Herwig Birg: Die demographische Zeitenwende
Rezensiert von Dr. Aurelia Weikert, 24.10.2006
Herwig Birg: Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. Verlag C.H. Beck (München) 2005. 4. Auflage. 226 Seiten. ISBN 978-3-406-47552-8. 12,90 EUR.
Autor
Herwig Birg, Professor für Demografie an der Universität Bielefeld und bis 2004 Geschäftsführender Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik (IBS) ebendort.
Thema
Herwig Birgs Thema ist der Bevölkerungsrückgang in Europa und vor allem in Deutschland, die historische Entwicklung dazu sowie (familienpolitische) Maßnahmen gegen den Bevölkerungsrückgang. Birg untersucht die damit verbundenen Bereiche wie Einwanderungspolitik, Altersvorsorge, Wirtschaftspolitik, Familienrecht sowie die Diskussionen darüber; wobei diese Bereiche sowohl Ursache als auch Wirkung der demografischen Entwicklung sind.
Aufbau und Inhalt
Birgs Buch ist in 13 Kapitel unterteilt und beginnt mit den Bevölkerungsprognosen der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen. Diesen entsprechend wird die Weltbevölkerung bis zum Jahr 2050 auf gut 9 Milliarden Menschen wachsen. Während in Ländern der sog. "3. Welt"die Zunahme der Bevölkerung als Problem betrachtet wird (1), ist in Ländern der sog. "1. Welt" die Abnahme derselben Anlass zur Sorge (2).
(1) Birg führt den Bevölkerungswissenschafter Johann Peter Süßmilch (1707-1767) an, nach dessen Berechnungen die Erde gut 14 Milliarden Menschen ernähren könnte. Nach Süßmilchs Meinung sind die Bevölkerungsprobleme keine demografischen sondern politische. Auch wenn Hunger in Ländern der sog 3. Welt ein politisches und kein demografisches Problem ist, stellt sich für Birg die Frage, wie dieses zu lösen ist. Denn Millionen Menschen hungern, obwohl in eben diesen Ländern die Produktivität der Böden und Gewässer mehr als ausreichend wäre und viele Länder der 3. Welt selbst Nahrungsmittelimporteure für die reichen Länder Europas sind.
(2) In Ländern der sog. 1. Welt scheinen der Bevölkerungsrückgang den Fortschritt und Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu gefährden. Hierbei ist es für Birg nicht ausreichend, den Bevölkerungsrückgang hinzunehmen und auf eine Problemlösung der demokratischen Länder zu warten oder hoffen, sondern es bedarf Maßnahmen, das Bevölkerungswachstum anzukurbeln. Der Position, dass die Bevölkerungsabnahme eine positive Auswirkung auf Umweltprobleme hat, setzt Birg entgegen, dass diese seiner Meinung nach geringfügigen positiven Auswirkungen gleichzeitig mit negativen Auswirkungen auf die soziale Mitwelt verbunden sind. Birg meint, dass erst seit wenigen Jahren auch Ökonomen angesichts der demografischen Entwicklung die ökonomische Wachstumsrate gefährdet sehen.
In den folgenden Kapiteln setzt sich Birg mit der Bevölkerungsentwicklung weltweit und v.a. dem Bevölkerungsrückgang und seinen Konsequenzen, wie sie in den Ländern Europas zu beobachten ist, auseinander. Die Zahlen der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen besagen, dass die Geburtenzahl pro Frau, die im Zeitraum 1995 - 2000 im Weltdurchschnitt 2,82 betrug, noch vor der Jahrhundertmitte die bestandserhaltende Zahl von 2,13 unterschreiten wird. Die Weltbevölkerung wird am Ende des Jahrhunderts ihr Maximum erreichen um danach abzunehmen.
Bezüglich der Abnahme der Geburtenzahlen in Europa prägt Birg den Begriff des "demografisch-ökonomischen Paradoxons": Die Pro-Kopf-Geburtenzahl ist in jenen Ländern niedrig, in denen das Pro-Kopf-Einkommen ein durchschnittlich hohes Niveau hat. So war beispielsweise in Deutschland die Geburtenrate im sog. Nachkriegsboom doppelt so hoch wie heute, obwohl das Realeinkommen weniger als die Hälfte des heutigen betrug. Mögliche Erklärungsversuche dafür seitens der Bevölkerungsökonomie sind die gestiegenen Preise für Betreuung und Erziehung von Kindern. Birg unterzieht dieses Phänomen einer genauen Analyse. Er untersucht nicht nur die Geburtenjahrgänge der geborenen Kinder, sondern ebenso jene der Frauen, die diese Kinder geboren haben, sowie die Geburtenrate der ersten, zweiten, dritten und vierten Kinder.
Im Folgenden geht Birg auf die Grenzen staatlicher Familienpolitik in Hinblick auf biografische Entscheidungen für oder gegen Kinder ein. Der Hauptgrund für die niedrige Geburtenzahl in Deutschland ist der hohe Anteil der zeitlebens kinderlosen Frauen von rund einem Drittel, während innerhalb der Gruppe von Frauen mit Kindern die Geburtenrate den idealen Wert von ca. 2 Kindern hat; dies im Unterschied zu Frankreich, wo die Zahl der zeitlebens kinderlosen Frauen deutlich geringer ist.
In den weiteren Kapiteln geht Birg auf die Bevölkerungsvorausberechnungen und den weltweiten Geburtenrückgang ein; er erklärt die Unterschiede zwischen Bevölkerungsprognosen und Bevölkerungsprojektionen sowie Modellrechnung, wobei die ersteren sehr genau sind: So nannten die Vereinten Nationen im Jahr 1958 eine Weltbevölkerungsprojektion für das Jahr 2000 von 6,267 Mio. Die tatsächliche Zahl betrug 6,1 Mio., eine Differenz von 3,5 %. Berücksichtigt man die revidierten Zahlen in den 80er und 90er Jahren des 20. Jhts., bei denen die Geburtenraten vieler Länder nach unten gesetzt wurden, beträgt die Differenz sogar nur 2%. Die Vorausberechnungen der Bevölkerungsentwicklung für Deutschland ohne Migration ergeben für das Jahr 2050 eine Zahl von 50,7 Mio, für das Jahr 2100 eine Zahl von 24,3 Mio; im Vergleich zu heute von 82,1 Mio. Birg betont hierbei, dass eine Abnahme der Geburtenzahl, die auf der Änderung des Fortpflanzungsverhaltens und nicht auf einer Änderung der für die Geburtenrate wichtigen Zahl der Frauen beruht, eine Generation später unausweichlich wiederum eine Abnahme der Geburtenzahl zur Folge hat und dies setzt sich von Generation zu Generation fort. Birg beschreibt die Auswirkungen der Abnahme der Geburten auf die demografische Alterung der Bevölkerung sowie auf die Bevölkerungsschrumpfung und kommt zu dem Ergebnis, dass der Anteil der unter 20jährigen abnimmt, der Anteil der 60jährigen und älteren Bevölkerung zunimmt. Wollte Deutschland dieser Entwicklung entgegensteuern, müssten entweder bis 2050 188 Mio Einwanderer aufgenommen werden, oder aber die Geburtenraten müssten ansteigen. Birg zeigt anhand seiner Tabellen auf, dass ohne Einwanderung die Bevölkerung in Deutschland bis zum Jahr 2080 um 49%, in Spanien um 57% und in Italien um 61% abnimmt. Nur in Frankreich, den nordeuropäischen Ländern und im EU-Bereich insgesamt verläuft die Entwicklung moderater.
Die Ursachen für den Geburtenrückgangsieht Birg in der Veränderung des Fortpflanzungsverhaltens und nicht auf einer Änderung der Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter. Als Gründe für diesen Wandel führt Birg die sog. sexuelle Befreiung, die Emanzipation der Frau und das bereits erläuterte demografisch-ökonomische Paradoxon an.
Als mögliche Lösungsvorschläge v.a. in Hinblick auf das Rentensystem führt Birg drei Handlungsoptionen an: (1) Erhöhung des Beitragssatzes, (2) Erhöhung des Ruhestandsalters, (3) Einwanderung und Erhöhung der Geburtenrate. Die Finanzierung des sozialen Sicherungssystems in Gesellschaften mit niedriger Sterblichkeit ist dann günstig, wenn die Geburtenrate im Durchschnitt rd. 2,1 Lebendgeborene pro Frau beträgt. Das Ziel einer an demografischen Strukturen orientierten Politik sollte darin bestehen, die lebenslange Kinderlosigkeit zu verringern.
In seinen letzten beiden Kapiteln weist Birg auf die Notwendigkeit, politische Aufklärung und Maßnahmen zu entwickeln. Die Ende der 90er Jahre des 20. Jhts vom Deutschen Bundestag einberufene Enquete-Kommission zur Untersuchung des demografischen Wandels wies in diese Richtung. Leider verlief die Kommissionsarbeit im Sande, nicht einmal ein Abschlussbericht wurde verfasst. Birg warnt vor Untätigkeit, denn sofern der demografische Prozess einer geringen Geburtenrate sich ein Vierteljahrhundert lang entwickelt hat, würde eine Umlenkung desselben ein Dreivierteljahrhundert dauern. Eine ev. Angst der Politik vor möglichen rechtsradikalen Umtrieben als Folge dieser Aufklärung ist für Birg ein schlechter Ratgeber. Birg kritisiert letztendlich auch die Sozial- und Gesellschaftswissenschaften, die seiner Meinung nach zum Thema Bevölkerungsentwicklung nur marginal oder gar nicht Stellung beziehen.
Diskussion
Birg bezeichnet den derzeitigen Bevölkerungsrückgang in Europa als neues Phänomen und meint, dass schon seit der Neuzeit und vor allem während der Industrialisierung ein kontinuierlicher Anstieg der Bevölkerung erfolgte und dieser nur durch Seuchen und Krieg unterbrochen wurde. Derzeit wären aber keine negativen Einflüsse wie Kriege oder Seuchen vorhanden, im Gegenteil die Gesellschaft befindet sich in Friedenszeiten und vollzieht einen nie gekannten Wohlstand. Dem ist entgegenzusetzen, dass die (rasante) Bevölkerungszunahme ab der Neuzeit nicht ohne staatliches Zutun erfolgte: der Staat hatte erstmals massives Interesse an einer Zunahme der Bevölkerung und setzte entsprechende politische Maßnahmen.
Den negativen Folgen einer niedrigen Geburtenrate für das derzeitige soziale Sicherungssystem schließlich doch nur die Notwendigkeit staatlicher Maßnahmen zur Steigerung der Geburtenrate entgegenzustellen, scheint mir ein wenig einseitig (anstatt einer strukturellen Änderung des sozialen Sicherungssystems oder der Möglichkeit einer gesteuerten Einwanderung). Wie auch immer - der Erfolg staatlicher Maßnahmen zur Steigerung der Geburtenrate wird sich an der Vielfältigkeit und Flexibilität dieser messen. Die Gründe für oder gegen Kinder sind individuell verschieden und außerdem können sich Lebenspläne von Frauen und auch Männern schon im Laufe ihres eigenen Lebens ändern. Der demokratische Staat kann und soll letzten Endes nur ausreichende Angebote machen, um das Leben mit Kindern mit anderen Lebensplänen für Frauen und Männer vereinbar zu machen.
Fazit
Mit seiner klaren Sprache, dem gut dargestellten Sachverhalt, den zahlreichen Tabellen zur Veranschaulichung und der Erklärung von Fachbegriffen bietet Birgs Buch einen fundierten und informativen Beitrag zur Problematik des Themas Bevölkerungsrückgang.
Rezension von
Dr. Aurelia Weikert
Sozialanthropologin und Politikwissenschafterin. Vortrags- und Autorinnentätigkeit zu den Themen Bevölkerungspolitik, Bioethik, Eugenik, Frauengesundheit, Fortpflanzungs- und Gentechnologien, Körperpolitik. Lehrbeauftragte am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien. Mitarbeiterin bei Miteinander Lernen - Birlikte Ögrenelim, Beratungs-, Bildungs- und Psychotherapiezentrum für Frauen, Kinder und Familien
Website
Mailformular
Es gibt 8 Rezensionen von Aurelia Weikert.
Zitiervorschlag
Aurelia Weikert. Rezension vom 24.10.2006 zu:
Herwig Birg: Die demographische Zeitenwende. Der Bevölkerungsrückgang in Deutschland und Europa. Verlag C.H. Beck
(München) 2005. 4. Auflage.
ISBN 978-3-406-47552-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3458.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.