Tamara Domentat: Lass dich verwöhnen. Prostitution in Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Richard Utz, 06.10.2006

Tamara Domentat: Lass dich verwöhnen. Prostitution in Deutschland. Aufbau-Verlag (Berlin) 2004. 335 Seiten. ISBN 978-3-7466-7046-1. 8,95 EUR.
Ein Gedankenexperiment
Stellen wir uns folgendes (Noch-)Zukunfts-Szenario vor: Im Jahre 2… sucht eine junge Frau unter fünfundzwanzig Jahren ihren Fallmanager bei der Bundesagentur für Arbeit auf. Sie gilt als schwer vermittelbar, weil sie mit ihren Bildungsvoraussetzungen und ihrer Berufserfahrung in den anspruchsvollen Dienstleistungsbranchen des Arbeitsmarktes keine Anstellung erhält und durch niedrig qualifizierte und schlecht bezahlte Dienstleistungen wie Reinigung oder Verkauf oder Gastronomie ihren Lebensunterhalt nicht erwerben will. Das zum x-ten Male novellierte Gesetz zur Modernisierung der Dienstleistungen am Arbeitsmarkt namens Hartz IV plus X stellt die junge Frau vor die Alternative: Entweder sie nimmt jeden Job an, der ihr künftig vom Fallmanager angeboten wird, oder sie verwirkt jeden Rechtsanspruch auf Unterstützung - auch auf Sozialhilfe -, solange sie keinen sozialversicherten Job durch einen Arbeitgeber schriftlich nachweisen kann, gleichgültig wie und unter welchen Umständen sie zu diesem gekommen ist. Nehmen wir weiter an, der Fallmanager ruft während des Gesprächs und mit Zustimmung seiner Kundin eine bisher nicht in Betracht gezogene, weil von der Arbeitslosen abgelehnte Datenbank auf, aus der er ihr folgendes Angebot machen kann: "Club Bel Ami in Y-Stadt, Industriegebiet, sucht ab sofort tabulose Sexarbeiterin für sexuelle Dienstleistungen aller Art. Wir bieten flexible Arbeitszeiten, weitgehende Selbstbestimmung und Freiheit bei der Kundenauswahl und -bedienung, professionelles Arbeitsumfeld und kollegiales Arbeitsklima, lukrative Bezahlung; nach halbjähriger Einarbeitungs- und Probezeit ist wahlweise Zeitvertrag oder feste freie Mitarbeit nach Kundennachfrage möglich. Einschlägige Vorkenntnisse sind nicht erforderlich, Besuch eines Seminars für Neueinsteigerinnen (wird von der Bundesagentur finanziert) bei einer der regionalen Selbsthilfeorganisationen der Sexarbeiterinnen oder der Staatlich anerkannten Sexakademie in V oder W ist obligatorisch. Bewerbungsunterlagen mit Lebenslauf und Bild an Bel Ami, 0000 Y-Stadt etc. ..." Nehmen wir schließlich an, unsere Arbeitslose willigt ein und fährt zum Bewerbungsgespräch, bringt ihre Unterlagen mit und stellt sich den Fragen der Bel-Ami-Betreiber, die - hier brechen wir unser Gedankenexperiment ab und überlassen den weiteren Ablauf des Verfahrens den Phantasien unserer Leserinnen und Lesern.
Sexarbeit als alltägliche Realität
Nimmt man die Thesen von Tamara Domentat beim Wort, dann könnte ein solches Szenario nicht nur in naher Zukunft so oder so ähnlich möglich sein, sondern es sollte ihrer Überzeugung nach auch durchaus so wirklich werden können. Denn Sexarbeit in der Form einer "bewusst gewählten Tätigkeit mit vielen Vorteilen und wenig Nachteilen und die Gäste als Kunden (oder Freunde)", (ebd.: 10) die "... in vielen Segmenten freiwillig, selbstbestimmt und gleichberechtigt abläuft..." (ebd.: 11), ist laut Domentat "alten Vorurteilen"(ebd.) zum Trotz bereits eine "alltägliche Realität" (ebd.). Unter Berufung auf die normative Kraft des Faktischen fordert die Autorin deshalb vehement und gut informiert die überfällige Entdämonisierung und Anerkennung eines "sexualisierten Lebenstil(es), als Recht des einzelnen auf Freiheit und Selbstverwirklichung." (ebd.) Dieser sex- oder prostitutionspolitischen Zielsetzung gemäß hat der vorliegende Text die Form einer Streitschrift, die in 71 Abschnitten 71 Klischees über die Prostitution zerstören und durch realistische Bilder ersetzen will.
Neue Klischees
Um es gleich an dieser Stelle zu sagen: Nach Urteil des Rezensenten zerstört die Autorin weder die anvisierten Klischees, noch ersetzt sie diese durch reale Bilder; vielmehr erzeugt die Autorin wortgewandt und wortgewaltig neue Klischees anstelle der alten und gibt diese suggestiv als Wirklichkeit aus.
- Da ist erstens das methodische Vorgehen der Autorin. Das, was sie Interviews nennt, sind keine wort- und buchstabengetreu wiedergegebene Transkriptionen von Interviews mit Prostituierten, sondern "sinngemäß" zusammengefasste Berichte über Interviews, was einen wichtigen Unterschied macht. Jeder Laie auf diesem Gebiet wird leicht einsehen, dass diese journalistische Methode sozialwissenschaftlichen Standards nicht genügen kann. Nicht der subjektive Sinn, den die Interviewpartnerinnen mit ihrem Handeln verbinden, wird hier korrekt wieder gegeben - jedenfalls kann sich der kritische Leser anhand des Textes vom Gegenteil nicht überzeugen - sondern die sinnhaft geschlossene, um Konsistenz und Widerspruchsfreiheit bemühte Deutung der Autorin. Und das, was mit Hilfe einer solchen Methode erzielt zu werden vermag, ist mit Verlaub nicht Rekonstruktion von Wirklichkeit, sondern Konstruktion von Ideologie, von neuen Klischees, eben das Klischee der Sexarbeiterin, die aus purer Lust am "Sex" einer befriedigenden Arbeit nachgeht, die sehr gut bezahlt ist!
- Da ist zweitens die doch eingeschränkte Gruppe, die der Autorin als ihre ideale Bezugsgruppe vorschwebt, die ihr aber als soziales Vorbild für die gesellschaftlich legitimierte Sexarbeit aller Prostitutionsformen und als Legitimationsbezug für ihre Argumentationen dient: Die großstädtische Berliner Prostitutionssubkultur, die wegen des Wegfalls sozialer Kontrolle durch Sperrgebietsverordnungen seit den Zeiten der Deutschen Teilung sich hatte weitestgehend "frei" entwickeln können. Dabei mag dieses liberale, großstädtische Milieu den autonomen und lustbetonten, freien und sich selbstverwirklichenden Idelatypus von Prostituierter in einer statistisch nennenswerten Häufigkeit hervor gebracht haben - aber auch hier bleibt die Autorin den numerisch belegten Nachweis schuldig. Aus diesem Spezialfall von Prostitution aber einen Realtypus abzuleiten und diesen gar als normatives Vorbild für gesamtgesellschaftliche Entwicklungen für den unüberschaubaren, weil weitgehend doch dunkelfeldgeprägten Prostitutionsmarkt zu nehmen, mag zwar prostitutionspolitisch verständlich sein, gesellschaftspolitisch und sozialwissenschaftlich aber ist diese Vereinseitigung der Prostitutionswirklichkeit nicht seriös.
- Da ist drittens die Demontage der Klischees selber zu kritisieren, die m.E. in vielen
Fällen keine ist. Nehmen wir als eines für viele "Klischee Nr. 6: Geldnot
treibt Frauen in die Prostitution" (ebd.: 48ff). Zur Unterstützung ihrer
Berliner Subkultur-These, nach der Sexarbeit und Prostitution von den
meisten Frauen nicht primär des Geldes wegen, sondern aus den
möglicherweise sozial unerwünschten, aber ihrer Ansicht nach wirklichkeitsnäheren
und uneingestandenen Motiven wie Lust, Experimentierfreude mit dem eigenen
Körper und Selbstverwirklichung gewählt werde, und zwar durch alle
Gesellschaftsschichten hindurch, zitiert Domentatkommerzielle
Privatsender und ihre Lockvogel-Entlarvungs-Praktiken: "Interviewer:
Würden Sie für die Summe von ...€ mit einem Mann schlafen?; Befragte: Ja"
u.ä., Sozialarbeiterinnen und ehemalige Prostituierte, eine Studie, die
neben finanziellen auch "eine Vermischung mehrerer sozialer und psychischer
Motive" (ebd.) bezüglich des Einstiegs in die Prostitution konstatiert
sowie eine Bordellbetreiberin, deren Wunsch, Prostituierte werden zu
wollen, angeblich auf einen Kindheitswunsch zurück gehen soll.
Lässt man die retrospektive Verniedlichung von Prostitution als frommer Kindheitswunsch außen vor, dann ist die Einsicht, dass stets mehrere Motive beim Eintritt in die Prostitution eine Rolle spielen dürften, banal; nicht banal ist allerdings, dass diese zusätzlichen Motive vermutlich erst durch die praktische Ausübung der Prostitution entstehen und nicht bereits vor ihrer Übung da waren, wie etwa der Labeling Approach lehrt. In diesem Zusammenhang wäre dann zu fragen, inwieweit die zusätzlichen Motive wie Lust und körperbezogene Selbstverwirklichung ihrerseits wieder Worthülsen und Deutungsformeln darstellen, die in dem Berliner Sexarbeiterinnen-Milieu zur Verfügung stehen, um die dort in der Praxis gemachten Erfahrungen mit Sexkunden affirmativ zu verarbeiten. Denn die Inanspruchnahme der höchsten Persönlichkeitswerte unserer individualistischen Kultur wie Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung für die Legitimation der Ausübung der Sexarbeit: also für das Anbieten oder Einsetzen des eigenen Körpers zwecks sexueller Befriedigung von Kunden vertragen sich nur schwer mit Erlebnissen im Alltag der Prostitution, die sich eher als Ekel erregend, frustrierend oder gar als gewaltsam beschreiben lassen. Sie sind denn auch schwer vereinbar mit derjenigen Positivität, die aus dem milieu-ideologisch zu Legitimationszwecken in Anspruch genommenen Begriff des selbst bestimmten Handelns normativ hervorgehen sollte. Außerdem: Folgt man anderen empirisch-methodisch seriösen Studien wie der von Martina Schuster über die Sexarbeit in Nürnberg (vgl. die Rezension), so findet man als primäres und auch unzweifelhaftes Motiv für Sexarbeit das Geld. Und wenn neben Geld noch andere, sekundäre Motive für die Ausübung von Sexarbeit sich einstellen sollten, dann wäre bei kritischer Betrachtung immerhin zu prüfen, ob es sich bei diesen Motivkonstrukten um Rationalisierungen handelt.
- Da ist schließlich viertens die von Domentat gelieferte Deutung der Sexarbeit als der
unter den Bedingungen einer "medial durchsexualisierten Gesellschaft"
(ebd.) einzigen noch authentischen Form von Sexualität für Frauen,
weil romantische Liebe und sexuelle Treue Fiktionen darstellten, weil die
Privatheit der Liebe als eine konsumenthobene und kommerzfreie Zone (ebd.:
13) illusionär ist, weil die Partnersuche immer "darwinistischer"
ausfalle, also die reichsten, schönsten, angesehensten und jüngsten Männer
und Frauen auf den Partner- und Heiratsmärkten am erfolgreichsten agierten
usf. Sexarbeit im Sinne Domenats
ist dann die ehrlichste, einzig erfüllende und emanzipatorisch korrekte
Form der Ausübung von Sexualität für Frauen, weil eine nicht vom
kapitalistischen Verwertungszusammenhang penetrierte Form der Sexualität,
die sich ihrer Verkaufs- und Kommerzialisierungslogik widersetzt, nicht
mehr denkbar, oder wenn doch, so als irrational oder illusionär begriffen
werden muss.
Dem widerspricht der vorhin erwähnte Wert der Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, auf den sich die Argumentationen der Autorin stützen: Wenn dieser nur darauf reduziert würde, dass Frauen unter Berufung auf sie sich in Fragen der Liebe, Erotik und Sexualität ausschließlich für die durch Sexarbeit produzierte Form des "Sex", also einer libidinösen "Sex"- Ware entscheiden dürften, dann wäre diese Art von Selbstbestimmung und -entfaltung tatsächlich extrem verengt und verkümmert. Weshalb können Frauen über den Weg des Selbstbewusstseins und der Selbstbestimmung Frauen nicht ebenso sexuell-erotische Haltungen und Praktiken oder "sexuelle Revolutionen" motivieren und leben, die radikal anti-kommerziell und anti-kapitalistisch ausgerichtet sind? Was spricht gegen eine Aufwertung der Liebe oder einer Aufwertung der Erotik von Frauen und Männern, die beide von Domentat ausschließlich auf "Sex" reduziert und damit vernachlässigt werden und somit in ihrer Bedeutung für befriedigende Sexualität nicht erkannt und gewürdigt werden?
Aber um die luststiftende und lustermöglichende Funktion von Liebe und Erotik zwischen Mann und Frau geht es Domentat auch nicht, sondern um die gesellschaftliche Anerkennung der Prostitution in der Form der Sexarbeit als legitimem Beruf. Und Sexarbeit hat, wie das Wort schon sagt, primär mit Lust aus Arbeit und nicht mit Lust aus Liebe oder Erotik zu tun. Domentat stellt daher einen Typus der Sexuallust als erstrebenswert hin, der Warencharakter hat und nicht zwingend mit dem Charakter von Liebe und Lust in intimen und ökonomiefernen Beziehungen vergleichbar sein muss. Das Provozierende ihrer Thesen besteht darin, dass sie zwar der Ware Sexualität, die die Sexarbeiterinnen professionell anbieten, die Weihe der Selbstbestimmtheit und die Wertigkeit von Authentizität zugestehen und ihr das Stigma Makel der Entfremdung und Verachtung nehmen will, um deren Anspruch auf legitime Anerkennung ihres Gewerbes "lustpolitisch" durchzusetzen. Dies tut sie aber auf Kosten einer Abwertung und Disqualifizierung nichtkommerzieller, ehelicher oder außerehelicher, durch Liebe und Erotik entstandener sexueller Lust, für die Selbstbestimmungs- und Selbstentfaltungswerte mindestens mit dem gleichen Recht in Anspruch genommen werden können. Eine solche Argumentation hat die humane und seriös vorgetragene Forderung nach gesellschaftlicher Legitimierung von Prostitution nicht nötig und hilft ihr in dieser Einseitigkeit nicht unbedingt. Denn gerade das Berliner Beispiel zeigt doch, dass eine Liberalisierung der Prostitution nicht zu ihrer Omnipräsenz in der Öffentlichkeit führt, sondern eher zum Rückzug in quasiprivate Räume, um auf dem öffentlichkeitsfernen Markt in Ruhe ihren Mehrwert abschöpfen zu können.
Ob die kommerzielle Verwertung der eigenen Körpersexualität in Warenform Ausdruck von Selbstbestimmung und Freiheit weiblicher Emanzipation oder aber deren krasses Gegenteil darstellt, ist in der Tat ein Wertekonflikt, dessen Spannung nicht zu Gunsten der einen oder anderen Position entschieden, sondern ausgehalten und durch permanente Diskussion und Kompromissbildung immer wieder aufs Neue gesellschaftspolitisch verhandelt werden sollte. Dass dabei Selbstbestimmung und Selbstentfaltung von Individuen, Mann oder Frau, der höchste Bezugswert bleiben muss, steht außer Frage. Dies schließt aber auch ein, dass die Selbstbestimmung hinsichtlich der eigenen Körperlichkeit und Sexualität sich sowohl dezidiert für, als auch gegen Sexarbeit aussprechen kann. Und das bleibt letztlich entscheidend auch mit Blick auf das eingangs skizzierte Zukunftsszenario.
Fazit
Tamara Domentats Buch ist ein brillant geschriebener, lesenswerter und zu Diskussionen anregender Essay in Sachen Legitimierung von Sexarbeit, wenn auch m.E. die Polemik der Argumentation falsche Oppositionen zu Liebe, Erotik und Lust aufmacht, die sich nicht dem professionell zu Verkaufszwecken primär produzierten, funktional spezialisierten Arbeitssex verdanken.
Rezension von
Prof. Dr. Richard Utz
Hochschule Mannheim, Fakultät für Sozialwesen
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