Kurt Witterstätter: Soziologie für die Pflege
Rezensiert von Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter, 29.08.2006

Kurt Witterstätter: Soziologie für die Pflege. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2004. 2., erweiterte Auflage. 226 Seiten. ISBN 978-3-7841-1516-0. 16,00 EUR. CH: 26,80 sFr.
Autor
Kurt Witterstätter, Diplom-Sozialwirt und Lehramtsassessor, lehrte bis 2004 als Professor für Soziologie, Sozialpolitik und Gerontologie an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigshafen.
Zielgruppe
Witterstätters "Soziologie für die Pflege" ist ein klassisches soziologisches Lehrbuch für Pflegeberufe und richtet sich somit gleichsam an Schüler/innen an Pflegefachschulen wie auch an Studierende der Pflegewissenschaft an (Fach-)Hochschulen. Mit diesem Buch soll "[e]in Beitrag zu Fundierung und Qualifizierung der Pflege für Ausbildung und Studium (…) unter soziologischen Gesichtspunkten vorgelegt werden" (S. 9).
Aufbau
Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel (1. Einführung in die Soziologie, 2. Die verschiedenen Ansätze der Soziologie, 3. Die soziale Organisation der Pflege, 4. Die Professionalisierung der Pflege, 5. Folgerungen aus der lebensweltlichen Dimension von Gesundheit), denen dann noch ein Literaturverzeichnis, ein Glossar der wichtigsten Begriffe sowie ein Stichwortverzeichnis folgen.
Die Pflege ist seit Jahren ein expandierendes Feld. Die sich in diesem Rahmen entwickelnde Pflegewissenschaft schickt sich an, aus dem Schatten der Medizin herauszutreten und sich als eigenes soziales Feld oder soziales System zu konstituieren. Doch noch "ist diese Leit- und Reflektionswissenschaft der Pflege nicht als geschlossenes System entwickelt" (S. 7). Pflege steht aber nicht nur in Referenz zur Medizin, sondern auch zu den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften. Auf diesem Hintergrund betrachtet Witterstätter die Soziologie als eine "Leitwissenschaft für die Pflege" (S. 7) und geht entsprechend auch den verschiedenen Bezügen zwischen Pflegetheorien und soziologischer Erkenntnis nach, wenn er versucht, "Fäden zwischen interaktionistischer und system-betrachtender Soziologie auf der einen und kommunikations-reflektierenden und umfeld-beachtenden pflegerischen Postulaten auf der anderen Seite zu knüpfen" (S. 7).
Inhalt
- Im ersten Kapitel (Einführung in die Soziologie) werden zunächst das "soziologische Denken", die Gegenstandsbereiche, Grundannahmen und Erkenntnisquellen der Soziologie vorgestellt, bevor dann eine erste "Annäherung an eine Soziologie der Pflege" (S. 21ff.) unternommen wird. Eine solche, so betont der Autor zu Recht, existiere zwar noch nicht als eigenständige Bindestrich-Soziologie, doch lassen sich aus verschiedenen Teilsoziologien (etwa aus der Arbeit-, Berufs- und Organisationssoziologie, Alterns-, Kultur- und Medizinsoziologie) "pflegesoziologische Aussagen" herleiten, die dann in den weiteren Kapiteln präzisiert werden.
- Das zweite Kapitel gilt den "verschiedenen Ansätzen der Soziologie". Aus dem reichhaltigen Repertoire soziologischer Theoriebildung hat Witterstätter a) die Ansätze aus der verstehenden und lebensweltlich beschreibenden Soziologie, b) die interaktionistischen und handlungstheoretischen sowie c) funktionalistische und systemtheoretische Ansätze ausgewählt und in pflegerelevante Bezüge gesetzt. Auf diesen Folien werden u.a. die idealtypische Konstruktion von gesund/krank, der gesundheitswissenschaftliche Paradigmenwechsel zur Salutogenese (Antonowsky), die sich historisch verändernden Pflegeleitbilder sowie die für die Pflege relevanten biografischen Lebensereignisse behandelt. Aus interaktionistischer Sicht werden das pflegerische Beziehungsgefüge in den Institutionen (hier vor allem im Kontext des Konzeptes der "totalen Institution"), das Coping- und Compliance-Verhalten der Patienten sowie die Einflüsse des symbolischen Interaktionismus auf die Pflegetheorien von Peplau, Orlando und Fawcett dargestellt. Aus der strukturfunktionalen und systemtheoretischen Perspektive werden die Zusammenhänge von organisierter Hilfe, Krankheit und sozialer Schicht sowie die sozialintegrative Funktion von familialer, nachbarschaftlicher, ehrenamtlicher und professioneller Hilfe in den Blick genommen. Fernerhin werden die sich an der strukturfunktionalen Theorie von Parsons anlehnende Pflegetheorie von Orem wie auch die systemtheoretisch angelegten Pflegetheorien von King und Parse kurz vorgestellt.
- In Kapitel drei geht es um "Die soziale Organisation der Pflege". Im Fokus stehen hier vor allem die Organisationsformen der Krankenhäuser, Pflegeheime und Sozialstationen. Der Autor führt in anschaulicher Weise in die einzelnen Funktionsbereiche, Aufbau-, Ablauf- und Arbeitsorganisationen der jeweiligen Einrichtungen ein und diskutiert die unterschiedlichen Rollen von Ärzten, Pflegepersonal, Patienten und Angehörigen. Er zeigt, dass auch Pflegeeinrichtungen dynamische Gebilde sind, die im Kontext verändernder Umwelten nicht nur ihre Organisationsziele modifizieren, sondern durch Organisationsentwicklung auch ihre internen Strukturen und Prozesse verändern.
- Das vierte Kapitel befasst sich mit der "Professionalisierung der Pflege". Witterstätter zeigt zunächst den Unterschied zwischen Verberuflichung und Professionalisierung auf und behandelt dann im Einzelnen die Fragen nach dem systematisierten Wissen, der Autonomie und nach dem Berufsethos in der Pflege. In diesem Kontext führt uns der Autor nicht nur zur ganzheitlichen, patienten- und biografieorientierten Pflege, sondern auch in die Problematik des autonomen Pflegehandelns, des Burnout-Syndroms sowie in den immer wichtiger werdenden Bereich der transkulturellen Pflege ein.
- Das abschließende fünfte Kapitel behandelt die "Folgerungen aus der lebensweltlichen Dimension von Gesundheit".Hier führt der Autor zunächst kurz in die verschiedenen Formen der Prävention ein und stellt das gegliederte System der Rehabilitation dar. Sodann zeigt er - unter dem Hinweis, dass die "Einrichtungen der offenen Krankenhilfe und -pflege (…) noch stark unterprofessionalisiert (sind)" (S. 192) - die Schnittstellen zwischen stationärer und ambulanter Versorgung auf und schließt mit der Problematik der Sterbehilfe und Sterbebegleitung.
Einschätzung
Witterstätters Buch ist keine Soziologie der Pflege, sondern eine "Soziologie für die Pflege". Es geht also nicht um eine soziologische Analyse der Pflege - ob nun als soziales Struktur-, Handlungs- oder Deutungsgefüge -, sondern um die Handreichung soziologischen Grund- und Verwendungswissens für die Pflege. Pflege ist - und darauf hätte m.E. noch etwas stärker rekurriert werden können - ein komplexes Beziehungs- und Bedingungsgefüge auf verschiedenen Ebenen. Mit Pflege wird sowohl die unmittelbare pflegerische Arbeit "an der Bettkante" als auch ein nach Autonomie strebender gesellschaftlicher Teilbereich bezeichnet. Zudem ist Pflege ein eigenes Wissenssystem, das in Ausbildung und Studium vermittelt wird. Witterstätter konzentriert sich im Wesentlichen auf die Interaktions- und Organisationsebene der Pflege. Das ist im Bezug zum Titel des Buches - "Soziologie für die Pflege" - durchaus konsequent, wenn man pflegerisches Handeln als Beziehungs- und Organisationsarbeit versteht, das als solches auch immer auf Interpretation, Deutungs- und Sinnverstehen ausgerichtet ist. Der Autor greift jedoch im Rahmen seiner Einführung in die verschiedenen Ansätze der Soziologie auch auf den strukturfunktionalen und systemtheoretischen Ansatz als so genannte grand theories zurück. Da hätte es nahe gelegen, die Pflege noch stärker als einen sich konstituierenden gesellschaftlichen Teilbereich zu akzentuieren, zumal es hier durchaus einschlägige Publikationen gibt, in der die Pflege als ein "sekundäres Funktionssystem" (Hohm) betrachtet wird. Es überrascht auch ein wenig, dass der ethnomethodologischen Blick auf die "Fremde Welt Pflegeheim" (Koch-Straube) und vor allem der in der anglophonen Pflegewissenschaft häufig rezipierte Ansatz von Foucault nicht aufgegriffen wurden. Damit wird zugleich die Chance vertan, das in der Pflege stets virulente Machtgefüge zwischen Pflegenden und Gepflegten ins soziologische Visier zu rücken. Auch das für die Soziologie klassische Thema der sozialen Ungleichheit hätte noch stärker auf die Pflege fokussiert werden können. Witterstätter greift das Thema zwar im Kontext der Diskussion um "Krankheit und Sozialschicht" (S. 75ff.) auf, doch auch wenn es zu dem Thema "Pflege und soziale Ungleichheit" noch gehörigen Forschungsbedarf gibt, so liegen doch bereits vereinzelte Studien zu den unterschiedlichen Pflegearrangements (Schneekloth) und sozio-kulturellen Pflegemilieus (Blinkert, Klie) in den verschiedenen sozialen Schichten vor, die in einer "Soziologie für die Pflege" nicht verschwiegen werden sollten.
Nun lässt sich im Nachhinein stets gut brüllen und manches bekritteln: Es ist wie immer eine Frage der Perspektive. Als soziologisches Lehrbuch für einen (fach)hochschulischen Studiengang Pflegewissenschaft ist das Buch nur bedingt tauglich, weil einige zentrale soziologische Anteile am Pflegediskurs unberücksichtigt bleiben. Das Buch liefert zwar allgemeines und spezifisches Grundlagenwissen, mit dem spezielle soziale Gebilde (Pflegeeinrichtungen) und soziale Prozesse (Gesundheit/Krankheit) analytisch dargestellt werden. Doch es fehlt die Einführung in und Anwendung von neuere(n) soziologische(n) Denkmodelle(n) - z.B. die Strukturierungstheorie von Giddens, die Feldtheorie von Bourdieu, die Figurationstheorie von Elias -, mit denen die Relationalität und Verflechtung der verschiedenen (personale, interaktive, organisationale, gesellschaftliche) Pflegeebenen hätten kritisch reflektiert und analytisch durchdrungen werden können.
Fazit
Als soziologisches Schulbuch für die fachschulische Pflegeausbildung ist das Werk gut geeignet. Denn es führt in leicht verständlicher Sprache in die Grundthematik ein, arbeitet didaktisch klug mit Fallbeispielen, illustriert an den richtigen Stellen mit übersichtlichen Schaubildern und liefert für den schnellen Zugriff ein Glossar der wichtigsten Begriffe. Als soziologisches Lehrbuch für einen (fach)hochschulischen Studiengang Pflegewissenschaft ist das Buch nur bedingt tauglich.
Rezension von
Prof. Dr. habil. Klaus R. Schroeter
Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW)
Hochschule für Soziale Arbeit,
Institut Integration und Partizipation
Professur für Altern und Soziale Arbeit
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