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Sihan Wu: Teilnahme und Freundschaft

Rezensiert von Prof. Dr. Anton Schlittmaier, 16.10.2025

Cover Sihan Wu: Teilnahme und Freundschaft ISBN 978-3-98740-213-5

Sihan Wu: Teilnahme und Freundschaft. Die Einheit der Philosophie im Denken Max Schelers. Ergon Verlag (Würzburg) 2025. 374 Seiten. ISBN 978-3-98740-213-5. D: 79,00 EUR, A: 81,30 EUR.
Reihe: Studien zur Phänomenologie und praktischen Philosophie - Band 57.

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Thema

Es geht um den deutschen Philosophen Max Scheler (1874 – 1928), der überraschend bereits mit 54 Jahren verstorben ist. Zu seinen Lebzeiten zählte er zu den bedeutendsten deutschen Denkern. Martin Heidegger (1889 – 1976) stellte über Scheler bei seinem Tod fest, dass er die stärkste philosophische Kraft nicht nur im heutigen (1928) Europa, sondern überhaupt sei. Nach Schelers Tod ging es mit seinem Ruhm – er war Halbjude – bald bergab. Der Grund für ein Vergessen Schelers lag jedoch nicht nur im Antisemitismus der Nationalsozialisten, sondern auch im Zeitgeist, der nach dem 2. Weltkrieg fortwirkte. Scheler vertrat nämlich eine Wertethik – ging also davon aus, dass Werte dem Menschen objektiv vorgegeben sind. Weiter ging er davon aus, dass der Mensch nicht nur ein körperliches und psychisches (seelisches), sondern auch ein geistiges Wesen ist. Mit dieser Auffassung war Scheler eher ein Außenseiter im Verhältnis zu Philosophen, die auf die sehr voraussetzungsreiche Annahme der Existenz eines individuellen menschlichen Geistes verzichteten.

Auch in der Psychologie und Sozialwissenschaft sowie der Sozialen Arbeit spielte Scheler weitgehend keine Rolle. Eine Ausnahme bildete hier die Logotherapie Viktor E. Frankls (1905 – 1997). Letzterer nahm vielfach explizit Bezug auf Scheler und sagte über Schelers Hauptwerk zur Ethik sinngemäß, dass es ihn wie eine Bibel über längere Zeit begleitet habe. Scheler entnahm Frankl z.B. die Annahmen über die Bedeutung der Freiheit, der Person und der Werte. Dabei sind Werte nichts, was Menschen schaffen, sondern Werte sind den Menschen jeweils vorgegeben. Krankheit entspringt vielfach einer Diskrepanz zwischen der objektiven Wertordnung und den subjektiven Wertungen (z.B., ich kümmere mich nicht darum, die Wahrheit zu sagen, sondern folge ausschließlich meinen Bedürfnis nach Wohlbefinden).

Gerade in den letzten Jahren ist das Interesse an der Logotherapie stark angestiegen. Auch die Verknüpfung zur Sozialen Arbeit wurde z.B. durch Batz (2022) systematisch hergestellt (https://www.socialnet.de/rezensionen/30219.php). Angesichts eines Übermaßes an Komplexität und Krisen ist das Bedürfnis an Wertorientierung wieder angestiegen. Die Überzeugung, dass ein Verzicht auf Werte und eine alleinige Orientierung an subjektiven Bedürfnissen die Lebenssituation der Menschheit verbessert, ist eher im Rückgang.

Im Kontext der dargestellten Sachlage ist auch Sihan Wus Buch über Scheler anzusiedeln. Dabei geht es auch darum, die Attraktivität und Modernität von Schelers Denken fühlbar zu machen. Scheler war lange auf dem Abstellgleis traditioneller Metaphysik abgeparkt. Besonders die Überzeugung, dass es feste objektive Werte gibt, wirkte verstaubt. Wu möchte durch Begriffe wie Teilnahme und Freundschaft diese Starre lockern und der Schelerschen Philosophie das Leben einhauchen, dass sie braucht, um im aktuellen Diskurs sichtbar zu sein.

Autor

Über den Autoren ist wenig zu erfahren. Dem Buch kann man entnehmen, dass es sich um eine 2024 vorgelegte Dissertation an der Rheinland-Pfälzischen TU Kaiserslautern-Landau handelt.

Entstehungshintergrund

Scheler ist vielfach als katholischer Denker bekannt. Im Zentrum seines Denkens steht die Liebe, die in der Liebe zum Absoluten (dem Göttlichen oder Transzendenten) ihren Höhepunkt findet. Diese Einordnung Schelers lässt ihn vielen als nicht mehr zeitgemäß erscheinen bzw. als ungeeignet dafür Partner in einem philosophischen Diskurs zu sein. Wu zeigt, dass es 1922 – 6 Jahre vor Schelers Tod – zu einem Bruch in Schelers Denken kam. Die Statik, die dem Werk zugrunde lag, wird durch Dynamik ersetzt und das Absolute wird als „Werde-Sein“ gezeigt. Dabei steht die Frage im Vordergrund, ob der Bruch die Existenz von zwei Philosophien anzeigt, oder ob es stattdessen eine Einheit in der Vielheit gibt. Gerade auch weil Scheler sehr viele Einzelthemen (Ethik, Wissenssoziologie, Sympathie, Anthropologie usw.) bearbeitet hat, stellt sich die Frage nach der Einheit.

Die Frage nach der Einheit geht jedoch weiter als auf den ersten Blick zu vermuten ist. Es geht nicht nur um die Einheit des Werkes von Scheler oder um die Einheit von Themen, sondern auch um die Einheit von verschiedenen Weltbildern, die Einheit des Menschen angesichts seiner Widersprüche (Gefühl und Geist) – und insbesondre um die Einheit der Welt angesichts einer nie zu leugnenden Pluralität und Heterogenität.

Gerade letztere war 1922 im katholischen Geist nicht mehr zu bewältigen und ein Neuansatz in Schelers Philosophie, der aber gleichzeitig mit seinem bisherigen Denken eine Einheit bildete, war erforderlich. Scheler ist diesen harten Weg der Konfrontation mit den Problemen gegangen. Es geht nach Wu letztlich um die Auseinandersetzung mit dem Anderen und Fremden, das nicht subsumiert werden darf, sondern in eine offene Einheit Eingang finden soll. Konkret bei Scheler berührte dies auch die Frage des Verhältnisses zwischen christlicher und asiatischer Religion, das nicht mehr einseitig entschieden werden kann, sondern in einer offenen Pluralität als eine Vielheit der Stimmen des Absoluten begriffen werden muss.

Aufbau

Das Buch verfügt über eine Einleitung, einen Teil A., einen Teil B. und ein Schlusswort.

Der Teil A. gliedert sich in Unterkapitel zu den Themen:

  • Liebe,
  • Übergang von der Liebe zur Teilnahme,
  • Genauere Bestimmung der Teilnahme, die ein Grundbegriff ist, um den Menschen als Teilnehmer an der Gesamtwirklichkeit (letztlich auch am Absoluten bzw. Göttlichen) zu begreifen,
  • Nochmalige Verdeutlichung der Einheit der Schelerschen Philosophie (von der Liebe zur Teilnahme).

Teil B. behandelt die Freundschaft. Dabei geht es um die Freundschaft auf sehr unterschiedlichen Ebenen, z.B. die Freundschaft zwischen konkreten Menschen, das Verhältnis verschiedener Weltbilder und Religionen, aber auch das Geschehen im gesamten Kosmos, dass als Freundschaft gedeutet wird.

Teil B. gliedert sich wie folgt:

  • Von der Liebe (Scheler vor 1922) zur Freundschaft (Scheler nach 1922),
  • Deutung der Freundschaft als Teilnehmen,
  • Geschichte der Freundschaft,
  • Zukunft der Philosophie in der Freundschaft,
  • Typologie der Freundschaft.

Im Schlusswort wird Freundschaft und Ausgleich ins Verhältnis gesetzt. Dabei geht es um ein Verhältnis zwischen einzelnen Menschen wie auch im gesamten Kosmos, das nicht mehr die Dominanz einer Dimension (z.B. des Geistes), einer Glaubensrichtung oder einer Weltdeutung verabsolutiert, sondern den Ausgleich sucht. D.h. auch: Den Freund oder die Freundschaft als Grundwirklichkeit zu erfassen und den Feind als abzubauendes Übel sehen zu lernen. Die Freunde finden nicht zueinander, dadurch, dass sie einen Feind haben, was vielfach angenommen wird. Freundschaft ist im Gegensatz hierzu ein Urphänomen und steht über der Feindschaft.

Inhalt

„Teilnehmen“ als Begriff soll stark gemacht werden und als Dreh- und Angelpunkt des offenen Schelerschen Systems begriffen werden (17). Es soll der Denkweg von der Liebe zur Teilnahme aufgezeigt werden. Die Liebesidee entspricht dabei einer monistischen Theorie, d.h. der Vorstellung eines in sich konsistenten Absoluten (der eine Gott). Das Teilnehmen ist der Begriff, der einer dualistischen Struktur entspricht (Scheler nach 1922). Im Gegensatz zur ursprünglichen Dominanz des Geistes wird bei Scheler schrittweise gezeigt, dass Geist und Leben aufeinander hingeordnet sind (281). Es sei – so Wu – ein Grundirrtum, Geist und Leben in eine ursprüngliche Feindschaft (wie im Christentum vielfach geschehen) zu bringen. Als Korrektiv kann die indische Religion dienen: Das Anorganische ist hier Bruder…Freund (281). Das Verhältnis zur Natur wird hier ein anderes als im üblichen Naturschutz. Natur ist nichts, was wir nur schützen müssen, weil unser Überleben ohne einigermaßen intakte Natur nicht möglich ist. Die Motivation wäre hier ausschließlich auf den Menschen bezogen, d.h. letztlich egoistisch. Was Scheler nach 1922 anstrebt ist eine Freundschaft mit der Natur, an der der Mensch teilnimmt, indem er sich für ihren Ausdruck öffnet (361). Das moderne Individuum mit seiner Einsamkeit soll durch Freundschaft in ein ursprüngliches Miteinandersein gelangen.

Die Liebe, die ursprünglich (vor 1922) Schelers Zentralbegriff war, beinhaltet zu sehr ein Dominanzverhältnis zwischen Liebendem und Geliebtem. Der Begriff des Teilnehmens ermöglicht dagegen mehr die Symmetrie oder Horizontalität. In der Teilnahme erst wird der Mensch zu einem Selbst bzw. wird sein eigenes Selbstsein ausgebildet (19). Dabei ist die Freundschaft im Wesentlichen Teilnahme: „…die Metaphysik der Teilnahme stellt eine Sprache zur Verfügung, mit der sich wahre Freundschaft verständlich machen lässt“ (339).

Im besonderen Maße Freundschaft ist die Philosophie. Hier stehen sich einerseits die Freunde (philos) gegenüber. Sie sind in ihren Reden aber auf das Absolute (sophia = Weisheit) gerichtet. Auch zum Absoluten besteht das Verhältnis der Teilnahme (268). Dabei sieht Scheler – nach Wu – den Menschen nicht nur als Wesen, das die ewige Ordnung des Seins wiedergibt. Der Mensch ist vielmehr Mitwirkender Gottes. Letzteres aber nicht als isoliertes Individuum, sondern als Freund unter Freunden, orientiert am Ideal der Freundschaft. Die Wahrheitssuche der Philosophie orientiert sich am Absoluten, dieses ist aber nicht abgeschlossener Gegenstand, der in wissenschaftlicher Manier erfasst werden könnte. Das Absolute entsteht sozusagen in der Praxis seines Gesagtwerdens. Diese Praxis ist die Praxis der Freunde, die einen offen Horizont von Aussagen über das Ganze der Welt eröffnen. Dieser Horizont findet keinen Abschluss. Er ist ein Werde-Sein, das plural verfasst ist. D.h., es gibt nicht die eine Wahrheit des Absoluten, sondern ein vielstimmiges Gespräch der Freunde, die immer an der Wahrheit orientiert sind (349). Dabei gilt: „Unsere Philosophie der Freundschaft muss und will offen sein…“ (353).

Diskussion

Das Buch operiert auf mehreren Ebenen, deren Zusammenhang auf Anhieb nicht immer deutlich wird. So geht es um Liebe und Freundschaft auf einer ganz konkreten Ebene. Auf der anderen Seite werden Liebe und Freundschaft aber auch auf größere Zusammenhänge bezogen, die man gemeinhin als metaphysisch bezeichnet. So geht es auch um das Verhältnis zum göttlichen Wesen. Und hier gilt: Was sich im Bereich menschlicher Praxis als Essenz feststellen lässt (Freundschaft lässt sich fassen als…) kann auch auf weitere Bereiche übertragen werden. Wenn Freundschaft z.B. bei Platon (428 – 348 v.Chr.) über die Hebammenkunst beschrieben wird, also darüber, welche Fragen ich dem Gesprächspartner stellen soll, damit er in seinem Erkenntnisprozess voranschreiten kann, dann kann dieses Muster von Freundschaft auf die Welt insgesamt übertragen werden. Z.B. ist das Verhältnis zwischen Geist und Leben dann ebenfalls mit dem Begriff der Freundschaft zu erfassen. Durch diese Herangehensweise werden unsere traditionellen Denkmuster infrage gestellt bzw. überwunden. Nicht Dominanz und Feindschaft sind die Essenz der Welt, sondern Teilnahme und Freundschaft.

In einem offenen Horizont der Sichtweisen wird die Wahrheitsfrage an das Freundschaftsverhältnis zurückgespielt. Es gibt keine vorab bestehende Wahrheit. Die Wahrheit entsteht und wächst immer weiter im Gespräch der Freunde. Letztlich können weder ein starres Gottesbild noch ein festes Menschbild die Fixierung der Wahrheit ermöglichen. Der Mensch bleibt für Wu letztlich ein leerer Ort (Nichts), der im Gespräch der Freunde zu füllen ist. Die Frage, wer bin ich, lässt sich nicht durch Rückgriff auf Genetik oder Eltern oder Vergangenheit klären. Ich bin immer mit der Leere konfrontiert und nur im Gespräch der Freunde kann ich den Weg zu mir aufnehmen. Die Angst vor der Leere oder dem Nichts lässt sich theoretisch durch fixe Weltbilder zwar still stellen, greift gegenüber der dem Menschen möglichen Offenheit aber zu kurz.

Das Buch ist ein steiniger Weg durch ein schwieriges Gelände. Im Gespräch mit Scheler kommt Wu zu Aussagen, die absolut bereichernd sind und die auch für die Soziale Arbeit, Pädagogik und psychotherapeutische Arbeit folgenreich sind. Was hilft es, die Offenheit in der Praxis zu propagieren, wenn im Hintergrund ein Weltbild fungiert, das statisch und geschlossen ist (es gibt die eine Wahrheit usw.)?

Aber auch Wus Thesen rufen natürlich den Freud herbei, der Widersprüche auch bei Wu aufzeigt (gerade das ist Philosophie). Z.B.: Woher weiß man eigentlich, was Freundschaft ist? Kann der Begriff der Freundschaft durch die Freunde auch verändert werden? Wo sind die Grenzen? Oder auch: Wenn Gott ein Werden ist, kann er uns dann auch retten (religiös gefragt) oder ist diese Sehnsucht nach Paradies und Ewigkeit dann obsolet? Und was bleibt angesichts der metaphysisch konstatierten Endlichkeit mit unserer Sehnsucht nach Ewigkeit?

Fazit

Das Buch enthält viele wunderschön formulierte philosophische und praxisbedeutsame Aussagen über relevante Lebensthemen wie Freundschaft, Gott, Natur, Interkultur, Pluralismus usw. Die Lektüre ist teilweise mühsam, aber doch ein lohnenswerter Weg. Das Bild von Scheler wird nach der Lektüre ein anderes sein. Es bleiben Offenheit und Pluralität als Maßstäbe für die Gestaltung unseres eigenen Lebens, der Praxis des Berufes und unser Verhältnis zu den großen Sinnfragen. Gerade auch für Politiker wäre das Buch zu empfehlen.

Rezension von
Prof. Dr. Anton Schlittmaier
Professor i.R. für Philosophie und Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Dualen Hochschule Sachsen
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Es gibt 33 Rezensionen von Anton Schlittmaier.

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ISSN 2190-9245