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Elmar Etzersdorfer, Reinhold Fartacek et al.: Fallstudien zur Suizidalität

Rezensiert von Prof. Dr. phil. Norbert Erlemeier, 28.02.2006

Cover Elmar Etzersdorfer, Reinhold Fartacek et al.: Fallstudien zur Suizidalität ISBN 978-3-89783-517-7

Elmar Etzersdorfer, Reinhold Fartacek, Paul Götze, Manfred Wolfersdorf: Fallstudien zur Suizidalität. Roderer Verlag (Regensburg) 2005. 234 Seiten. ISBN 978-3-89783-517-7. 26,00 EUR.
Reihe: Suizidologie, Band 18.

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Thema und Entstehungshintergrund

Die Suizidologie ist eine moderne Wissenschaft  mit einem international großen Verbreitungsgrad und vielen Verzweigungen in andere wissenschaftliche Disziplinen. Zu nennen sind insbesondere medizinische Disziplinen (hier besonders Psychiatrie und Akutmedizin), Psychologie und Sozialwissenschaften,Rechtswissenschaften u. a. Zu den Anwendungsbereichen gehören Prävention,Krisenintervention, Akutbehandlung und Psychotherapie. Wie in anderen Wissenschaften bestehen Probleme im Transfer wissenschaftlicher Befunde und Theorien in die alltägliche Versorgungs- und Behandlungspraxis suizidaler Menschen. Hier liegt wohl auch ein Impuls für die vorliegende Publikation. Die Herausgeber verweisen auf ein "Problemfeld", das sich im "Austausch zwischen der Forschung und der klinischen Arbeit, also zwischen Theorie und Praxis" (S.9) auftut.

Eine der wichtigsten Schnittstellen, an denen sich Forschung und Praxis der Suizidologie unmittelbar begegnen, sind Erstkontakte mit Suizidgefährdeten, die über den weiteren Verlauf der Interaktion und Beziehung zwischen Patient und Therapeut mit entscheiden.Auf diese Erstkontakte wird in dieser Arbeit ein besonderer Akzent gelegt.

Behandlungsverläufe werden über offene und unverstellte Fallstudien am besten dargestellt. Die "unmittelbare Interaktion" muss darin möglichst gut sichtbar werden. "Ziel dieser  Publikation ist es daher, das tatsächliche Vorgehen, die konkrete klinische Realität, zu fokussieren, um damit die Interaktionen mit Suizidgefährdeten besser verstehbar zu machen" (S.10), ein Anliegen, dass nach Ansicht der Herausgeber bisher kaum "im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Diskurses" (S. 10) stand.

Der Sammelband geht auf eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung suizidalen Verhaltens in der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention zurück, die vom 27. bis 29. März 2003 in Günzburg bei Ulm stattfand. Sie stand unter dem Thema "Suizidalität – klinische Fallstudien" und war der wissenschaftlichen Untersuchung konkreter klinischer Arbeit mit suizidalen Menschen gewidmet. Den Mittelpunkt bildeten ausführliche Falldarstellungen, deren Kommentierung durch ausgewählte Tagungsteilnehmer und die Diskussion der Fallbeispiele im Plenum.

Aufbau und Inhalte

Ein ausführliches und strukturierendes Vorwort der Herausgeber informiert über Anliegen und Ziel der Publikation. Es gibt einen guten Überblick über die Gliederung in vier Themenblöcke mit ihren jeweiligen Einzelbeiträgen. Dem Sammelband liegt ein Aufbauprinzip zugrunde, dass in der Regel in allen Themenbereichen durchgehalten wird. Zu Beginn werden in Übersichtsreferaten Problematik und zentrale Fragestellungen der einzelnen Themenbereiche angerissen. Es folgen dann ausführliche Fallstudien aus der klinischen Praxis mit Suizidgefährdeten, die kritische Kommentare nach sich ziehen. Zum Abschluss einzelner Themenblöcke werden die Ergebnisse der jeweiligen Plenumsdiskussionen zusammengefasst. Literaturquellen finden sich am Ende jedes Beitrags.

  1. Der erste Themenblock ist überschrieben mit "Suizidalität und Erstkontakt". H. Wedler (Stuttgart) gibt einen Überblick über die Problematik der Suizidalität in der Akutmedizin, die sich in die Versorgungsbereiche der ambulant tätigen Primärärzte (Allgemein- und Fachärzte), der Rettungsdienste (Notärzte und anderes Rettungspersonal) und der Allgemeinkrankenhäuser untergliedert. In allen drei Bereichen haben es Ärzte und andere Berufsgruppen nicht selten mit suizidalen Menschen zu tun, sei es im Falle von Akutversorgung nach Suizidversuchen oder bei Suizidalität von Patienten in Praxen und Krankenhäusern. M. Wolfersdorf und Mitarbeiter aus dem Bezirkskrankenhaus Bayreuth schließen einen längeren Beitrag an, der unterstützt durch zahlreiche Tabellen das Thema "Suizidalität  und psychiatrischer Erstkontakt" in vielen Facetten behandelt. Der dritte Beitrag wurde von M. Purucker und Mitarbeitern aus dem Team um M. Wolfersdorf verfasst, dem mehrere Beiträge in diesem Buch zu verdanken sind. Es geht um die erste detaillierte Fallbeschreibung mit Fokussierung auf typische Übertragungs-Gegenübertragungsprobleme im Behandlungsverlauf, hier vom Erstkontakt bis zum Suizidversuch in einem psychiatrischen Krankenhaus. Die Schwierigkeiten des Behandlungsaufbaus bei einem 42jährigen depressiven Patienten werden besonders angesprochen. Die Fallstudie wird kommentiert von R. Fartacek sowie von R. Lindner und G. Fiedler. Die Zusammenfassung der Plenumsdiskussion stammt wiederum von R. Fartacek.
  2. Block 2 des Sammelbandes trägt die Überschrift "Suizidalität und ambulanter Erstkontakt". Er wird eingeführt von T. Giernalczyk, einem Psychoanalytiker aus München, der in gut strukturierter Form die verschiedenen Aspekte von Suizidalität in der Phase des Erstkontakts systematisiert. Verdeutlicht werden seine Ausführungen durch Ausschnitte aus einem Erstgespräch mit einer 28jährigen suizidgefährdeten Frau. Der zweite Beitrag, von H. Goll verfasst, steuert eine weitere Fallpräsentation einer ca. 40jährigen Frau zum Themenblock bei, bei der es sich um Symptome einer "Lebensveränderungskrise" (S. 106) handelt, aus der sie ohne Hilfe keinen Ausweg mehr finden kann und deshalb im Wiener Kriseninterventionszentrum vorstellig wird. Kommentiert wird die Problematik, die im Erstgespräch offenbar wird, aus unterschiedlicher theoretischer Perspektive: S. Schaller geht das Fallbeispiel aus verhaltenstherapeutischer, E. Etzersdorfer aus psychoanalytischer Sicht an. S. Schaller hebt stärker auf Erfordernisse verhaltenstherapeutischer Diagnostik ab, Etzersdorfer dagegen konzentriert sich als Analytiker stärker auf die Übertragungs-Gegenübertragungsdynamik, die im Erstgespräch bereits deutlich wird. Die Podiumsdiskussion wird wiederum von Etzersdorfer zusammengefasst.
  3. Der dritte Block greift das Thema "Suizidalität und die Schnittstelle Krisenintervention – Psychotherapie" auf. In der Praxis lassen sich beide Handlungsstrategien häufig nicht streng von einander trennen, wie Wolfersdorf in seiner Zusammenfassung der Plenumsdiskussion nachweist. Am Beginn des Themenblocks steht ein längerer Beitrag von P. Götze, Psychoanalytiker am Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete in Hamburg. in dem es um die unterschiedlichen Indikationen zur Krisenintervention und Psychotherapie geht. Der Autor vertritt als Analytiker den Standpunkt, dass Krisenintervention der analytisch orientierten Psychotherapie unterlegen sei. Ohne Bearbeitung der Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung bestehe in der Krisenintervention bei Klienten / Patienten die Gefahr eines "virulenten suizidalen Restpotenzials" mit einer nicht abschätzbaren Rezidivgefahr (S. 140). R. Lindner steuert im nächsten Beitrag eine ausführliche Fallstudie über eine langwierige und schwierige psychoanalytische Behandlung eines 42jährigen Mannes am Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete (TZS) in Hamburg bei, die nach über zweijähriger Dauer (58 Stunden) mit der Absprache zwischen Patient und Therapeut endete, eine längerfristige psychoanalytische Psychotherapie bei einem niedergelassenen Psychoanalytiker anzuschließen. T. Bronisch strukturiert in seinem Kommentar zunächst die komplizierte therapeutische Sachlage nach übersichtlichen Hauptgesichtspunkten, um dann kritische, weiterführende Fragen an den Therapeuten (R. Lindner) und die Behandlungsgestaltung zu richten. M. Wolfersdorf fasst die Ergebnisse der Plenumsdiskussion zusammen, resümierend, dass sich Krisenintervention und Psychotherapie in der klinischen Praxis überschneiden und nicht klar zu trennen sind.
  4. Im vierten und letzten Block wird der Aspekt von "Suizidalität im Behandlungsverlauf" aufgegriffen. Den Anfang setzen M. Wolfersdorf und Mitarbeiter aus der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Bezirkskrankenhaus Bayreuth mit einem detailreichen Aufsatz zum Inhalt "Suizidalität und die Entscheidung zur Psychopharmakotherapie", der durch zahlreiche Tabellen und Abbildungen angereichert wird. An diesen Beitrag schließt sich eine Fallstudie von C. Steber und K. Schumacher an, beide Fachärztinnen für Psychiatrie und Psychotherapie an einem psychiatrischen Krisenzentrum in München (Atriumhaus). Sie beginnen mit einer Systematisierung der "beziehungsregulierenden Funktionen von Suizidalität" (S. 193 ff), um danach das Fallbeispiel eines Mannes zu präsentieren, dessen Suizidalität in Termini der Beziehungsregulation als "antifusionär" gedeutet werden kann, d. h. mit den Worten der Autorinnen: "Der Therapeut empfindet den Patienten als hilfsbedürftig und sich gleichzeitig entziehend" (S. 196). E. Etzersdorfer, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Furtbachkrankenhaus in Stuttgart, behandelt zusammen mit fünf weiteren Psychoanalytikerinnen und einem Analytiker das Thema "Zur Bedeutung von Suizidgedanken während analytischer Behandlung". Der ausgiebige Fallbericht eines 40jährigen Mannes steht im Zentrum, der als psychisch schwer gestört und suizidal charakterisiert wird. Die analytische Behandlung endete mit einem Abbruch, weil eine zu stark erlebte Nähe zum Therapeuten für den Patienten offenbar nicht tolerabel war (S. 214). Ein Aufsatz von A. Rubel zusammen mit Kollegen aus dem Kreis um M. Wolfersdorf beschließt das Sammelwerk. Überschrieben ist er mit "Suizidalität im Rahmen einer rehabilitativ orientierten Akutstation bei psychosenah erkrankten Patienten". Das Fallbeispiel einer 38jährigen Borderline-Patientin stammt aus dem Bezirkskrankenhaus Bayreuth. Sie durchlief über längere Zeitstrecken verschiedene Phasen einer psychiatrisch stationären Behandlung, um nach stützenden Absprachen mit dem therapeutischen Team zu einer Lebensführung außerhalb der Klinik wieder befähigt zu werden. Der vierte Block wird nicht durch Kommentare und eine Diskussionszusammenfassung abgerundet. Es folgen lediglich die Anschriften der insgesamt 25 Autorinnen und Autoren.

Diskussion

Der vorliegende Sammelband ist in seinem Aufbau gut gegliedert und inhaltlich geordnet. Ein Vorwort der Herausgeber leitet den Leser beim Einstieg in die 19 Einzelbeiträge, die Übersichtsreferate,Fallstudien, Kommentare dazu und Zusammenfassungen von Plenumsdiskussionenum fassen. Eingeführt wird der Leser in die vier Themenblöcke jeweils durch ein Übersichtsreferat, das die vielfältigen Aspekte und Fragen anschneidet, die in den folgenden Fallstudien konkretisiert und dadurch besser verstanden werden.Kommentare aus unterschiedlichen fachlich-theoretischen Blickwinkeln tragen dazu bei, einer vorschnellen und einseitigen Festlegung auf eine Interpretationsweise der vielschichtigen, manchmal für den nicht fachlich versierten Leser verwirrenden Fallbeispiele vorzubeugen. Nicht zu verkennen ist allerdings die Präferierung analytischer Deutungsmuster bei den Fallstudien und Kommentaren, bedingt schon dadurch, dass zehn der Autorinnen / Autoren ausgewiesene Psychoanalytiker sind. Die meisten Fälle, die vorgestellt werden,tragen eindeutig eine analytische Handschrift.

Der Sammelband ist reich an offenen und auchs elbstkritischen Fallstudien, auf die sich der Leser mit Neugier, Ausdauer und wenn möglich Empathie einlassen sollte. Die Fallberichte sind alle in ihrer Vielschichtigkeit und Verlaufsstruktur so eindrucksvoll vorgetragen, dass der Leser, lässt er sich erst darauf ein, von ihnen "mitgenommen" wird. Alle Fallstudien und deren Kommentierung fördern das Nachdenken über eigene Interpretations- und Handlungsmuster. Sie geben nicht nur dem erfahrenen Therapeuten und Krisenbegleiter wertvolle Anregungen und fachliche Hilfen, sondern lassen auch vor den Augen von klinisch-therapeutisch nicht tätigen Lesern die komplexe, oft verwirrende und belastende Beziehungswelt, in der Patienten und Therapeuten sich bewegen, sichtbar werden. Sehr positiv ist die Offenheit, ja "Ungeschütztheit", mit der die Fallgeschichten von den Therapeuten /Autoren  präsentiert und kommentiert werden. Daraus gewinnen sie ihren überzeugenden Realitätsbezug und ihre Glaubwürdigkeit. "Erfolgsmeldungen" stehen nicht im Vordergrund.

Fazit

Der Rezensent empfiehlt dieses sehr interessante und – der Ausdruck sei hier erlaubt – spannende Sammelwerk, das mit Gewinn von Berufsvertretern zu lesen ist, die mit Suizidgefährdung von Menschen in ihrem Arbeitsfeld entweder unmittelbar im klinischen Alltag oder auch vermittelt in Lehre und Ausbildung zu tun haben. Man kann sich vorstellen, dass das Sammelwerk nur ein "Abglanz" der lebhaften und fachlich hoch stehenden Diskussionen ist,die der ursprünglichen Tagung 2003 in Günzburg ihr Gepräge gaben.

Rezension von
Prof. Dr. phil. Norbert Erlemeier
Ehem. Mitglied und Sprecher der AG Alte Menschen im Nationalen Suizidpräventionsprogramm für Deutschland
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Es gibt 25 Rezensionen von Norbert Erlemeier.

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ISSN 2190-9245