Günther Opp, Nicola Unger: Kinder stärken Kinder. Positive Peer Culture in der Praxis
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 04.04.2006

Günther Opp, Nicola Unger: Kinder stärken Kinder. Positive Peer Culture in der Praxis.
Edition Körber
(Hamburg) 2006.
ISBN 978-3-89684-060-8.
16,00 EUR.
Mit DVD.
"Kinder suchen Freundschaft mit allen Sinnen und mit großer Offenheit, sind sie auch noch so klein" …
… ist das nicht eine Illusion, die man in die Schubladen der (ja längst überholten und tot gesagten) antiautoritären Erziehung stecken sollte; oder in die einer Pädagogik, die in Summerhill (Alexander Sutherland Neill), in Vence (Célestin Freinet) oder in Barbiana (Lorenzo Milani) wuchs - und scheiterte? Vielleicht auch in die Ecke der Vorstellung von der Schaffung einer "Begegnung im voll-menschlichen Sinn" eines Carl Rogers stellen sollte; also alles Illusionen, die ja, wie eine Tendenz in der erziehungswissenschaftlichen Rezeption ausdrückt, heute nicht mehr "zeitgemäß" sei; weil es im Erziehungsakt zwischen Zögling und Edukandor heute eher darum gehe, "Grenzen zu setzen"? Sicherlich wird man mit diesem einseitigen "Rundumschlag" nicht den durchaus zahlreichen pädagogischen Alternativen gerecht, bei denen es darum geht, aus einem hierarchisch orientierten und autoritär bestimmten Verhältnis zwischen Kind und Erwachsenem ein partnerschaftliches und freundschaftliches Gleichgewicht herzustellen.
Zur Entstehung der Positive Peer Culture
Die Probleme, wie sie sich im Erziehungs- und Bildungsprozess in unserer Gesellschaft Hier und Heute darstellen, werden in vielfacher Weise kassandrahaft oder voyeuristisch dargestellt. Seriöse Ratgeber und Rezepte für Erziehungsverhalten füllen die Bücherregale. Die Littsche Und-Formel - "Führen und wachsen lassen" - ist ja immer wieder uminterpretiert worden zu einer Oder-Formel. So lohnt es immer wieder, über den eigenen erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Gartenzaun zu schauen, hin zu Theorien und zur Praxis in anderen Ländern. Die beiden amerikanischen Erziehungswissenschaftler und Psychologen Larry K. Brendtro und Harry H. Vorrath haben in den 70er und 80er Jahren die simple wie geniale Uminterpretation der individualistischen, pädagogischen Auffassung - "Lass mich Ich sein" - zur kollektiven Forderung - "Lass mich Wir sein" - vorgenommen. Daraus ist die Theorie entstanden, die sie "Positive Peer Culture" nannten: "PPC is a total system for building positive youth subcultures". Die Auffassung, dass die Beziehungen, Einflussnahmen und Bildungskräfte der Kinder und Jugendlichen zu Gleichaltrigen, den Peers, existentiell sind und sich positiv auf Entwicklung und Einstellungen auswirken können - "Erst auf der Folie des Zusammenlebens mit den anderen kann die eigene wachsende Persönlichkeit Form annehmen" - ist ja in vielfältiger Weise und bei zahlreichen Bildungs- und Erziehungsmodellen erprobt und bestätigt worden. Ein Beispiel ist das bekannte Projekt des israelischen Bildungskibbuzes Givat Haviva "Children teach Children", das bei Begegnungen zwischen israelischen und palästinensischen Kindern und Jugendlichen angewandt wird.
Autoren, Entstehungshintergrund und Inhalt
Günther Opp, Professor für Verhaltensgestörtenpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Nicola Unger vom dortigen Institut für Rehabilitationspädagogik, haben vor einigen Jahren, beeinflusst durch Begegnungen und Erfahrungen mit der PPC-Arbeit in den USA, an der Universität Halle das Studien-Projekt "Gemeinsam statt einsam" initiiert und dabei die Ideen und Konzepte der Positiven Peerkultur auf die deutsche, schulische und außerschulische Bildungssituation zu übertragen versucht. Die Bestandsaufnahme: "Die Lebenserfahrungen, die eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen in ihrem familiären und außerfamiliären Lebenswelten prägen, sind in zunehmendem Maße gekennzeichnet von Beziehungsabbrüchen, Gewalterfahrungen, physischer und psychischer Vernachlässigung oder Misshandlung sowie steigender sozialer Vereinsamung". Weil aber destruktive Einflussnahmen in der Peerkultur zu genau den Formen von Hilflosigkeit, Selbstwertzweifel, Verhaltensunsicherheit, Sprachlosigkeit, sicherlich auch von Egozentrismus und Egoismus führen, die wir in der gesellschaftlichen Entwicklung beklagen, kann das Konzept der Positive Peer Culture in allen Bereichen des erziehenden Handelns Lösungsansätze für eine positive Wende auch bei uns anbieten. Die Körber-Stiftung, Hamburg hat 2004 die Initiative mit dem Preis des Transatlantischen Ideenwettbewerbs Usable ausgezeichnet. Ziel der Initiative der Körber-Stiftung ist es, "nützliche, brauchbare Ideen und Best Practices, die aus den USA nach Deutschland transferiert werden", im gesellschaftlichen, erziehungswissenschaftlichen und pädagogischen Diskurs bei uns bekannt zu machen und wirksam zu werden. Nicole Unger und Günther Opp als Herausgeber des Buches, haben dafür noch weitere "Peeristen" ins Boot geholt: Lothar Krappmann, Erziehungssoziologe an der Freien Universität Berlin, Eveline Metzen, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Körber-Stiftung, Marion Schmidt, Politikwissenschaftlerin und Journalistin und Jana Teichmann, Erziehungswissenschaflerin in Halle. Das Team will mit der Publikation zum einen die verschiedenen Theorien und Konzepte der PPC vorstellen und sie in den historischen wie aktuellen Kontext stellen; zum anderen - und vor allem - aber soll das Buch den Praktikern in der familiären, schulischen und außerschulischen Bildungs- und Erziehungsarbeit "Einblick in die durchaus fremde Welt der Peergruppen-Treffen bieten", und damit "Zweifel an den Möglichkeiten und der pädagogischen Reichweite von Erwachsenen in der Adoleszenz zerstreuen und konkrete Formen der Entwicklung Positiver Peerkultur beschreiben". Larry Brendtro weist in einem Workshop auf durchaus sich aufdrängende Missverständnisse hin: "PPC is not a permissive, laissez-faire approach but places considerable demands on youth. Although adults remain in charge, young people have the responsibility for helping one anotherÓ. In verschiedenen Ausgrenzungsarenen zeigt Opp die Situationen auf, wie Kinder und Jugendliche in unserer Gesellschaft aufwachsen; etwa durch den Verlust von "pädagogischen Gewissheiten" in der Familienerziehung, von schulischen Ausgrenzungsprozessen, aber auch die immer deutlicher sich darstellenden Probleme bei den Peerinteraktionen. Positive Peer Culture legt dabei den Finger in die gesellschaftlichen Wunden, will allerdings nicht nur die Probleme aufzeigen, sondern "die Kräfte guter Entwicklung, die in jedem Kind angelegt sind, ( ) stärken, die Lebenskrisen und die Probleme ihrer Alltagsbewältigung als Chanen zukünftiger Lebensgestaltung ( ) kultivieren". Die PPC-Theorien und Konzepte helfen dabei mit Zielen, wie Zugehörigkeit erfahren - Leistung steigern sowie Diskursfähigkeit fördern - Autonomie stärken. Biographisches Lernen und Peerbeziehungen erleben sind dabei die Methoden zur Erlangung einer Positiven Peerkultur.
Den Hauptteil des Buches titelt das Autorenteam mit "Praxis der Positiven Peerkultur - Erfahrungen, Reflexionen, Perspektiven". Marion Schmidt und Jana Teichmann beschreiben die verschiedenen Ansätze, Anlässe und Erfahrungen des Peerprojektes einer Förderschule in Halle. "Reden befreit die Seele", so ein Ergebnis; nicht plappern oder schnabulieren, sondern den Kindern einen Raum geben, wo sie reden und sich gegenseitig zuhören können. Auch ein Ergebnis des Projektes: PPC ist nicht überall in gleicher Weise durchführbar: "Man muss das Konzept immer wieder neu und flexibel an die Praxis anpassen". Das erfordert auch, dass sich die Peergruppen gemeinsam erarbeitete und akzeptierte Regeln für die "Peer-Counceling-Gespräche" geben. Das bedeutet aber auch, dass PPC gelernt werden muss, von den Studierenden, wie in Halle beim Seminar "Peer Mediation" und "Peer Counceling" im Rahmen des Studiums der Verhaltensgestörtenpädagogik, wie von den Lehrerinnen und Lehrern für allgemeinbildende Schulen, in der Aus- und Fortbildung. Der Vorschlag für einen Leitfaden, wie Positive Peerkultur in unserem Bildungs- und Erziehungsverständnis etabliert werden kann, ist hilfreich für die Peer-Counceling-Arbeit.
Eine Voraussetzung dafür allerdings ist unablässig und als Reformauftrag zu verstehen: Das deutsche Bildungssystem muss sich von seiner hierarchischen Struktur emanzipieren! Lothar Krappmann plädiert deshalb in seinem Plädoyer für eine Positive Peerkultur in den Bildungs- und Erziehungsprozessen dafür, das allzu lange vergessene Potenzial menschlicher Entwicklung jetzt auszuschöpfen, anzufangen und den Kindern und Jugendlichen Vertrauen entgegen zu bringen und ihnen zu zeigen, dass "die Erwachsenen sie als junge Menschen mit eigener Perspektive akzeptieren". Das Autorenteam lockt und warnt: Sie ermuntern diejenigen, für die Erziehung und Bildung nicht nur Anpassung und kognitive Wissensvermittlung ist, sondern die im "Wachsen lassen" der Heranwachsenden die eigentliche pädagogische und gesellschaftliche Aufgabe sehen, sich im Serviceteil umzusehen und die Konzepte und Erfahrungen bei deutschen und US-amerikanischen Bildungseinrichtungen anzuschauen, die Positive Peer Culture praktizieren. Die Warnungen sind eher Ermunterungen, PPC nicht Allheilmittel für alle pädagogischen Probleme zu sehen, die in der Familie, der Schule und darüber hinaus aufzufassen. Die angebotene Liste der Institutionen umfasst bisher noch nicht all zu viele - vor allem viel zu wenig Schulen in Deutschland. Hier wäre eine notwendige (neue) Curriculumrevision gefordert!
Fazit
Das Buch sollte in den Lehrer- und Schülerbüchereien der allgemeinbildenden, berufsbildenden und Sonderschulen stehen und in den Handapparaten der erziehungswissenschaftlichen Fach- und Hochschulen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 04.04.2006 zu:
Günther Opp, Nicola Unger: Kinder stärken Kinder. Positive Peer Culture in der Praxis. Edition Körber
(Hamburg) 2006.
ISBN 978-3-89684-060-8.
Mit DVD.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3540.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.
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