Sanem Kleff (Hrsg.): Islam im Klassenzimmer. Impulse für die Bildungsarbeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 24.01.2006

Sanem Kleff (Hrsg.): Islam im Klassenzimmer. Impulse für die Bildungsarbeit. Edition Körber (Hamburg) 2005. 226 Seiten. ISBN 978-3-89684-331-9. 12,00 EUR.
Tschador, Burka und Haute Couture - Irritation oder Wirklichkeit des Islam?
Die Bilder, die in der globalen Mediengesellschaft über den Islam in unsere Fernsehzimmer schwappen, sind irritierend und vorurteilsbildend zugleich. Tief verschleierten Frauen, gebückt und bedrückt erscheinend, stehen selbst bewusste Musliminnen gegenüber, die "das Kopftuch als dekoratives Accessoire" tragen, wie dies kürzlich in einem Mode-Event in der Berliner Sporthalle Schöneberg demonstriert wurde. "Walk of Islam", so nannte sich die Veranstaltung, die von der türkischstämmigen Berliner Designerin Firat Demir (32) organisiert wurde. Obwohl "gläubige Musliminnen dazu angehalten (werden), ihren Körper bis auf das Gesicht, die Hände und Füße komplett zu verhüllen", möchten sich junge muslimische Frauen genauso wie ihre nichtmuslimischen Altersgenossinnen modisch kleiden. Dieser, vermutlich von der nichtmuslimischen Betrachterschaft als durchaus sympathisch empfundene Modeerscheinung, wird freilich von religiös motivierten und fundamentalistisch eingestellten islamischen Männern und Frauen aufs Schärfste als vom ungläubigen Teufel motivierten Versuch verurteilt, den "islamischen Verhüllungslook zu einem schicken Mode-Outfit aufzupeppen". Eine korrekt islamische Kleidung, so die Botschaft der "wahren Muslime" müsse neun Regeln erfüllen, u. a.: Das Gewand einer Frau dürfe nicht geschmückt oder verziert sein, so dass die Blicke der Männer auf sie gezogen würden; und die Frau dürfe nicht parfümiert sein und ihre Kleidung solle nicht der Kleidung der Männer oder der Ungläubigen ähneln.
Eine zweite Irritation: Junge Studentinnen an islamischen Universitäten tragen das Kopftuch oder den Körperschleier als Protest gegen die westlich orientierte, materielle Kultur.
Eine dritte Irritation: Die "Pop-Islamisten" machen mit ihrer Musik und ihrer Bewegung "Sahwa = Bewusstwerdung" weltweit Furore. Die "neuen Propheten", wie Sami Yusuf, Sohn aserbaidschanischer Eltern, und der aus Ägypten stammende Amr Khaled, wollen eigentlich gar keine "Missionare" sein; "ich singe auch nicht direkt über die Religion. Ich singe über das Gute im Menschen, das, was uns alle verbindet. Aus meiner Sicht sind gute Muslime in erster Linie gute Menschen", so Sami Yusufs Credo. "Iqra = Lies!" und höre, so das Motto des TV-Senders, der von Dubai und Kairo aus seine Show, mit Werbeeinlagen für die Zielgruppe junger Musliminnen und Muslimen in der ganzen Welt, ausstrahlt. Dann wäre ja alles gut und wir könnten den echten interkulturellen und interreligiösen Dialog ausrufen! Doch die Wirklichkeiten der interkulturellen Kontakte sind eher Konfrontationen mit den Etiketten: Vorurteile, Stereotypen, Gewalttätigkeiten. Eine der Erklärungsversuche, warum es so schwer ist, "unseren Nächsten wie uns selbst zu lieben", lautet: "Derjenige, der mir am meisten ähnelt, aber nicht identisch mit mir ist, ist mein Feind" (Jean Daniel). In der Zeit der sich immer interdependenter entwickelnden Welt, was wir mit dem Begriff "Globalisierung" belegen, kommt uns nämlich der "Fremde" immer näher. Sein anderes Aussehen, sein für uns ungewohntes Denken und Handeln ist unter uns, in der Nachbarschaft, auf der Straße, im Ohr, in der Kleidung - und in der Schule. Dem "Clash of Civilizations" (Samuel P. Huntington) steht auf der anderen extremen Seite das "Multi-Kulti" mit der oberflächlichen und nicht weniger gefährlicheren Erfahrung gegenüber, dass der Andere anders ist als ich selbst.
Entstehungshintergrund und Anspruch des Buchs
Weil interkulturelles Lernen als allgemeinbildender Aufklärungsauftrag für die schulische und außerschulische Bildung in unserer multikulturellen Gesellschaft unverzichtbar ist, gibt es mittlerweile zahlreiche theoretische Reflexionen, Ansätze zur Entwicklung einer "interkulturellen Didaktik", wie auch praktische Lehrbeispiele und Handlungsanweisungen. In diesen Diskurs mischt sich Sanem Kleff, Vorstandsmitglied der Aktion Courage e.V. und Leiterin des europäischen Projekts "Schule OHNE Rassismus - Schule MIT Courage", ein. Sie legt, in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Interkulturelle Bildung der Bundesländer (INKA), der Kultusministerkonferenz der Länder und der Körber-Stiftung, ein Handbuch vor mit dem Anspruch, "einen anderen Weg zu beschreiten, der sich mit den Begriffen ’Orientierung’, ’Öffnung’ und ’Dialog’ umschreiben lässt". Vierzehn interkulturell und interdisziplinär orientierte Expertinnen und Experten mit pädagogischen, historischen, soziologischen, psychologischen, journalistischen und islamwissenschaftlichen Erfahrungen, bieten "Impulse für die Bildungsarbeit" an und setzen sich mit der gesellschaftlichen Spannweite von "Religion, Tradition und Islamismus" auseinander.
Inhalt
Ahmet Yazici, der Vorsitzende der Islamischen Gemeinden in Norddeutschland, provoziert in einer öffentlichen Diskussion die jugendlichen ZuhörerInnen mit dem Satz: "Deutschland ist das islamischste Land, das ich kenne". Wie bitte? Im Hamburger Stadtteil Veddel wird der Film "Nix Deutsch - Eine Schule kämpft für Integration" gezeigt. Scheinbar unvereinbare Gegensätze zwischen hilflosen deutschen Bewohnern und muslimischen Einwanderern tun sich auf. Eine "multikulturelle Kampfzone" wird hier eher dargestellt, denn eine "bürgerliche und kleinstädtische Beschaulichkeit". Und doch am Ende die Bereitschaft der Beteiligten, "Miteinander reden statt übereinander". Um sich den Lebenswelten der Jugendlichen zu nähern, gibt es verschiedene interessante Versuche, die scheinbar unüberwindlichen, vielfach unsichtbaren aber direkt spürbaren Mauern zwischen den unterschiedlich kulturell Orientierten, auch den "Ohnemichels" und den "Egalos", zu überwinden. So berichtet der Diplomsoziologe, Publizist und Geschäftsführer des Projekts "Schule ohne Rassismus", Eberhard Seidel, von Diskussionsveranstaltungen in sechs deutschen Städten zum Thema "Islam und ich". Mit der Methode des "Open Space" erreichen sie mehr als 1000 Schülerinnen und Schüler und setzen anstelle der Erfahrung "Belehrungen (über den Islam) kommen gegen die Wahrnehmungen und Erfahrungen nicht an" - diejenige, dass die (gewohnte) Strategie der Konfliktvermeidung keine Lösung des Problems sei; vielmehr sei der interkulturelle und interreligiöse Alltagsdialog notwendig.
Immerhin sind einige Lichtblicke und Hoffnungszeichen am pädagogischen Horizont zu entdecken. Der Interkulturelle Arbeitskreis der Bundesländer (INKA), der im Fachverband der deutschen Lehrerfortbildnerinnen und Lehrerfortbildner (DVLfB) eingebunden ist, fördert z. B. die notwendigen Kompetenzen von Lehrkräften, Situationen zu erkennen, die zu interkulturellen Konflikten führen können, aber auch die interkulturelle Kompetenz zu entwickeln, das Anderssein des Anderen zu erkennen und zu tolerieren. In der bisherigen Diskussion über Interkulturelles Lernen, das gelegentlich auch als "Globales Lernen" tituliert wird, gibt es einen "weißen Fleck", der bisher wenig beachtet, der aber ein wichtiger Passstein im Puzzle der Universalität sein könnte: An den Universitäten und Fachhochschulen erwerben zahlenmäßig bedeutsame Gruppen von jungen Menschen mit Migrationshintergrund, Lehrerinnen, Lehrer, Kindergärtnerinnen, Kindergärtner, Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, pädagogische Qualifikationen, die es gilt, in unserer Bildungslandschaft stärker zu berücksichtigen und zu Wort kommen zu lassen (Yasemin Ergin).
Im Teil "Lernwelten" wird über Beispiele informiert, um Erfahrungshorizonte zu schaffen: Schülerbegegnungen und -austausch, Partnerschaftsprojekte, interkulturelles Theater und Rollenspiele sind Ansätze dafür. Natürlich darf in dieser Bestandsaufnahme der real existierenden, interkulturellen Befindlichkeit an deutschen Schulen die Aufforderung nicht fehlen, auch die "Curricula radikal zu entrümpeln". Und da sind wir bei dem Problem, dass Lernen nicht als zerstückeltes Häppchenwissen möglich ist, andererseits natürlich das Fachwissen Grundlage für das Lernen ist. Wie also lässt sich der Anspruch, interkulturelles Lernen als Allgemeinbildung zu verstehen, in Einklang bringen mit dem Fachunterricht? Indem man "jenseits der Feiertagspädagogik" lernt, etwa erkennt, dass Mathematikunterricht nicht kulturell eindimensional sondern interkulturell sein könne; dass Kommunikation und Verständigung vielsprachig sein kann.
Weil es an deutschen Schulen bislang keinen "Islamunterricht" gibt, sondern in einigen Bundesländern lediglich Modellversuche in verschiedenen Ausprägungen und mit unterschiedlichen Konzepten gebe, andererseits an österreichischen Schulen seit Jahren Islamische Religion als ordentliches Schulfach gelehrt wird, berichtet der ZEIT-Redakteur Arnfried Schenk über "erste Gehversuche in Deutschland". Immerhin gibt es an der Universität Münster den ersten Lehrstuhl für "Religion des Islam". Und der Oldenburger Wissenschaftler für interkulturelle Pädagogik, Peter Graf, plädiert für eine "religiös-ethische Erziehung von Muslimen im Westen". Vom ägyptischen Nil, der Deutschen Evangelischen Oberschule in Kairo, kommt die Nachricht, dass dort ein "interreligiöser Unterricht" statt findet; ungewohnte (schreckhafte?) Kunde für Fundamentalisten aus allen religiösen und ideologischen Lagern?
Nicht unwesentlich und für die praktische, interkulturelle schulische und außerschulische Bildungsarbeit ist der rund 40 Seiten umfassende Serviceteil mit Kontaktadressen zu islamischen Organisationen und interkulturellen Einrichtungen, sowie Literaturempfehlungen zu den Arbeitsfeldern, die im Handbuch vorgestellt wurden.
Fazit
"Islam im Klassenzimmer" ist ein spannender Beitrag, das "freundliche Desinteresse", und das von der Körber-Stiftung als ein eher Neben- als ein Miteinander der Menschen verschieden kultureller Herkunft diagnostizierte (Zusammen)Leben in unserer "multikulturellen Gesellschaft" zu überwinden und durch eine "gute Praxis" im schulischen Lernen zu ersetzen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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