Uwe Kemmesies: [...] Drogenkonsum im bürgerlichen Milieu
Rezensiert von Prof. Dr. Stephan Quensel, 28.02.2006
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Uwe Kemmesies: Zwischen Rausch und Realität. Drogenkonsum im bürgerlichen Milieu. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2004. 298 Seiten. ISBN 978-3-531-14187-9. 28,90 EUR. CH: 50,50 sFr.
Thema
Die übliche drogenpolitische Sicht gehorcht noch immer einer doppelten Perspektive. Einerseits soll ein nicht frühzeitig gestoppter Drogenkonsum mehr oder weniger geradlinig in einer Sucht-Karriere enden, weswegen man mit einer möglichst früh einsetzenden Sucht-Prävention reagiert, um diesen „Einstieg“ zu vermeiden. Andererseits soll eine aufwendig inszenierte Repression general- und spezial-präventiv solchen Konsum wie auch das durch Produktion und Verteilung („Dealen“) erreichte Angebot unterbinden, weswegen man Verfolgung und Strafe auch international ständig zunehmend qualitativ und quantitativ intensiviert.
Die übliche Drogenforschung folgt dieser Sicht, wobei sie zumeist auf die in einschlägigen Institutionen verwahrten „gescheiterten Drogen-Experimente“ zurückgreift, sofern sie nicht in den beliebten Bevölkerungsumfragen theorielos und lamentierend das ständige Ansteigen und Jüngerwerden der Drogenkonsumenten „konstatiert“. Sie folgt dieser Sicht und belegt – richtig gelesen - das doppelte Scheitern dieser Sucht- und generalpräventiven Politik: Trotz (oder wegen?) zunehmender Sophistikation von Prävention und Repression steigt der Konsum, ohne doch in massiver Süchtigkeit zu enden. Qualitative Studien dagegen, die diese „Normalization of adolescent recreational drug use“ [1] untersuchen, gibt es nur vereinzelt. Die Untersuchung der Auswirkung repressiver Drohungen im Drogenalltag fehlt fast vollkommen [2].
Untersuchungsansatz
Die von Kemmesies vorgelegte UMID-Studie aus dem Frankfurter Raum aus den Jahren 1997 bis 2000 füllt für Deutschland diese Lücke. Sie erfasste 169 Konsumenten illegaler Drogen, um mit Hilfe eines „fokussierten“ qualitativen Interviews und eines zusätzlichen „standardisierten fragebogengestützten Interviews“ u.a. das „Vermittlungsgeschehen zwischen formeller und informeller sozialer Kontrolle“ zu untersuchen: „Wie werden die spezifischen Rechtsregelungen des BtmG erlebt bzw. in der Alltagspraxis umgesetzt? Wodurch wird das Drogenverbot im Alltagsgeschehen außer Kraft gesetzt“ (S.15).
Die – zumeist polyvalent – Konsumierenden mussten jeweils mindestens 10 mal (davon 1 mal im vergangenen Jahr) Cannabis (N= 51), Ecstasy (57), Kokain (50) oder Opiate (11) genommen haben. Sie wurden durch eine parallelisierte Stichprobe von 40 Nicht-Konsumenten (Alter, Geschlecht, Schulbildung) ergänzt und wurden überwiegend im Schneeballverfahren gewonnen. Diese Gruppen (Durchschnittsalter: 31;4 Jahre) standen jeweils in einem geregelten Beschäftigungsverhältnis und hatten bisher nie eine professionelle therapeutische, auf den Drogenkonsum Bezug nehmende therapeutische Behandlung durchlaufen.
Forschungsdesign und Ergebnisse
Nach einem ausgezeichneten Überblick über den (etwas zurückliegenden) Forschungsstand, der zugleich recht schön zeigt, wie so ein erfolgreicher Forschungsantrag auszusehen hat, werden zunächst das Forschungsdesign und die einschlägigen biographischen Standard-Daten dargestellt, die bestätigen, dass es den Forschern mit großem Aufwand gelungen ist, einen „Zugang zu sozial integrierten Konsumenten illegaler Drogen jenseits drogengebrauchsfixierter, marginalisierten Konsumentengruppen“ zu finden (259).
In der durch breite O-Ton-Zitate unterlegten, statistischen Analyse unterscheidet Kemmesies(113f) - neben Konsumenten und Nicht-Konsumenten - einerseits zwischen den „weichen“ Cannabis-Konsumenten und den restlichen Konsumenten „harter“ Drogen und sodann – nach der Anzahl der Lebenszeiterfahrungen mit harten Drogen - zwischen „experimentellen“, erfahrenen“, routinierten“ und „Intensiv-Konsumenten“ (mindestens eine harte Substanz häufiger als 200 mal). Gruppen, die sich im Ausmaß legalen Drogenkonsums und Anzahl konsumierter Substanzen (190), Einstiegsalter und Dauer, Erfahrung von Drogenabhängigkeit (172), Kontakt mit Polizeibehörden (200) und Erfahrung mit Dealtätigkeit (228) jeweils deutlich, statistisch signifikant voneinander unterscheiden ließen, wobei der Opiat-Gebrauch als „junkie-typisch“ trotz vorhandener Erfahrung eher abgelehnt wurde. Bei der Frage nach ihrem Wohlbefinden wie in einer Zuordnung zu einem sog. „Selbstverwirklichungsmilieu“ [3] - dem “ lebensstilistischen Oszillieren zwischen den Welten des Konventionellen und Un-Konventionellen“ (274), etwa auch in der Musik- und Werte-Orientierung sowie im politischem Engagement – unterschieden sich diese Gruppen jedoch ebenso wenig, wie in ihrer (stichprobenspezifischen) Einordnung in das bürgerliche „Berufs„-Leben.
Eindrucksvoll belegen die Befunde, wie sehr der Drogenkonsum eingebettet ist in die jeweils vorgegebene soziokulturelle Lebenswelt: Nicht die Droge ist „biographieprägend“ (96; 266), wie wir dies aus den Junkie-Karrieren kennen, sondern Art und Ausmaß des – legalen wie illegalen - Drogenkonsums ist jeweils auf die aktuelle Lebenssituation abgestimmt: Der zum Teil erhebliche Konsum „hat den Lebensverläufen kaum einen nachhaltigen Richtungswechsel gegeben, sondern wurde vielmehr auf biographische Veränderungen abgestimmt“ (173).
Dieser Drogenkonsum ist funktional, man „genießt“ ihn, entspannt sich und macht neue Erfahrungen. Überzeugend demonstriert dies ein Polaritätsprofil im Vergleich zwischen aktueller Befindlichkeit und Befindlichkeit nach Konsum der Lieblingsdroge: „Die auffälligen Positivausschläge … in Richtung „Zufriedenheit“, „Entspannung“ und „Verspieltheit“ entsprechen augenscheinlich dem alltagskompensatorischen, auf Rekreation ausgerichteten Funktions- bzw. Erwartungsspektrums des Drogenumgangs“ (239).
Selbst ein zeitweiliges Entgleiten in einen intensiveren Konsum erfolgt weniger in „kritischen“ Lebensabschnitten, sondern eher im Gefolge neuer Partnerschaften oder einer Veränderung des relevanten Milieus (insb. Techno-Szene)(171f).
Auch die jeweilige Drogen-Präferenz folgt diesem Schema: Einerseits meidet man einen intensiveren Opiat-Konsum, den man der fremden Junkie-Szene zuschreibt. Andererseits verzichtet man im Übergang in eigenfamiliäre und berufliche Bezüge schrittweise auf den Konsum härterer illegaler Drogen, um moderat verstärkt auf den legalen Alkohol zurückzugreifen. Und zwar, wie Kemmesies zu Recht bemerkt, weniger als ein „maturing out“, denn als Folge eines „settling in“ und „arranging with“ (250,255f).
Man erlernt den Konsum in Eigenerfahrung bei sich oder aus dem sozialen Nahraum (129), wobei die „Illegalen“ stärker von Gleichaltrigen und Partnern beeinflusst werden (die berühmte peergroup gibt es auch bei Älteren), während die „Legalen“ und „Nicht-Konsumenten“ eher dem elterlichen Vorbild folgen (133), obwohl auch in ihrem sozialen Umfeld der Umgang mit illegalen Drogen keineswegs selten ist: „Offensichtlich geht ein hoher Verbreitungsgrad illegaler Drogen im sozialen Umfeld weder zwangsläufig mit Neugierde noch mit einem konkreten Konsumwunsch einher“ (141). Dabei folgen beide Gruppierungen mehr oder weniger bewusst – im Rahmen „differentieller Assoziation“ bzw. „differentieller Abgrenzung“ ˆ la Sutherland – jeweils den Vorgaben ihrer jeweiligen Bezugsgruppe (141;264).
Man steigt aus Neugier ein (118) oder bleibt - spiegelbildlich - aus Desinteresse abstinent bzw. hört langsam auf, weil Interesse und Bedürfnis schwinden: „Auffällig ist die häufig beobachtbare „motivationale Umkehrung“ im Zusammenhang mit Abstinenzphasen oder einer Konsumreduktion. Letztlich bewirken vielfach die gleichen Motivkategorien, die die Konsumaufnahme motivierten, wiederum den Konsumausstieg bzw. die vorübergehende Abstinenz“ (183).
Die Strafdrohungen des BtmG spielen dagegen anfänglich – bei Beginn – weder bei den Konsumenten noch bei den Nicht-Konsumenten irgendeine nennenswerte Rolle; so wenig, dass die zunächst erwarteten „Neutralisations-Techniken“, etwa einer Rechtfertigung, in den Interviews nahezu völlig ausblieben (124). Kontrollen stammten – selbst in Phasen des Abgleitens – eher dem „internal locus of control“, wenn auch die Interviewten - wie schon Birgitta Kolte bei ihren Langzeit-Cannabis-Konsumentinnen feststellte [4] - selber kaum ausdrücklichen Kontroll-Regeln folgten; ein Sachverhalt, den die einschlägige Forschung allzu leicht übersieht, denn hier gilt „die Konstatierung einer bewussten Drogengebrauchskontrolle … wie der Gegenentwurf zum – von den Konsumenten vielfach „bewusst“ gesuchten – Verlust der Kontrolle unter Substanzwirkung“ (192).
Erst in späteren familiär und beruflich geprägten Phasen zeigt das BtmG Wirkung; sei es im verstärkten Übergang zur „halblegalen“ Droge Cannabis oder zum Alkohol (191), sei es im Rückzug auf den privateren Konsumbereich – im Gegensatz zur „Kneipenkultur“ – und vor allem in der „rational-choice„-bedingten Vorsicht im riskanteren Dealer-Dasein: „Ganz im Sinne eines „rational choice“, einer Kosten-Nutzen-Analyse werden offenbar die Risiken einer strafrechtlichen Verfolgung gegenüber den Aussichten auf einen höheren Gewinn gegeneinander abgewogen“ (234).
Fazit
Kurz und gut, ein Buch, das man gerne Drogenpolitikern in die Hand drücken würde, doch verlassen sich diese, vorsichtiger Weise, leider lieber auf die Sucht-Reports ihrer Drogen-Beauftragten.
[1] So der Titel der Untersuchung von H. Parker, J. Aldridge, F. Measham London 1998
[2] vgl. dazu die Analyse einer Drei-Städte-Studie in Borchers-Tempel, S; Kolte, B.: Cannabis Consumption in Amsterdam, Bremen and SanFrancisco: A Three City Comparison of Long-term Cannabis Consumption. In: Journal of Drug Issues 2002: 395-412
[3] à la G.Schulze: Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt 1993
[4] „Was für einen Sinn hat es, immer nüchtern zu sein?“, Berlin 1996
Anmerkung der Redaktion: Diese Rezension wurde in leicht modifizierter Version zuerst (Februar 2005) im Archiv und Dokumentationszentrum für Drogenliteratur ARCHIDO veröffentlicht. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Rezensenten.
Rezension von
Prof. Dr. Stephan Quensel
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Zitiervorschlag
Stephan Quensel. Rezension vom 28.02.2006 zu:
Uwe Kemmesies: Zwischen Rausch und Realität. Drogenkonsum im bürgerlichen Milieu. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2004.
ISBN 978-3-531-14187-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3600.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
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