Jani Pietsch: [..] Das verwaltete Verschwinden jüdischer Nachbarn
Rezensiert von Dipl.-Soz.Päd Adelheid Schmitz, 26.12.2006
Jani Pietsch: "Ich besaß einen Garten in Schöneiche bei Berlin". Das verwaltete Verschwinden jüdischer Nachbarn und ihre schwierige Rückkehr. Campus Verlag (Frankfurt) 2006. 280 Seiten. ISBN 978-3-593-38027-8. 24,90 EUR. CH: 43,70 sFr.
Die Autorin und ihr Anliegen
1995 zog die 59jährige Journalistin und Historikerin Jani Pietsch in das beschauliche Schöneiche im östlichen Randbezirk von Berlin. Als sie 1998 ältere Ortsbewohner nach ehemaligen jüdischen Bewohnern und Nachbarn fragte, erhielt sie Antworten, die zum einen stereotyp falsch wie auch bezeichnend waren: "Hier gab es keine Juden. Hier war alles in Ordnung." Jani Pietsch begann mit einer langjährigen und mühevollen Suche vor Ort sowie in zahlreichen Archiven. Dabei stieß sie auf viel Ablehnung, vereinzelt erhielt sie aber auch Informationen, ja sogar Unterstützung von Menschen aus Schöneiche. Während der fünfjährigen Recherche konnte sie nicht nur 170 Namen jüdischer Schöneicher ausfindig machen und die Lebens- und Leidensgeschichten einiger Familien nachzeichnen, sondern auch die bürokratische Abwicklung der schrittweisen Ausgrenzung bis hin zur Deportation sowie die damit einhergehende Verwertung des Besitzes dieser Familien belegen. Die Ergebnisse ihrer Recherchen präsentierte sie 2001 erstmals mit der Wanderausstellung "Ich besaß einen Garten in Schöneiche bei Berlin" - Zeugnisse des verwalteten Verschwindens jüdischer Nachbarn. "Die in der Ausstellung gezeigten amtlichen Schreiben, Verfügungen, Rechnungen und Kalkulationen beleuchten das bürokratische und private Handlungsgeflecht: Bürgermeister, Finanzamt, Versicherungen, Landrat, Kreisverwaltung, Regierungspräsident, Polizei, Gestapo, NSDAP, Post, Gerichtsvollzieher, Transportunternehmer, Gebrauchtwarenhändlerin, Käufer und Nachmieter - sie alle haben bei der Enteignung und Aneignung jüdischen Eigentums zusammengewirkt." (S. 15). Die Ausstellung wurde bisher mehrfach im Umland von Schöneiche, in Potsdam sowie einigen Stadtteilen im Osten Berlins gezeigt.
Aufbau
Die Autorin hat ihr Buch in 8 Kapitel untergliedert: Nach der Einführung widmet sie sich in Kapitel II bis VI den Themen Emigration, Deportation und Mord, Flucht in die Illegalität, Situation von jüdisch-nichtjüdischen Familien sowie der Frage von Entschädigung in Ost und West. Jedes dieses Kapitel beginnt mit Daten und Fakten, die wichtige Hintergrundinformationen zu dem jeweiligen Thema vermitteln. In Kapitel VII sind die Namen der jüdischen Schöneicher aufgelistet. Kapitel VIII enthält die Anmerkungen sowie Hinweise auf die benutzten - öffentlichen und nicht öffentlichen - Quellen sowie die Archive. Das Buch schließt ab mit dem Literaturverzeichnis, einem Abbildungsverzeichnis und einem Hinweis auf Abkürzungen.
Jani Pietsch nähert sich dem Thema über Familiengeschichten, über einzelne Schicksale. Deshalb hat sie die Kapitel nicht chronologisch geordnet, sondern ausgehend von den individuellen Lebenswegen die dafür nötigen Hintergrundinformationen aufbereitet.
Inhalt
- Im ersten Kapitel schildert die Autorin die soziale Bevölkerungsstruktur in Schöneiche damals und heute, die politischen Veränderungen nach 1933 und deren Folgen für die jüdische Bevölkerung sowie ihre mühevollen Recherchen. 170 Juden lebten vor 1945 in Schöneiche, das damals 5.000 Einwohner hatte. Mit mehr als drei Prozent war der Anteil jüdischer Menschen wesentlich höher als in anderen ländlichen Teilen des "Dritten Reiches" und ähnlich hoch wie in Berlin. Es waren überwiegend Angestellte, Ladenbesitzer, Freiberufler. Die meisten waren assimilierte bürgerliche deutsche Juden. Da Schöneiche nie eine Synagoge hatte, fuhren gläubige Juden in die Berliner Synagoge. Jani Pietsch wirft außerdem grundsätzliche Fragen auf zu den Kontinuitäten eines Verwaltungshandelns, das sich auch in der Nachkriegszeit fortsetzte: "Nach dem Ende von Krieg und Verfolgung wurden in denselben Aktendeckeln mit denselben antisemitischen Kennungen die Anträge auf Entschädigung verwahrt. Eingeheftet waren eidesstattliche Erklärungen, Vollmachten, Beglaubigungen, Bescheinigungen, Bittschreiben und Sterbeurkunden." Vielfach waren es dieselben Bürokraten und Fachleute, die für die Entschädigung der jüdischen Überlebenden zuständig waren. Jani Pietsch traf einzelne Überlebende, aber auch Kinder oder Enkel von Ermordeten. Sie erzählten von ihren verzweifelten Kämpfen mit den Entschädigungsbehörden, die viele als erneute Demütigung erlebten.
- Das zweite Kapitel enthält Geschichten und Dokumente von Menschen die emigrieren, aber nur unter schwierigsten Bedingungen ihr Überleben im Exil sichern konnten. Einige von ihnen mussten Familienangehörige und Eltern zurücklassen. Ein Viertel der Schöneicher Juden konnte während der Nazizeit emigrieren - kein einziger von ihnen ist in den Ort zurückgekehrt, der heute 12.000 Einwohner hat. Vor der Ausreise gab es zahlreiche bürokratische Hürden, die sogenannte "Reichsfluchtsteuer" musste gezahlt werden. Als die Zahl jüdischer Emigranten zunahm, sorgten die Finanzbehörden dafür, dass das Vermögen der Ausreisewilligen im "Dritten Reich" verblieb. Das enge Kontroll- und Informationssystem der NS-Bürokratie erschwerte nicht nur eine unbemerkte Flucht ins Ausland, sondern ermöglichte auch den Zugriff auf das Vermögen. So informierte 1939 der Schöneicher Amtsvorsteher das Finanzamt des Kreises Barnim, das Ehepaar Levy beabsichtige eine Ausreise nach London. Verdachtsgrund: Levy habe für sich und seine Frau einen Pass zur Auswanderung beantragt. Kopien dieses Schreibens gingen aus dem Rathaus an die Gestapo Potsdam, die Zollfahndungsstelle Berlin, den Gemeindevorstand Schöneiche, die Reichsbankanstalt in Berlin, die Devisenstelle beim Landesfinanzamt Brandenburg in Berlin sowie den Präsidenten des Landesfinanzamtes Berlin. Auch andere Institutionen wirkten mit: die Post informierte z.B. bei Nachsendeanträgen die Finanzämter, die Reichsbahn zeigte verdächtiges Gepäck der Zollfahndung an, die Spediteure mussten bevorstehende Umzüge melden.
- Im
dritten Kapitel hat die Autorin Dokumente zusammengetragen, die Auskunft
geben über Menschen, die deportiert und ermordet wurden. Sie erzählt z.B.
von Samuel Breslauer, seiner Frau Bertha und deren Kindern. Nur die Kinder konnten nach
Chile emigrieren. Dem 72jährigen Samuel und der 79jährigen Bertha Breslauer gelang die Flucht nicht. Familie Breslauer besaß einen Garten mit Sommerhaus in
Schöneiche, eben jener Garten, der dem Buch den Titel verlieh. Samuel
Breslauer, promovierter Jurist und
einstiger Ressortleiter Politik beim Berliner Lokal-Anzeiger, füllte am 7. August 1942 die Vermögenserklärung
aus, eine Verpflichtung für alle Juden, egal ob Mann, Frau oder Kind.
Dieser 16-seitige hektografierte Vordruck ist eines der vielen Beispiele
der sprichwörtlichen deutschen Ordnung, für Samuel Breslauer eine zusätzliche Demütigung. Der Satz:
„Ich besaß einen Garten mit Sommerhaus in Schöneiche bei Berlin“
ist mit zittriger Hand geschrieben, das Blatt hat zahlreiche Tintenflecke.
Die letzte Seite unterschrieb er mit Dr. jur. Breslauer und ohne den für männliche Juden eingeführten
Zwangsnamen "Israel". Ein letzter Akt des Aufbäumens, bevor er
und seine Frau Bertha
am 17. August 1942 ins "Altersghetto" Theresienstadt deportiert
wurden. Bertha starb bereits
drei Tage nach der Ankunft. Am 12. November 1942 starb Samuel
Breslauer an den Folgen der
Haftbedingungen in dem mit 60.000 Menschen völlig überfüllten Lager. Am
13. November 1942 erhielt der Berliner Gebrauchtwarenhändler Wilhelm
Zimmermann die Inventarliste aus der
ehemaligen Wohnung "zwecks Übernahme der Gegenstände", er kaufte das
gesamte Mobilar für 290,50 Reichsmark. Am 23. April 1943 wandte sich die
Oberfinanzdirektion an die Grundstückskartei, die sich im selben Gebäude
befand. Es ging um die "Übertragung der Zuständigkeit" für den Garten.
Erzählt wird auch die Geschichte der Familie Neumann. Nur die kleine Tochter Ruth konnte am 6: Juni 1939 mit einem Kindertransport nach England entkommen. Ihre Großeltern wurden nach Theresienstadt deportiert, wo sie starben. Die 42jährige Mutter Edith Neumann und ihr Mann Bruno wurden am 14. April 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert und im Juli 1942 in Treblinka ermordet. Edith Neumann hat in ihrer Vermögenserklärung auch ihr klappriges, altes Fahrrad aufgelistet. Mit einem lilafarbenen Stift ist handschriftlich unter dieser Spalte vermerkt, dass die Gestapo sich das Rad direkt genommen habe. Ediths Nähmaschine hat der Spediteur Erich Scheffler abgeholt. Die Berliner Spedition Bellack transportierte diese Nähmaschine zusammen mit weiteren sieben Nähmaschinen deportierter Juden aus Altlandsberg, Oranienburg und Bernau ins "Ghetto Litzmannstadt", wo jüdische Zwangsarbeiter damit Wehrmachtsuniformen flicken mussten. - Im IV. Kapitel werden Lebensgeschichten von einigen Menschen erzählt, die untertauchen und in der Illegalität überleben konnten. Ohne gültigen Ausweis, ohne Lebensmittelkarten, ohne Wohnung waren sie angewiesen auf die Unterstützung nichtjüdischer Menschen, immer in der Angst vor Denunziation. Etwa 75 Prozent der Menschen, die untertauchten, haben nicht überlebt. Etwa 1.400 der Illegalen in Berlin und Umgebung überlebten Verfolgung und Krieg, die meisten mussten um ihre Entschädigung kämpfen.
- Im V. Kapitel schildert Jani Pietsch Erfahrungen von Menschen, die in interkonfessionellen Familien zusammenlebten. Die jüdischen Ehepartner waren nur bedingt geschützt. Besonders schwierig wurde es, wenn sich die nichtjüdischen Ehepartner z.B. aus Karrieregründen scheiden ließen wie in dem Fall von Alfred Ritscher, der damit das Leben seiner jüdischen Frau Susanne gefährdete.
- Das VI. Kapitel "Verwaltet und entschädigt" macht deutlich, dass die Verwaltungsakten nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges oder mit dem Tod der Deportierten endeten. Jani Pietsch hat auch Überlebende, die entweder im Versteck oder im Exil überleben konnten oder überlebende Kinder und Enkel der Ermordeten getroffen, die nach 1945 oft vergeblich um die Rückgabe ihres Besitzes kämpfen mussten, sowohl im Westen als auch in der ehemaligen DDR, vielfach begleitet von offenem oder unterschwelligem Antisemitismus.
Kommentar
Die schrittweise Ausgrenzung der Schöneicher Juden und die Verwertung ihres Besitzes nach deren Vertreibung, Verschleppung und Ermordung wurde durch "gesetzmäßige" und damit scheinbar legale Verwaltungsakte vorbereitet, an der viele Menschen mitwirkten. Es hatte tatsächlich alles seine "Ordnung", denn die Ausgrenzung und das Verschwinden funktionierte ähnlich wie ein Räderwerk, in dem die beteiligten Instanzen reibungslos ineinander griffen. Dies rekonstruiert Jani Pietsch aufgrund von Interviews mit Zeitzeugen bzw. deren Nachkommen, anhand von Briefen sowie zahlreichen Dokumenten, die sie personenbezogen ausgewertet hat.
Ähnlich wie Wolfgang Dreßen, der bereits 1999 für die Ausstellung "Betrifft: Aktion 3. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn" nur unter größten Schwierigkeiten einzelne Akten aus der Oberfinanzdirektion Köln sichten und auswerten konnte, kommt Jani Pietsch zu dem Schluss: "Über jeder biographischen Recherche thront der unermessliche Aktenbestand der Oberfinanzdirektion Berlin-Brandenburg - die aus der Registratur des Oberfinanzpräsidenten überlieferten Enteignungsakten. Diese Behörde führte Buch über die Hinterlassenschaft der Ausgebürgerten und Ermordeten. Sie berechnete, wie viel das Deutsche Reich an jeder einzelnen Ausbürgerung, an jedem Mord verdiente. Im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam lagern 150 Aktenordner mit Vermögensübersichten, 19 Aktenordner mit Deportationslisten, 18 Aktenordner mit Abrechnungsbelegen ausschließlich aus dem Jahr 1943, 26 Aktenordner mit Versteigerungsaufträgen jüdischen Eigentums und etwa 40.000 Enteignungsakten." (S: 21).
Diese Aktenbestände wurden bis heute nur ansatzweise gesichtet und ausgewertet, denn der größte Teil der als Finanzakten eingestuften Dokumente ist noch immer gesperrt. Vielfach ist unklar, wo die Akten überhaupt liegen. Der Zugang ist nur bedingt möglich. In einigen Bundesländern, vor allem aber in der ehemaligen DDR wurden diese Dokumente in die Staatsarchive überführt, dort sind sie zwar besser zugänglich, aber nur unter der Bedingung für die Veröffentlichung frei, dass die Namen von privaten Käufern und Profiteuren des jüdischen Eigentums anonymisiert werden.
Aufgrund ihrer Recherchen zeigt auch Jani Pietsch, dass nicht nur alle beteiligten Personen von dem "verwalteten Verschwinden jüdischer Nachbarn" etwas wussten, sondern dass auch viele davon profitierten: der Bürgermeister, zahlreiche Nachbarn, die Gebrauchtwarenhändler, das Finanzamt, die Gerichtsvollzieher. Sie berechneten Gebühren, sie kassierten Provisionen, sie kauften Häuser, Grundstücke, Möbel, Bilder, Teppiche für wenig Geld.
Jani Pietsch hat zwar das Hauptaugenmerk auf die jüdischen Opfer gerichtet, doch aufgrund der ausgewerteten Dokumente und Quellen kann sie auch die "Schreibtisch-Täter" und die Profiteure ausmachen, an einigen Stellen nennt sie auch deren Namen. Ihr Buch macht deutlich, dass es jenseits der inzwischen gut organisierten und ritualisierten Erinnerungskultur noch viele weiße Flecken gibt, die bisher nur punktuell aufgearbeitet wurden. Notwendig wäre deshalb u.a. eine systematische Aufarbeitung und die damit verbundene Offenlegung der Dokumente aus den Finanzbehörden. Bisher gibt es dafür allerdings kein breites öffentliches Interesse. Dies mag auch daran liegen, dass in den Archivbeständen und gesperrten Akten auch die Namen von sogenannten "Schreibtisch-Tätern", von Käufern und Profiteuren auftauchen, die überhaupt nicht dem Bild des "unzivilisierten nationalsozialistischen Barbaren" entsprechen. Sie alle handelten ordnungsgemäß, richteten sich nach den jeweiligen Gesetzen und Vorschriften, waren also "gute Bürger", ähnlich wie wir selbst.
Fazit
Jani Pietsch ist es gelungen, Einzelschicksale und Familiengeschichten zu erzählen und anhand offizieller Dokumente die hinter diesen Lebenswegen agierende bürokratische Maschinerie sichtbar zu machen, die in jedem noch so kleinen Ort ähnlich ablief. Gerade deshalb eignet sich dieses Buch auch als Ergänzung für den Geschichtsunterricht in der Oberstufe.
Rezension von
Dipl.-Soz.Päd Adelheid Schmitz
Hochschule Düsseldorf, FB 6
FSP Rechtsextremismus und Neonazismus
Mailformular
Es gibt 2 Rezensionen von Adelheid Schmitz.
Zitiervorschlag
Adelheid Schmitz. Rezension vom 26.12.2006 zu:
Jani Pietsch: "Ich besaß einen Garten in Schöneiche bei Berlin". Das verwaltete Verschwinden jüdischer Nachbarn und ihre schwierige Rückkehr. Campus Verlag
(Frankfurt) 2006.
ISBN 978-3-593-38027-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3486.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.