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Michael Mehlich: Langzeitarbeitslosigkeit. Individuelle Bewältigung [...]

Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Münch, 24.07.2007

Cover Michael Mehlich: Langzeitarbeitslosigkeit. Individuelle Bewältigung [...] ISBN 978-3-8329-1517-9

Michael Mehlich: Langzeitarbeitslosigkeit. Individuelle Bewältigung im gesellschaftlichen Kontext. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2005. 296 Seiten. ISBN 978-3-8329-1517-9. 49,00 EUR. CH: 84,00 sFr.
Nomos Universitätsschriften Soziologie ; 6.

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Thema

"Das war dann der Höhepunkt des Tages ... sich mit dem Arbeitsvermittler auseinander zu setzen oder den vielleicht zur Schnecke zu machen... das war das Leben und dann ging man wieder raus in seine Einsamkeit" (187) - ein Satz aus der Studie von Michael Mehlich, ein Satz der einen anspringt wie ein Schlag ins Gesicht.

Und neben diesem - und vielen anderen Sätzen mit ähnlicher Wirkkraft - aus dem Alltag der deutschen Arbeitslosigkeit, aus dem deutschen Elend; ist es die Gesamtschau dieser Studie zur Langzeitarbeitslosigkeit, die beeindruckt. Aus dem Hintergrundrauschen der multiplen Talkshows, Politikerstatements, Kommissionen, Stiftungen und selbsternannter Experten ragt Mehlichs Studie durch methodische und inhaltliche Fach- und Sachkompetenz hervor. Und ob nun Schröder, Hartz oder ähnliche Lautsprecher aus "Bertelsmann-Stiftung", "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" und wirtschaftsnahen Forschungsinstituten - sie alle könnten es wissen, wie es denn mit der Lebenswirklichkeit der Langzeitarbeitslosen in Deutschland aussieht. Wenn sie denn etwas anderes läsen, als die immer gleichen hauseigenen und stromlinienförmigen Expertisen ihrer Zuarbeiter und Souffleure. Aber sie tun es nicht!

Autor

Michael Mehlich war lange Jahre in der Sozialen Arbeit mit Langzeitarbeitslosen tätig und so schreibt er über ein Thema, welches ihm vertraut und nahe ist. Die zur Analyse dieses nahen Feldes notwendige Distanz stellt er über einen Trick her: Er schreibt eine Dissertation über eben dieses Thema. Und so kommen wir in den Genuss, das sozialarbeiterische Grundproblem von Nähe und Distanz in einer wissenschaftlichen Prozedur, dem Prozess der Entwicklung einer sozialwissenschaftlichen Analyse zu erleben.

Aufbau und Inhalt

Bereits die Wahl der Leitkategorie ist Programm: Die Figurationstheorie von Norbert Elias soll im Forschungsprozess fruchtbar gemacht werden. Unabhängig von der - hier nicht zu beantwortenden - Frage, inwieweit die Hinwendung zu Elias auch bei Mehlich ein befreiender Ausweg aus einem dichotomischen Gehäuse darstellt, nimmt er uns bereits in seinem ersten Kapitel zur "Gesellschaftsanalyse" zu einer spannenden methodologischen Reise mit. Das Eliassche Leitmotiv, dass in diesem Kontext der Mensch "Münze und Prägstock zugleich" ist, gerinnt zu entsprechenden kategorialen Begriffsbildungen, zu einem "begrifflichen Handwerkszeug", die das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit in ihrer gesellschaftlichen und individuellen Dimension erschließen. Dabei reicht der analytische Bogen von der "Ausgrenzung" bis hin zur "Individualisierung" -  wobei immer die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten und Handlungsfähigkeiten der Betroffenen im Vordergrund steht.

Nach der Begriffsbildung und Begriffsentwicklung folgt eine faktengesättigte Analyse der gesellschaftlichen Wandlungsprozesse vom "Wandel der Erwerbsarbeit" über "Individualisierungsprozesse", den "Wandel der sozialen Sicherung" bis hin zur "Langzeitarbeitslosigkeit". Auch hier zeigt sich erneut, an der Auseinandersetzung mit dem Begriff und der Rolle der Erwerbsarbeit, wie fruchtbar Mehlich das Instrument der Figuration anwendet. Denn es wird sowohl nach dem je individuellen Verhältnis der Langzeitarbeitslosen zur Erwerbsarbeit gefragt, nach den Veränderung eben dieses Verhältnisses im Prozess der Langzeitarbeitslosigkeit und nach dem möglicherweise neuen Arbeitsverhältnis, welches die Betroffenen in den Arbeitsmarkt zurück bringen könnte.

In der sich daran anschließenden präzisen Analyse der institutionellen Ausgrenzungsprozesse, wird für die Leserin und den Leser erneut deutlich, wie "wirksam" eben diese Ausgrenzungsprozesse sind und wie kontraproduktiv die entsprechenden Aktivitäten der staatlichen Agenturen wirken. Und welche verheerenden Verletzungen diese Ausgrenzungsprozesse in Leben und Wahrnehmung der langzeitarbeitslosen Männer und Frauen nach sich ziehen.

Die daraus entwickelten forschungsleitenden Fragestellungen nach den individuellen und institutionellen Veränderungen im Prozess der Arbeitslosigkeit, den Bedeutungen der institutionellen Verflechtungen und der "Frage der individuellen Handlungspielräume" leiten über zum Forschungsprozess. Auch in den entsprechenden methodologischen und methodischen Überlegungen kann erneut die Anwendung von "Prägestock und Münze zugleich" in der Entwicklung und der Anwendung beobachtet werden. Wie die Untersuchung staatlicher Organisationen aus der Akteursperspektive erfolgt und wie in dieser Befragung der Betroffenen die Ausgrenzungsprozesse sichtbar und nachvollziehbar werden, wie erkennbar wird, dass im Aufeinandertreffen von Individuum und Institution Exklusion stattfindet - hier zeigt sich die hohe analytische Qualität der Untersuchung.

Sicher ist dabei die Wahl der Untersuchungsfelder hilfreich: Lokale Arbeitslosenprojekte bieten einen heuristischen Zugang, der vielen anderen Forschungsfeldern nicht zu Eigen ist. Die Herkunft von Mehlich aus eben diesem Feld erleichtert gleichfalls den Zugang; wobei auch hier die Reflexion des Forschungsprozesses erneut sichtbar werden lässt, wie souverän der Autor das Spannungsverhältnis von "Nähe und Distanz" beherrscht.

Die "Ergebnisse der Untersuchung" sind eine sinnenreiche und heuristisch überaus wertvolle und bereichernde Lektüre: Die Einblicke, die uns die befragten Langzeitarbeitslosen und Experten liefern, öffnen dem Leser eine verschlossene Welt. In "dichter Beschreibung" werden wir mitgenommen auf eine Forschungsreise ins "Herz der Finsternis", unbekannte Welten öffnen sich, auf bekannte Welten werden neue Blickwinkel eröffnet - auf jeder Seite dieses Kapitels lernen wir mehr über die Lebenswelt der Langzeitarbeitslosen in Deutschland.

Und diese Lebenswelt ist paradox und geprägt durch Zerstörung und Ausgrenzung. Langzeitarbeitslose - so eine der wesentlichen Ergebnisse - stehen vor verschlossenen Arbeitsmärkten, verlieren im Prozess der Langzeitarbeitslosigkeit Struktur und soziale Netze, erleiden unter einem öffentlichen Erklärungs- und Rechtfertigungszwang Wahrnehmungsveränderungen und müssen gleichzeitig Anpassungstrategien entwickeln, "um sozial, finanziell und psychisch zu überleben"(225). Und dies auf dem Hintergrund, dass die entsprechenden staatlichen Institutionen eben diesen Prozess der Ausgliederung tagtäglich reproduzieren. So werden Langzeitarbeitslose "zu Pionieren der Individualisierung wider Willens ohne reale Handlungsoptionen"(227).

Diskussion

Erschienen im Mai 2005, wenige Monate nach der Einführung von "Hartz IV", basiert die Studie von Mehlich im wesentlichen auf der bundesrepublikanischen Wirklichkeit vor "Hartz". Aber diese Zeiten waren bereits die Zeiten vor "Hartz" - der aktivierende Sozialstaat war bereits zu erkennen und die vom Autor diagnostizierten Phänomene der verschärften institutionalisierten Ausgrenzung sind heute, nach über 2 Jahren Hartz, fester Bestandteil des "Deutschen Elends".

Sozialwissenschaftliche Analyse hat, so sie denn Analyse ist, doch immer eine prognostische Funktion.

Fazit

Pflichtlektüre sollte Michael Mehlichs Arbeit für alle die sein, die sich professionell in Politik, Sozialarbeit und Wissenschaft mit Arbeitsmarktpolitik und Sozialstaatlichkeit beschäftigen. Mitglieder der "Hartz Kommission", der diversen konservativen "Thinktanks" und Stiftungen, Mitarbeiter der ARGEN und Hartz-Exekutoren sollten qua Gerichtsbeschluss zur Lektüre verpflichtet werden.

Aber gerade sie werden es nicht lesen, nicht zur Kenntnis nehmen - sie werden weiter durch ihr tagtägliches Handeln dazu beitragen, dass Langzeitarbeitslose ausgeschlossen werden, dass sie überflüssig werden; "human waste", menschlicher Abfall nennt der Soziologe Zygmunt Bauman diese Gruppe. Und so reibt sich die Vernunft erneut die Stirn an den Verhältnissen blutig.

Rezension von
Prof. Dr. Thomas Münch
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Fach Verwaltung und Organisation

Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Münch.

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Zitiervorschlag
Thomas Münch. Rezension vom 24.07.2007 zu: Michael Mehlich: Langzeitarbeitslosigkeit. Individuelle Bewältigung im gesellschaftlichen Kontext. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2005. ISBN 978-3-8329-1517-9. Nomos Universitätsschriften Soziologie ; 6. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3421.php, Datum des Zugriffs 08.12.2024.


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