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Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne

Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Münch, 28.03.2006

Cover Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne ISBN 978-3-936096-57-6

Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburger Edition (Hamburg) 2005. 180 Seiten. ISBN 978-3-936096-57-6.
Originaltitel: Wasted Lives. Modernity and its Outcasts. Aus dem Englischen übersetzt von Werner Roller.

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Soziologisches Schreiben in England und in Deutschland

Es muss an der Luft liegen - denn am Essen kann es nun wirklich nicht liegen. Anders ist es nicht zu erklären, dass Soziologen in England anders, deutlicher, klarer, einsichtiger und verständlicher schreiben, als Soziologen in Deutschland. Und dies unabhängig davon, ob sie nun auf der Insel geboren oder als Erwachsene dorthin gereist sind. Oder sollte es am unterschiedlichen ideengeschichtlichen Humus liegen, auf dem Soziologen in Deutschland und England schreiben? Gerinnt hier doch noch der deutsche Sonderweg, die längst überwunden geglaubte Dichotomie zwischen Kultur und Zivilisation, über die uns Norbert Elias in seiner Studie "Über die Deutschen" so detailliert belehrt? Und Elias, ein klassisch gebildeter jüdischer Deutscher aus Breslau, schrieb in eben dieser deutlichen, klaren, einsichtigen und verständlichen Sprache seine soziologischen Meisterwerke - aber in England!

Der Autor

Dass dies vielleicht doch kein spezifisch deutsch-englisches Problem, sondern eher ein europäisch-britisches Spannungsverhältnis zwischen Kontinent und Insel sein mag, dafür sprechen die Publikationen eines anderen Soziologen, der in Großbritannien lehrt und schreibt; der 1925 in Poznan geborene Zygmunt Baumann. Im Unterschied zu seinem großen Landsmann Josef Conrad, dem wir spannende verregnete Nachmittage im "Herz der Finsternis" verdanken, musste er kein britischer Kapitän werden, um seine eigentliche Bestimmung als Autor zu finden. Bereits seit Mitte der 50er Jahre lehrte er Soziologie in Warschau, bevor er in Folge der antisemitischen Kampagnen der polnischen Kommunisten sein Parteibuch abgab und dadurch seine Arbeit als Hochschullehrer verlor. Er emigrierte nach Israel, bis er dann ab Beginn der 70er Jahre in Leeds erneut Soziologie lehren konnte und dies bis zu seiner Emeritierung 1990 auch erfolgreich tat. Nach diesen "europäischen Erfahrungen" ist es nicht verwunderlich, dass er im ruhigen Großbritannien eben diese unruhigen Erfahrungen eines "Jahrhunderts der Extreme" fruchtbar in entsprechende soziologische Reflektionen umsetzen konnte. Ob in "Moderne und Ambivalenz" oder in "Dialektik der Ordnung" - immer reflektiert er in seinen Arbeiten das in die Moderne geworfene europäische Individuum, das an den Bedingungen eben dieser zweifelhaften Moderne unterzugehen droht. Denn seine Studie über die Shoa "Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust", in der er die Ermordung der europäischen Juden eben nicht als Widerspruch zur Moderne, sondern als letztendliche Konsequenz eben dieses modernen Denkens und Handelns dechiffriert, erschreckt die Leserin und den Leser ob dieser Kausalität. Nicht "der Schlaf der Vernunft erzeugt Monster" - wie Goya es uns bebildert, sondern vielmehr die wache Vernunft wird zum Monster an sich.

Inhalt

"Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne" bleibt dieser Fragestellung treu: Eine stetig reicher werdende "1. Welt" produziert nicht nur einen materiellen Überfluss, sondern "produziert" gleichzeitig überflüssige Menschen. Baumans Thema in dieser Arbeit sind somit die Exkludierten, die Ausgeschlossenen, die Armen und Arbeitslosen - und dies weltweit.

In der Analyse dieser Exkludierten als "überflüssig", eröffnet Bauman ein weites Bedeutungsfeld: Im Gegensatz zu industriellen Reservearmee - wie noch Marx die arbeitslosen Proletarier definiert - sind die Überflüssigen überzählig und nutzlos - sie werden nicht mehr gebraucht. Als Ausgeschlossener wird man zu einem "Wegwerfartikel" - zu Abfall. Bestand für die Marxsche Reservearmee noch die Chance einer Rückkehr in das Gehäuse der materiellen Produktion, sind die "Überflüssigen" nur noch Abfall. Und der "Bestimmungsort von Abfall ist die Abfallecke im Hinterhof, die Müllhalde" (S.21). Diese präzise Analyse einer ethisch fragwürdigen, aber realen gesellschaftlichen Konstruktion der zeitgenössischen Wirklichkeit, zeigt ihre begriffliche Qualität in den folgenden Schritten: Die Überflüssigen müssen "versorgt" werden. Und diese Versorgung erfolgt stets am untersten Rand des Überlebens, wird verortet im Bedeutungsfeld des Almosens, wird stets in Frage gestellt - "Können wir uns das noch leisten?" - aber ermöglicht nicht, das "soziale Überleben". Denn das rein physische Überleben beinhaltet eben nicht die Wiederzulassung der Ausgeschlossenen in die Gesellschaft, es bedeutet vielmehr eine "soziale Heimatlosigkeit" die mit dem Verlust von Selbstwertgefühl und Würde verbunden ist. Hinzu kommen folgerichtig die entsprechenden Bedeutungszuordnungen, die Etikettierungen: Den "nutzlosen" Empfängern von Almosen werden noch Eigenschaften wie Trägheit, Faulheit und Kriminalität zugeordnet. Und dies - das versteht sich - natürlich ungeachtete der empirisch feststellbaren Wirklichkeit.

Baumans Analyse dieses Exklusionsmechanismus ist ein Musterbeispiel für die Fruchtbarkeit soziologischer Theorie: Angewendet auf die bundesdeutsche Wirklichkeit erklärt sie bis ins Detail die Absichten, Mechanismen und Effekte der "Umbaustrategien des Sozialstaates", wie wir sie z.B. in den "Hartz-Reformen" wieder finden. Der "Abfall" wird entsorgt. Und vergleichbar seiner Analyse der Shoa - Bauman dechiffriert sie in "Dialektik der Ordnung" als konsequente Anwendung der Moderne - begreift er diese Entsorgung des Überflüssigen als zutiefst "modern" - für ihn sind die "Müllmänner die unbesungenen Helden der Moderne"(S.42). Denn ihre Aufgabe ist die tagtägliche Ziehung der Grenzlinie zwischen nützlich und nutzlos, zwischen Innen und Außen. Die "Aktivität der Trennung" - der "Selektion" - ist somit der Kern der Moderne, wie Bauman sie versteht. Eine geradezu hegelsche Moderne, die das Unerklärbare und Unbeherrschte ersetzen muss durch das Geplante und Kontrollierte.

Unbeantwortet lässt er dabei die Frage, wo wir dann im Heute und unter diesen Bedingungen die "Banalität des Bösen" wieder finden. Denn dieser Mechanismus der Aussonderung ist gleichzeitig eine Quelle der Macht: Angesichts der menschlichen Verwundbarkeit - Jede und Jeder kann tagtäglich als "überflüssig" definiert werden - akkumuliert jeder Agent des Wohlfahrtsstaates durch diese Entscheidungsfähigkeit Macht und übt sie aus, indem er trennt, selektiert. Und ganz folgerichtig wird die fortwährende "Produktion offizieller Furcht", die Furcht des Menschen vor eben dieser Aussonderung, der "Schlüssel zu effektiven Ausübung von Macht". Damit verlieren aber die Ziele des Wohlfahrtsstaates - individuelle Risiken zu vergesellschaften und die Integration der arbeitenden Klasse ins politische System herzustellen - ihre Durchschlagskraft. Die Schutzfunktion des Sozialstaates wird auf immer kleinere Gruppen eingeschränkt und selbst für diese Gruppen wird die Fürsorge immer mehr durch Gesetz und Ordnung ersetzt. "Fördern und Fordern" lautet dies dann im "New Speak" des 21. Jahrhunderts: "Die Unfähigkeit sich am Spiel des Marktes zu beteiligen, wird zunehmend kriminalisiert"(S.75).

Doch die Antwort der bedrohten und betroffenen Gruppen ist gleichfalls dramatisch: Die Teilnahme und Teilhabe am politischen System wird aufgekündigt, der "Sozialleim" verliert seine Klebekräfte und in Folge dieses Rückzuges aus dem politischen Raum "zerbröckeln die bewährten Fundamente der Staatsmacht". Der Staat muss daher - um seine bedrohte Legitimation weiter zu begründen - ein neues Feld seiner Konstitution eröffnen und so wählt er den Kampf um die persönliche Sicherheit als neues Feld, auf dem er seine "Hegemoniefähigkeit" erweisen will und auch kann. Dass ihm dies nur gelingen kann, wenn er für die fortwährende Produktion einer "offiziellen Furcht" sorgt, wird von Bauman einsichtig entwickelt. Und so taucht die "große Furcht" des Jahres 1789 ("La Grande peur de 1789") - damals gleichzeitig Furcht vor konterrevolutionären Attacken und Ansporn zur Verteidigung der jungen Republik - erneut auf; diesmal als Versuch, die globale Herrschaft eines zügellosen Marktes zu festigen und die Politik der Selektion politisch zu begründen. Von der Tragödie zur Farce! Die heuristische Tauglichkeit dieses "Mechanismus der Selektion" weist Bauman auch im globalen Kontext nach: Hier sind die "Überflüssigen" die Frauen und Männer, die sich auf den langen Weg nach Europa machen und an den Grenzen des reichen Europa durch Polizei und Militär außen vorgehalten werden. Doch selbst die Wenigen, denen der Weg ins Innere gelingt, werden im Regelfall den Exkludierten zugeordnet und wohnen in den neuen Ghettos der Vorstädte, die ihren ursprünglichen Charakter längst verloren haben. Waren sie vor langer Zeit Transit- oder Warteraum, von denen der Sprung in die Gesellschaft gelingen sollte - und auch oftmals gelang -  sind sie nunmehr längst zu "Ausschlussgebieten" verwandelt worden. Ortlose Orte, die nur im Aufstand noch Aufmerksamkeit finden.

Melancholisch, oder vielleicht zutiefst pessimistisch, wird Bauman, wenn er die Konsequenzen dieses neuen Herrschaftssystems beschreibt. Denn wenn der Wohlfahrtsstaat durch den "Besatzungsstaat" ersetzt wird - und dies ist einer seiner analytischen Kernpunkte - wird die tägliche Produktion von Furcht als Quelle der Macht unumgänglich. Furcht aber, die auf der Seite der (noch) inkludierten Mitglieder der Gesellschaft Angst erzeugen soll und dies auch tut. Diese Ängste aber "wirken auch zerstörerisch auf das Vertrauen ein, das Bindemittel jeglichen menschlichen Zusammenseins"(S.130) und so zerstört das neue Regime des Besatzungsstaates das Vertrauen; es wird ersetzt durch ein "allumfassendes Misstrauen". Dieses Misstrauen führt zwangsläufig dazu, dass Verpflichtungen aller Art - ob privat, beruflich oder politisch - immer mit einer "Kündigungsoption im Hinterkopf" eingegangen werden. Denn in dem Augenblick, wo Vertrauen als Grundkategorie der Gesellschaftlichkeit ersetzt wird durch Misstrauen, wird Gesellschaft brüchig. Brüchig nicht nur auf der Ebene des "Handelns" - wie Arendtdas politische Tun des Menschen benennt - sondern auch und vor allem auf der Ebene des "Arbeitens" und des "Herstellens".  Dort, in den Betrieben und Unternehmen, wird diese "Kultur des neuen Kapitalismus" perfektioniert; hier herrschen Angst und Druck - wer hier arbeitet, steht fortwährend kurz vor der Entlassung. "Die Halsabschneider-Kultur in diesem UnternehmenÉzerstörte die Moral und den internen Zusammenhalt ihrer Angestellten"(S.151) und die Reaktionen der Menschen sind absehbar: Sie kündigen innerlich, nutzen jeden Tag für ihr eigenes Wohlbefinden und halten sich alle Optionen offen. Sie haben ihre Lektion gelernt.

Es vielleicht doch einer angelsächsischen Kultur der Arbeit geschuldet, dass sich an dieser Stelle Zymunt Bauman in der Analyse mit einem weiteren englischsprachigem Soziologen trifft, mit Richard Sennett. Beide analysieren - Sennett in seiner brillanten Studie "Die Kultur des neuen Kapitalismus" - die Erosion einer noch bis heute erfolgreichen Arbeitskultur durch die Herrschaft des Ausschlusses, der Angst und des Misstrauens.

Marx hat in den berühmten Zeilen des Kommunistischen Manifestes den Aufstieg des Kapitalismus beschrieben: "Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen" und nunmehr beschreiben uns Bauman und Sennett wie diese Wirtschaftsform ihren Abschied dadurch in die Wege leitet, dass sie eine der Grundkategorien der menschlichen Existenz - das Vertrauen - buchstäblich verspielt. Doch im Unterschied zum Amerikaner Sennett trägt die Analyse des Europäers Baumann melancholische Züge. Wer wie er das "Zeitalter des Extreme" am eigenen Leib erfahren hat, kann auch nur mit einer gewissen Melancholie diese neue Herrschaft des Ausschlusses beschreiben. "Wir, ihre Nachkommen, müssen zu Beginn des neuen Jahrhunderts eine Antwort auf die große Frage findenÉob das Einschluß/Ausschluß-Spiel die einzige Möglichkeit ist, wie ein gemeinsames menschliches Leben gestaltete werden kann, und letztlich die einzige denkbare Gestalt, die unsere gemeinsame Welt annehmen - die ihr von uns gegeben werden - kann" (S.189) so endet "Verworfenes Leben". Aber in all dieser begründeten Melancholie steckt doch eine Hoffung, dieses "die ihr von uns gegeben werden kann". Denn wir sind es, die diese Gesellschaft tagtäglich in der Dualität von Struktur und Handlung herstellen.

Diskussion

Dass uns Zymunt Bauman an diese unsere gesellschaftliche Verfasstheit im letzten Satz erinnert, dies allein wäre Anlass genug, „Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne“ zu lesen. Doch diese Arbeit ist weitaus mehr: Sie ist eine „dichte“ und doch soziologische Beschreibung einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die wir tagtäglich spüren und erfahren; die uns gleichzeitig aber ratlos lässt. Denn die herrschenden Erklärungsangebote – die uns die Medien oder die Mainstream-Ökonomie anbieten – lassen uns ebenso ratlos wie zuvor zurück. Mit ihrer Hilfe können wir weder verstehen noch erklären, wieso das Mitleid aus dem öffentlichen Raum verschwindet, welche Ursachen die merkwürdige Renaissance des Zwangs haben mag und warum Europas älteste Sozialdemokratie sich selbst entleibt.

All dies leistet Bauman – er dechiffriert die unverständlichen Zeichen, er lässt Tiefenschichten und Strukturen erkennen, er dekonstruiert politische Absichtserklärungen auf ihren realen Machtgehalt und so trägt er zur Sichtbarkeit und Lesbarkeit der Welt bei. Wir verstehen und können erklären; unser eigenes Handeln wird begründbar und die Zahnräder des Leviathans, sein stählernes Gehäuse werden sichtbar.

Fazit

Soziologische Wissenschaft ist Aufklärung – oder sie ist nicht. In dieser europäischen Tradition ist dieses Buch geschrieben und aus diesem Grund sollten wir es lesen: Weil es beiträgt zur Aufklärung – es erhellt, was zuvor dunkel war.

Rezension von
Prof. Dr. Thomas Münch
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Fach Verwaltung und Organisation

Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Münch.

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Zitiervorschlag
Thomas Münch. Rezension vom 28.03.2006 zu: Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburger Edition (Hamburg) 2005. ISBN 978-3-936096-57-6. Originaltitel: Wasted Lives. Modernity and its Outcasts. Aus dem Englischen übersetzt von Werner Roller. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3402.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.


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