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Frank Schulz-Nieswandt, Ursula Köstler: Bürgerschaftliches Engagement im Alter

Rezensiert von Prof. Dr. Michael Vilain, 03.12.2012

Cover Frank Schulz-Nieswandt, Ursula Köstler: Bürgerschaftliches Engagement im Alter ISBN 978-3-17-018209-7

Frank Schulz-Nieswandt, Ursula Köstler: Bürgerschaftliches Engagement im Alter. Hintergründe, Formen, Umfang und Funktionen. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2011. 239 Seiten. ISBN 978-3-17-018209-7. 26,90 EUR.
Reihe: Grundriss Gerontologie - Band 20. Kohlhammer-Urban-Taschenbücher - Band 750 - Psychologie.

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Thema

Bürgerschaftliches Engagement im Alter. Hintergründe, Formen, Umfang und Funktionen.

Autor und Autorin

Prof. Dr. Frank Schulze-Nieswandt ist Geschäftsführender Direktor und Professor am Seminar für Sozialpolitik der Universität zu Köln. Dr. Ursula Köstler ist am gleichen Seminar wissenschaftliche Mitarbeiterin.

Entstehungshintergrund

Das vorliegende Werk ist als Lehrbuch vor dem Hintergrund gebündelter Erfahrung aus Forschung und Lehre der beiden Autoren an der Schnittstelle des Seminars für Sozialpolitik und des Seminars für Genossenschaftswesen der Universität Köln entstanden. Es ist in der Reihe „Grundriss Gerontologie“ bei Kohlhammer erschienen.

Aufbau

Strukturell gliedert sich die Arbeit in drei Analyseschritte (vgl. S. 15).

  1. Zunächst werden die Gesellschaftlichen Kontextvariablen des Themas Bürgerschaftliches Engagement im Alter bestimmt (Teil I). Dazu werden die Herausforderungen und Potentiale des Engagements im Alter dargestellt und gesellschaftliche wie politische Reaktionen auf die geänderten Bedingungen reflektiert.
  2. Im nächsten Schritt werden theoretisch und empirisch unterfüttert die Konturen eines „Bürgerschaftlichen Engagements“ gezeichnet (Teile II und III).
  3. Schließlich werden im Rahmen einer Politikanalyse die Interpretations- und politischen Reaktionsmuster sowie Möglichkeiten der Förderung des Engagements dargelegt (Teile IV bis VI).

Die drei Analyseschritte werden in sechs Teilen organisiert:

  • Teil I: Gesellschaftliche Hintergründe
  • Teil II: Gestaltlehre (Morphologie und Theorie des bürgerschaftlichen Engagements im Alter)
  • Teil III: Zur Empirie des bürgerschaftlichen Engagements im Alter
  • Teil IV: Funktionen des bürgerschaftlichen Engagements im Alter
  • Teil V: Politik und Förderung der Anerkennung
  • Teil VI: Ausblick – zur Zukunft des Alters und seine Praxisformen des bürgerschaftlichen Engagements

Inhalt und Diskussion

Ein wesentliches Ansinnen des Werkes ist es, die tiefere „kulturelle Grammatik“ des Engagements im Alter zu begreifen (vgl. S. 9 oder 19). Ausgangspunkt ist ein kultursemiotischer Zugang zur Kulturwissenschaft, der davon ausgeht, dass das „ganze Thema des bürgerschaftlichen Engagements […] eine gesellschaftliche Inszenierung [ist]“ (S. 19). Die Akteure inszenieren demnach wie in einem Theaterstück Handlungssituationen und konstruieren so erst soziale Wirklichkeit. Diese Inszenierungen sind jedoch nur begrenzt gestaltbar, folgen vielmehr einer „Grammatik“ aus Normen und Regeln, die sich in Form von Symbolen zeigt und wissenschaftlich über diese rekonstruiert werden muss. Damit legen Schulze-Nieswandt und Köstler einen spannenden und vielversprechenden Zugang zum Untersuchungsgegenstand, der zugleich den Rahmen für eine mehrdimensionale und multidisziplinäre Betrachtung vorgibt.

Teil I: Einbettung des Themas in einen gesellschaftlichen Kontext (Kapitel 1-4). In einem ersten Schritt wird der Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Konstruktion von Altersbildern und dem Diskurs zum bürgerschaftlichen Engagement im Alter hergestellt (Kapitel 1). Auf der Grundlage neuerer gerontologischer Erkenntnisse wird die bisher überwiegende, defizitäre Sicht auf das Alter entlarvt. Reaktionsweisen wie Infantilisierung oder gut meinende Überfürsorglichkeit gegenüber Älteren werden als Konsequenz dieser Sichtweise diskutiert. Als Gegenentwurf wird das Bild einer großen Vielfalt und Gestaltbarkeit des Alters gezeichnet, das sich aus individuellen Biographien und Ressourcen sowie deren sozialer und ökonomischer Rahmung ergibt. Die Beurteilung des Alterungsprozesses auf der Basis eines kalendarischen Alters in einer linearen Zeitlogik wird so zurückgelassen. Damit wird der Blick von vermeintlich gesetzlich ablaufenden biologischen Alterungs- und Abbauprozessen auf die individuelle und soziale Lebenswirklichkeit gelenkt. So öffnen sich Bilder des Alterns auch dem real beobachtbaren Phänomen der „jungen Alten“, die schon heute als Leistungs- und Wissensträger oder zumindest als Konsumenten gefragt sind und die dem Zerrbild von Hilfebedürftigkeit, Schwäche und Bedürftigkeit entgegengesetzt werden müssen. Steigende Lebenserwartung, verbesserter durchschnittlicher Gesundheitszustand und frühere Verrentung schaffen vielmehr eine nachberufliche Phase der „späten Freiheit“ (vgl. S. 40 f.) (Kapitel 2). Sie wecken in Verbindung mit den erworbenen geistigen, körperlichen und materiellen Potentialen der Senioren, Hoffnungen in Richtungen auf ein stärkeres Engagement für sich selbst und andere. Zugleich sind mit der Bewältigung des Alterungsprozesses jedoch auch zahlreiche Herausforderungen körperlicher und seelischer Art verbunden. Dies erzeugt eine Ambivalenz, die sowohl in der Debatte um das Engagement Älterer wie auch staatlichen Lösungsansätzen von hoher Relevanz ist und den Blick auf aktuelle Sozialstaatsdiskurse lenkt. Im Mittelpunkt steht dabei die Vorstellung eines Wohlfahrtspluralismus (Kapitel 3). Gemäß dieser Idee, die ihren Ausdruck unter anderem in der sogenannten „Dritten-Sektor-Theorie“ findet, erfolgt Wohlfahrtsproduktion nicht nur in Markt und Staat, sondern auch in einem auf Gegenseitigkeit und Solidarität fußenden, intermediären Bereich der Gesellschaft. Dieser begründe sich gerade in der kritischen Abkehr vom liberalen und utilitaristischen Paradigma eines normativen Individualismus und fuße auf Ansätzen des Kommunitarismus. Damit ist ein Sammelbegriff verschiedener Theorien angesprochen, denen die starke Affinität zu modernen Formen der selbstorganisierten Vergemeinschaftung gemeinsam ist und die sich aus unterschiedlichen philosophischen Denkansätzen speisen. Leider bleibt die Darstellung des Kommunitarismus-Konzeptes sehr an der Oberfläche. Ohne umfangreiche ideengeschichtliche bzw. sozialwissenschaftliche Vorkenntnisse ist eine Einordnung für weite Teile der Leserschaft wohl nur schwerlich möglich. Die Rückführung des Konzeptes eines Dritten Sektors allein auf den Kommunitarismus ist als selbst gewählte Diskussionsgrundlage zulässig, sollte aber den Blick nicht auf andere, konkurrierende Theoriekonzepte verstellen. Es wird deutlich, dass die Erbringung von Wohlfahrt an verschiedene Akteure geknüpft ist, deren Zusammenwirken einen Wohlfahrtspluralismus konstituiert, bei dem Staat, Markt, Dritter und informeller Sektor (z.B. Familie) gemeinsam für die Produktion von Wohlfahrt verantwortlich sind. Der Wohlfahrtsstaat ist mithin nur eine Komponente einer komplexen Wohlfahrtsgesellschaft und kann ohne diese seine Aufgaben letztlich nicht wahrnehmen. Zugleich kommt dem Staat aber eine gewisse „Gewährleistungsfunktion“ für den Dritten Sektor zu. Mit Kapitel 4 erfolgt dann ein Perspektivwechsel. Hier soll Gesellschaft als Generationengefüge im Wandel verstanden werden. Die Generationenbeziehungen sind dabei bestimmt durch komplexe soziale Austauschbeziehungen im Sinne eines moralökonomischen Gefüges und können nicht isoliert von anderen Themen gesehen werden. Durch die Einbeziehung des Generationenaspekts in das Bürgerschaftliche Engagement wird es, so die Autoren, allein schon zu einem komplexen Querschnittsthema, in dessen Gefolge gleichermaßen auch Familien-, Geschlechter- oder Arbeitsmarktpolitik betrachtet werden müssen.

Teil II: Gestaltlehre (Morphologie) und Theorie des bürgerschaftlichen Engagements im Alter (Kapitel 5 bis 8) Der zweite Teil der Arbeit wendet sich der Entwicklung einer Gestaltlehre zu. Dabei unterscheiden die Autoren zunächst einmal – leider ohne Konkretisierung oder Beispielnennung – zwei „Hauptformen“ des bürgerschaftlichen Engagements: die Fremdhilfe für Dritte sowie die Gegenseitigkeitshilfe (Kapitel 5). Beide Formen können entweder selbst- oder fremdorganisiert sein (vgl. S. 73 f.). Diese Definition ist vor dem Entstehungshintergrund der Arbeit nachvollziehbar und liegt selbstverständlich im Ermessen der Autoren. Sie engt die Betrachtung jedoch vor allem auf diejenigen Bereiche ein, in denen es um „Hilfeerbringung“ geht. In der Folge verstellt sie damit den Blick auf wichtige Teile des Dritten Sektors, wie beispielsweise Geselligkeitsvereine, Umwelt- und Naturschutzverbände, Kultur- oder Sportvereine oder politische Organisationen, in denen das Motiv des interpersonalen „Helfens“ eher nachrangig ist. Sie führt, wie auch an den gewählten Beispielen deutlich wird, zu einer Verengung vor allem auf das Sozial- und Gesundheitswesen, Teile des Genossenschaftswesens und der Selbsthilfe. Die weiter unten getroffenen Aussagen zur Reziprozität und Gabe-Bereitschaft wären vor diesem Hintergrund sicherlich noch einmal zu überdenken und auf ihre Verallgemeinerbarkeit für den gesamten Dritten Sektor und das bürgerschaftliche Engagement im Allgemeinen hin zu prüfen. Daneben wird die in Teilen der Fachwelt getroffene Unterscheidung zwischen „altem“ und „neuem“ Ehrenamt kritisch erörtert. Der begriffliche Wandel wird dabei im Kern auf einen Wandel der Motivstruktur zurückgeführt, weg von einer verpflichtenden oder altruistischen Basis hin zu einem eigennutzorientierten Verhalten. Dies diene „ohne es zu merken, offensichtlich dazu, eine alte markttheoretische Perspektive auf das Gemeinwohl nun auch in diesem Themenkreis zu installieren.“ (S. 86). Da jedoch Engagement schon immer Praxisform personaler Identitätsfindung gewesen sei, könne ein grundsätzlicher Wandel der Motivstruktur nicht ausgemacht werden. Das „neue“ Ehrenamt sei damit ein Mythos, welcher sich zur Bewältigung der (vermeintlich) demographiebedingten Belastungen des Sozialstaates durch vermehrtes Ehrenamt anbiete. Die Argumentation eröffnet den Blick damit auf die Unschärfe des Begriffs und mögliche Funktionalisierungen. Zugleich lenkt sie aber den Blick weg von anderen Phänomenen des „Neuartigen“ wie sie ausgehend von den in der Praxis nachweisbaren Problemen der Gewinnung von Ehrenamt angenommen werden können. Benannt werden hier immer wieder wegbrechende Milieus oder verändertes Freizeit- und Kommunikationsverhalten. Sie verstellt auch den Blick darauf, dass dort, wo auf derartige Neuerungen reagiert wurde, sich Erfolge bei der Gewinnung und Bindung von Engagement wieder einstellen. Die Praxis wird in weiten Teilen ohne eine Deutung dieser Phänomene allein mit der Negation des neuartigen Charakters unter Verweis auf die gleichgebliebene Motivstruktur nicht zu erfassen sein. Kapitel 6 wendet sich der Systematik des Dritten Sektors zu. Dabei wird in Anlehnung an gängige Definitionen ausgehend vom Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project das dynamische Modell eines vermittelnden Sektors zwischen Staat, Markt und Familie gezeichnet. Ausgehend von kulturellen Skripten der Akteure entwickeln sich heterogene Handlungslogiken, die sich als unterschiedliche Formen des Reziprozitätsprinzips ergeben. Dieses können sein: die Tauschlogik des Marktes (äquivalente Reziprozität), die Logik von Wahlen und Gesetzgebung und staatlicher Durchsetzungsgewalt (vertikale Reziprozität) oder Solidarität und Gabe-Bereitschaft von Freunden oder Familien (generalisierte Reziprozität). In deren Mitte positioniert sich der Dritte Sektor als keineswegs statische Vermittlungsinstanz. Warum aber gibt es einen Dritten Sektor? Nach der Analyse von Funktionen und Wirkungen des Dritten Sektors wird die Frage nach dem Entstehungs- bzw. Begründungszusammenhang aufgeworfen (Kapitel 7). Ausgangspunkt sind dabei die ökonomischen Theorien des Markt- und Staatsversagens. Dabei wird zunächst aus Teilaspekten des neoklassischen Forschungsprogramms eine Sequenzlogik konstruiert, gemäß derer Staatstätigkeiten aufgrund von Marktversagen und Dritte Sektor-Aktivitäten aufgrund von Staatsversagen folgen. Diese wird sodann widerlegt. Die Kritik an einer solchen Sichtweise hat bereits in den 80er Jahren zu einer Reihe von Ergänzungen und interessanten Weiterentwicklungen geführt, die an dieser Stelle Stoff für eine vertiefende Diskussion erbracht hätten. Um den Rahmen einer Rezension nicht zu sprengen seien hier nur einige wenige Anmerkungen gestattet: So hätte die Erweiterung um die Vertrauensgutproblematik in einer Situation des Vertragsversagens (contract failure) bei asymmetrischen Informationen nach Hansman den Erklärungswert der Marktversagenstheorie deutlich erhöhen können. Das am Median-Wähler orientierte Politikangebot in Parteiendemokratien nach Downs hätte einen weiteren Beitrag zur Erklärung von Staatsversagen auch jenseits einer irgendwie gearteten Dienstleistungsproduktion leisten können. Die Vorstellung eines gleichzeitigen kombinierten Markt- und Staatsversagens nach Weisbrod bietet bereits – bei aller Kritik an diesem Ansatz – seit den 80er Jahren eine Alternative zur hier vorgestellten Sequenzlogik. Einen anderen Weg gehen die beiden Wirtschaftswissenschaftlerinnen James und Rose-Ackerman in ihrer politischen Ökonomie der Vereine, indem sie Nonprofit-Organisationen im Rahmen ihres Instiutional-Choice-Ansatzes als effizientere und kostengünstigere Variante gegenüber marktlichen und staatlichen Lösungsangeboten identifizieren und damit ohne explizite Markt- oder Staatsversagenstheorie auskommen. Ohne Berücksichtigung dieser relativierenden und erweiternden Aspekte läuft die Kritik an der ökonomischen Theorie des Markts- und Staatsversagens in Verbindung mit einer Sequenzlogik ein wenig ins Leere. Die umfangreichen theoretischen Abhandlungen erinnern an alte Konfliktlinien zwischen methodologischem Individualismus und Holismus. Anders als in der historischen Debatte geht es dabei jedoch nicht um eine bipolare Gegenüberstellung der Positionen, sondern um eine kritische Reflektion der Erklärungsreichweite und Grenzen ökonomischer Modelle sowie um mögliche Entwicklungsperspektiven. Im Kern findet sich immer wieder die Frage nach der angenommenen Motivation der Handelnden. Kapitel 8 wendet sich nun stärker der soziologisch und psychologisch geführten Motivdebatte zu. Hier geht es um die Entwicklung eines interdisziplinären Verständnisses der komplexen Motivlagen des bürgerschaftlichen Engagements. Dazu werden zunächst im Sinne einer Korrektur verkürzter Vorstellungen von Individualismus die vermeintliche Dualität von Eigen- und Gemeinsinn sowie die Thesen einer postmodernen Individualität und der Erosion der Gemeinwohlorientierung in Frage gestellt und das Bild einer komplexeren Motivstruktur gezeichnet. Ferner wird der Versuch unternommen, Altruismus im Rahmen einer geöffneten und erweiterten mikroökonomischen Sichtweise in das Konzept des rational handelnden Akteurs zu integrieren und so den alten Gegensatz zwischen Eigennutz und Altruismus im Sinne eines „rationalen Altruismus“ zu überwinden, bei dem solidarische Umverteilung als pareto-optimale Situation interpersoneller Nutzeninterdependenz skizziert wird. Ökonomische Theorie kann so einen Beitrag zur Erklärung der Motivstruktur bürgerschaftlichen Engagements leisten. Sie wird in der Folge als eine von zwei strukturbildenden Forschungsansätzen zur Erklärung der Netzwerktheorie herangezogen. Ökonomische und soziologische Rational-Choice-Ansätze konstruieren demnach das Bild eines opportunistisch geprägten strategisch-funktionalen Netzwerkes, das für das Individuum Mittel zum Zweck ist. Im Gegensatz dazu lassen kulturwissenschaftliche Ansätze einen lebensweltlich-ontischen Netzwerk-Typus erkennen, der sich als Selbstzweck personalen Daseins versteht. Letzteres sprengt die Erklärungsreichweite ökonomischer Modelle im Rahmen einer simplen Tauschlogik und eröffnet den Blick auf eine Verhaltensform, die sich als solidarorientierte Gabeüberschusshaltung bezeichnen lässt und die den Kern der kulturellen Grammatik sozialer Praxis ausmacht.

Teil III: Zur Empirie des bürgerschaftlichen Engagements im Alter (Kapitel 9 und 10). Die empirischen Befunde zum bürgerschaftlichen Engagement lassen sich aufteilen in die Präsentation ausgewählter Ergebnisse des Freiwilligensurveys (Kapitel 9) sowie weitergehende Erhebungen wie dem Deutschen Alterssurvey, Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE). Bei erhebungsmethodisch bedingten Unterschieden in den Engagementquoten zeigen die Studien insgesamt ähnliche Tendenzen einer Bildungs- und Einkommensabhängigkeit der Engagementbereitschaft und der Variationen innerhalb bestimmter Altersgruppen. Deutschland liegt im europäischen Vergleich beim Engagement von Senioren im Mittelfeld zwischen den Mittelmeerländern und Skandinavien. Insgesamt zeigt sich eine thematisch relevante Auswahl aktueller Daten und Fakten, die eine empirische Einordnung des Engagements Älterer ermöglicht.

Teil IV: Funktionen des bürgerschaftlichen Engagements im Alter (Kapitel 11 bis 13). Drei kurze Kapitel stellen unterschiedliche Funktionen des bürgerschaftlichen Engagements in den Mittelpunkt. So wird festgehalten, dass bürgerschaftliches Engagement – unabhängig von der Staatsversagensthese – staatsentlastende Wirkungen hat (Kapitel 11). Es kommt gerade nicht zu einer Verdrängung informeller und vor-staatlicher Wohlfahrtsproduktion, sondern zu einem produktiven Zusammenwirken (Kapitel 12). Auf der individuellen Ebene kann das bürgerschaftliche Engagement ein Ort der kompetenten Lebensführung sein und somit einen Beitrag zur Bewältigung des Lebens und der Gesundheit leisten (Kapitel 13)

Teil V: Politik der Förderung und Anerkennung. Der vorletzte Teil des Buches nähert sich dem bürgerschaftlichen Engagement aus der Perspektive einer Policy-Analyse und identifiziert Strukturen, Prozesse und Inhalte einer entstandenen Engagementpolitik. Die Analyse verweist auf die EU, den Bund, die Länder und Kommunen sowie Stiftungen, Forschungseinrichtungen und andere organisierte Interessen in ihrer horizontalen und vertikalen Verflochtenheit und konstatiert eine gouvernementale Vergesellschaftung des bürgerschaftlichen Engagements.

Teil VI: Ausblick – Zur Zukunft des Alters und seine Praxisformen des bürgerschaftlichen Engagements. Die abschließenden Überlegungen werden im Rahmen einer Mehr-Ebenen-Analyse vorgelegt. Demnach dreht es sich auf einer individuellen Ebene zunächst um das persönliche Erleben. Hier wird bürgerschaftliches Engagement im Alter als identitätsstiftend, persönlichkeitsentwickelnd und gesundheitsförderlich dargestellt. Auf der Ebene der Vernetzung und Organisation geht es darum, veränderte Bedarfslagen im Alter wie Einschränkungen in der Mobilität und Kommunikation durch zunehmende körperliche Einschränkungen durch neue Leistungs- und Vernetzungsarrangements vor Ort Rechnung zu tragen. Das Bild auf der gesellschaftspolitischen Ebene ist nach den Autoren geprägt durch politische Instrumentalisierung in Folge von Sozialstaatskrisenszenarien, bei der „die neoliberalen Fraktionen der modernisierten Sozialdemokratie Pate“ gestanden haben. Dass Politik und Ministerialbürokratie ein Interesse an der Deutungs- und Gestaltungshoheit im konturenhaft umrissenen Politikfeld „Engagemenpolitik“ haben, wird aufgrund dieser Ausführungen deutlich. Vermissen lässt sich allerdings ein Seitenblick auf durchaus selbstbewusste Akteure, die sich abseits und in weitestgehender Unkenntnis der Wünsche aus Berlin, Düsseldorf, Wiesbaden oder anderswo engagieren. Sie haben dies auch schon vor der Einrichtung der Enquette-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ im Bereich der Umweltverbände, der Globalisierungskritiker, der Atomkraftgegner, des Tierschutzes oder der (Sub-)Kultur mit und ohne Billigung staatlicher Instanzen getan. Alternativ könnte man anhand der vorliegenden Befunde anstelle einer totalitär wirkenden staatlichen Instrumentalisierungslogik auch das Bild eines hauptstädtisch geprägten „Engagementufos“ aus Wissenschaft, Politik und einigen zivilgesellschaftlichen Akteuren zeichnen, das weit über der Lebenswirklichkeit vieler Engagierter schwebt und diese Höhe mit Deutungshoheit verwechselt.

Fazit

Bürgerschaftliches Engagement wird in den Kontext der Theorie(n) des Dritten Sektors eingeordnet und im Rahmen einer multidisziplinären Betrachtung erörtert. Daraus ergibt sich ein vielschichtiger und gelungener Ein- und Überblick zum Thema „Bürgerschaftliches Engagement im Alter“, der sich erfreulich abgrenzt von zahlreichen weniger fundierten Erörterungen und Praxis-Handreichungen der letzten Jahre. Es reizt zu Widerspruch und Zustimmung und leistet somit einen wertvollen Beitrag zur Fachdebatte.

Als Lehrbuch für fortgeschrittene Studierende der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Soziologie oder Politikwissenschaft ist das vorliegende Werk interessant. Es bündelt unterschiedliche wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Perspektiven, integriert gerontologische und salutogenetische Erkenntnisse und bietet Anschlussflächen an diverse ethische und theologische Diskurse. Die Bedingung unter der dieser multidisziplinäre Aufriss bei zugleich umfänglicher theoretischer Fundierung auf einer sehr begrenzten Seitenzahl fruchtbringend gelingen kann, ist jedoch eine umfangreiche Vorbildung der Leserschaft. Dieser bedarf es in der Tat, um den Ausführungen in manchem Kapitel folgen und diese nutzbringend reflektieren zu können, sodass dieses Werk für Teile der Praxis schwer zugänglich sein dürfte. Jeder, der jedoch Lust hat, sich einem kritischen wissenschaftlichen Diskurs zum Thema zu stellen und bereit ist, liebgewordenes Wissen zu hinterfragen, wird Freude an diesem Buch haben.

Rezension von
Prof. Dr. Michael Vilain
Evangelische Hochschule Darmstadt
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Es gibt 9 Rezensionen von Michael Vilain.

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ISSN 2190-9245