blick in die Alter(n)swissenschaft(en) willkommen erscheint.
Thiemes Ansinnen ist es, der in der Öffentlichkeit und in der populärwissenschaftlichen Literatur oftmals verbreiteten Vorstellung von den "abgeschobenen", "diskriminierten" und "benachteiligten" Älteren entgegenzutreten und vom "guten Leben im Alter" zu berichten (S. 16).
Der Untertitel des Buches weist jedoch darauf hin, dass es sich hier nicht um ein bloßes Plädoyer für ein "erfolgreiches" oder "produktives Alter(n)" handelt, sondern um "(e)ine soziologische Einführung in die Wissenschaft vom Alter(n)". Das macht neugierig und lässt zugleich offen, ob wir es hier mit einer Einführung in die Soziologie des Alterns (Gerontosoziologie) oder mit einer soziologischen Einführung in die Alternswissenschaft (Gerontologie) zu tun haben.
Auch die Einleitung klärt noch nicht so recht die Stoßrichtung des Buches. Zunächst will Thieme, durchaus im Duktus des Untertitels, sein Buch als eine "soziologische Einführung in die Wissenschaft vom Alter und Altern" (S. 16) verstanden wissen. Einige Sätze später benutzt er den Plural und spricht von einer "soziologische(n) Einführung in die Wissenschaften vom Alter" (S. 17). Man darf gespannt sein auf das, was folgt, zumal der Autor in seinem Vorwort von dem "in den letzten Jahren immens gewachsene(n) Interesse der Politik an den Resultaten der Bevölkerungsforschung" (S. 5, eigene Hervorhebung) und den "zahlreiche(n) wissenschaftliche(n) Studien und Buchveröffentlichungen" spricht.
Nach Auffassung des Autors "(scheint) (e)ine zusammenfassende Darstellung, auf dem aktuellen Stand der Forschung, die ohne größere fachliche Vorkenntnisse verständlich ist, (…) gegenwärtig zu fehlen." Und er verspricht, dass "(d)iese Lücke (…) mit dem vorliegenden Buch gefüllt werden (soll)." (S. 5) Offen bleibt dabei die Frage, ob nach Auffassung des Autors die gegenwärtig vorliegenden Einführungen in die Alternssoziologie, wie z.B. die von Backes und Clemens (2003), Prahl und Schroeter (1996) oder Voges (1996), oder in die Soziale Gerontologie, wie z.B. die von Wahl und Heyl (2004), entweder so hoffnungslos veraltet oder so unverständlich geschrieben sind, um die vorgenannte These halten zu können. Zumindest sind sie für den Verfasser nicht der Erwähnung wert.
Inhalt
Die Einleitung stellt das erste Kapitel dar und stellt die weiteren Kapitel jeweils vor.
Im zweiten Kapitel (Wege zur Alter(n)sforschung) führt Thieme die Begriffe Alter und Altern ein. Im kursorischen Überblick wird zunächst die "Entdeckung des Alters" und dann die "Geschichte der Erforschung des Alters" vorgestellt. Der Autor geht zunächst der Unbestimmtheit des Altersbegriffes nach und versucht dann eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung, ehe er sich dem Themenfeld "Jugendbewegung und Jugendmythos", den "Verjüngungstechniken" sowie der "Sozialen Frage und Altersfrage" und der "Gesundheits- und Altersvorsorge" im 19. Jh. widmet. Zur Geschichte der Alterserforschung greift er zunächst auf die Anfänge in Religion, Philosophie und Literatur zurück, um dann die Frühphase der "Wissenschaft vom Alter und Altern" anzugehen. Dabei überrascht freilich, dass so grundlegende und damals innovative Ansätze wie z.B. der Generationenansatz von Karl Mannheim (1928) oder die ersten fundierten alterssoziologischen Expertisen von Rudolf Tartler (1961) keine Erwähnung finden. Auch hätte man sich hier den einen oder anderen Hinweis auf die frühe US-amerikanische Alternssoziologie gewünscht.
Das dritte Kapitel (Demographischer Wandel und alternde Gesellschaft) befasst sich ausführlich mit den Ursachen und Formen der "demographischen Alterung". Hier werden nicht nur wichtige Daten zur Bevölkerungsentwicklung und Altersstruktur (u.a. Altenquotient, Fertilitäts- und Mortalitätsraten) vorgestellt, die demographische Entwicklung wird auch als Teil des sozialen Wandels und das Altern als Folge der gesellschaftlichen Modernisierung diskutiert. Thieme beschränkt sich hier nicht auf die additive Aneinanderreihung dröger demographischer Daten, er setzt diese vielmehr in den Kontext aktueller Debatten und politischer Gestaltungsräume, wenn er z.B. über "Kosten-Nutzen-Kalküle und Kinderlosigkeit" (S. 92 f.), das "Renten-" und Arbeitskräfteproblem" (S. 104 ff.) oder über "Bevölkerungspolitik und Familienplanung" (S. 109 f.) schreibt.
Das vierte Kapitel (Die soziale Sicherung alter Menschen in Deutschland) wurde von Klaus Schaper (wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bochum) verfasst. Auf immerhin 44 Seiten wird – freilich unter alternsrelevanten Aspekten – das soziale Sicherungssystem von der Bischmark'schen Sozialgesetzgebung bis zu den aktuellen Reformen aufgezeigt. Dabei werden die grundlegenden Strukturprinzipien (Subsidiaritäts-, Sozialversicherungs- und Fürsorgeprinzip) dargestellt, der Generationenvertrag und die Debatte um Umlagefinanzierung vs. Kapitaldeckung sowie die alternsbezogenen Säulen des Sicherungssystem (Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung) diskutiert.
Das fünfte Kapitel behandelt im Wesentlichen das Thema der Gesundheit im Alter und steht unter der Überschrift: Fitsein im Alter? Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Persönlichkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit von Senioren. Thieme berichtet zunächst über die "jugendlichen Alten" und die Vorbilder der "Ausnahmealten", sodann über die späte Lebensfreunde, Alterspessimismus und Bewältigungskompetenz im Alter. Des Weiteren werden verschiedene Alltagstechniken vorgestellt, die dabei helfen, trotz körperlicher Defizite am Alltagsgeschehen teilzuhaben. An dieser Stelle werden auch die Verluste von Alltagskompetenzen sowie die Demenzen, Krankheiten und Pflegebedürftigkeit im Alter abgehandelt, wobei sich der Autor im Wesentlichen auf die Daten der Berliner Altersstudie und auf den Vierten Altenbericht bezieht.
Im sechsten und zugleich kürzesten Kapitel (Warum wir altern) geht Thieme auf die "Antworten der Naturwissenschaften" auf den Alterungsprozess ein. Dabei erfährt der Leser u.a. etwas über das Prinzip der Neotenie, den Selbst-Reparatur-Mechanismus des Immunsystems, die körpereigenen Zerstörungskräfte der Freien Radikale oder über das Auszehren der Zellen (Atropie).
Im siebenten Kapitel (So leben die Alten) wirft der Autor einen Blick auf die verschiedenen Lebenslagen älterer Menschen. Zunächst zeigt er mit dem sozialen Sicherungsnetz, dem technischen und organisatorischen Fortschritt, der Wohlstandsentwicklung und dem Jugendkult zentrale Voraussetzungen für ein "gutes Leben im Alter" auf, nicht ohne jedoch darauf hinzuweisen, dass "in den nächsten Jahren auch eine Rückkehr der Altersarmut ([z]u befürchten ist)." (S. 233). Nach einem kurzen Verweis auf die Differenzierung und den Strukturwandel des Alters werden die Alten als "Wirtschaftsfaktor" thematisiert. Es folgen Ausführungen über die Einkommens- und Vermögenssituation, über Renten und Altersarmut, Einkommensverwendung und Konsum im Alter. Auch die Themen Wohnen, Familie und Zeitgestaltung, Ehrenamt und Erwerbsarbeit im Alter bleiben nicht ausgespart.
Abgeschlossen wird das Ganze mit dem achten Kapitel (Fazit und Ausblick), in dem die zuvor verhandelten Themen noch einmal gebündelt dargestellt werden.
Diskussion
Thieme ist es gelungen, mit einer erfreulich frischen Sprache ins Thema "Alter(n)" einzuführen. Die grundlegenden Daten seiner sozialwissenschaftlichen Bezüge (vor allem im fünften und siebenten Kapitel) bezieht er zumeist aus den jüngsten Altenberichten der Bundesregierung, aus der Berliner Alterstudie sowie aus den Veröffentlichungen zum Alters-Survey. Die Ergebnisse sind durch zahlreiche (51) Tabellen und (11) Abbildungen illustriert. Die Druckqualität der Abbildungen ist jedoch eher schlecht, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass es keine vom Autor selbst erstellten, sondern aus vorhandenen Publikationen in nicht hinreichender Auflösung kopierte Abbildungen sind. Zu jedem Kapitel führt er im Literaturverzeichnis gesondert empfohlene Literatur an, wofür ihm gewiss manch ein Leser danken wird.
Das Buch hat aber auch seine Schwächen – sowohl inhaltliche als auch formale: Für eine "soziologische Einführung in die Wissenschaft vom Alter(n)" fehlen mir die soziologischen Konzepte, Modelle und Theorien, mit denen das Alter(n) und die Lebenslagen, Lebensstile und Lebensführungen älterer Menschen erklärt werden. Der Autor beschränkt sich fast ausschließlich auf die deutschsprachige Literatur (im Literaturverzeichnis finden sich nur fünf, eher beiläufig erwähnte, englischsprachige Literaturhinweise), was dazu führt, dass der heute doch fortgeschrittene Diskurs, sowohl der alternssoziologischen als auch der sozialgerontologischen Literatur, nicht in angemessenem Maße aufgegriffen wird. Zwar wird auf den alten Streit zwischen "Aktivitäts- versus Disengagementtheorie" (S. 172) verwiesen, aber andere – sowohl ältere als auch neuere – Theorievorschläge findet man kaum, obgleich hier zwischenzeitlich manches vorgelegt wurde. Vergeblich sucht man die Hinweise z.B. auf die alten strukturfunktionalen Rollen- und Subkulturtheorien, auf den interaktionistischen Etikettierungsansatz, auf den Kontinuitätsansatz, auf den Altersstratifikationsansatz, auf die Austauschtheorie, auf den Generationenansatz, auf den Lebensweltansatz oder auf die politische Ökonomie des Alters, auf die Kritische Gerontologie oder auf die verschiedenen sozialkonstruktivistischen Ansätze. Die Berücksichtigung dieser Ansätze hätte z.B. sehr schön in das Kapitel über die "Wege zur Alter(n)sforschung" gepasst. Damit hätten zugleich auch Moden und Konjunkturen in der Alter(n)sforschung aufgezeigt und zugleich auch erklärt werden können, wie sich die empirische Rekonstruktion der sozialen Wirklichkeiten im Alter letztlich über die "begriffene" Realität erschließt. Letztlich bestimmt das begriffliche Grundgerüst der (Alterns-)Theorien, was sich in der Altersberichterstattung und in der empirischen Alternsforschung ausdrücken lässt – und auch was im Dunkeln bleibt.
Unter formalem Aspekt ist sicherlich zu bekritteln, dass manche der in den Anmerkungen erwähnten Literaturhinweise nicht im Literaturverzeichnis erscheinen. Misslich sind auch einige falsch geschriebene Autorennamen, das gelegentliche Hin- und Hersspringen zwischen alter und neuer Rechtschreibregelung (z.B. "seit langem", "vor Kurzem", S. 15) sowie verschiedene und sich häufende Orthographie- und Interpunktionsfehler, die gerade in einem Lehrbuch vermieden werden sollten. Das alles wäre in einer evtl. zweiten Auflage dringlichst zu korrigieren.
Fazit
Frank Thieme hat sich mit seinem Buch "Alter(n) in der alternden Gesellschaft" der verdienstvollen Aufgabe unterzogen, "Eine soziologische Einführung in die Wissenschaft vom Alter(n)" zu verfassen. Dieses Vorhaben ist aber nur zum Teil geglückt, weil er auf soziologische Theorieexpertise verzichtet und sich weitgehend mit empirischer Berichterstattung begnügt. Auf der anderen Seite schafft er es mit seinem unprätentiösen Sprachstil, der populärwissenschaftlichen Katastrophensemantik ein adäquates Gegengewicht zu setzen. In diesem Sinne ist das Buch für die vom Autor avisierte "interessierte Öffentlichkeit" oder für die "Schüler der Oberstufe von Gymnasien und Gesamtschulen" (S. 6) allemal einer Lektüre wert. Als wissenschaftliches Lehrbuch hingegen ist es m.E. nur eingeschränkt empfehlenswert, weil eben die Theoriebezüge, aber auch internationale Vergleichsdaten fehlen.
Literatur
- Backes, Gertrud M.; Clemens, Wolfgang (2003): Lebensphase Alter. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Alternsforschung. 2. Auflage. Weinheim, München: Juventa.
- Prahl, Hans-Werner; Schroeter, Klaus R. (1996): Soziologie des Alterns. Eine Einführung. Paderborn u.a.: Schöningh (UTB).
- Voges, Wolfgang (1996): Soziologie des hohen Lebensalters. Eine Einführung in die Alternssoziologie und Altenhilfe. 4. Auflage. Augsburg: Maro.
- Wahl, Hans-Werner; Heyl, Vera (2004): Gerontologie – Einführung und Geschichte. Stuttgart: Kohlhammer.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter
Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW)
Hochschule für Soziale Arbeit,
Institut Integration und Partizipation
Professur für Altern und Soziale Arbeit
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