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Clemens Tesch-Römer, Heribert Engstler et al. (Hrsg.): Altwerden in Deutschland

Rezensiert von Prof. Dr. habil. Gisela Thiele, 22.10.2006

Cover Clemens Tesch-Römer, Heribert Engstler et al. (Hrsg.): Altwerden in Deutschland ISBN 978-3-531-14858-8

Clemens Tesch-Römer, Heribert Engstler, Susanne Wurm (Hrsg.): Altwerden in Deutschland. Sozialer Wandel und individuelle Entwicklung in der zweiten Lebenshälfte. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2006. 540 Seiten. ISBN 978-3-531-14858-8. 49,90 EUR.

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Zielsetzung und Zielgruppen

Die Publikation soll einen Überblick über die wesentlichen Ergebnisse der zweiten Welle des Alterssurveys geben, dessen Ziel es ist, die Lebensumstände von Menschen in der zweiten Lebenshälfte nachzuzeichnen. Die Herausgeber sind Clemens Tesch - Römer,Leiter des Deutschen Zentrums für Altersfragen und außerplanmäßiger Professor an der Freien Universität Berlin sowie Heribert Engstler (MA)und Susanne Wurm (Dipl.Psych.),beide wissenschaftliche Mitarbeiter am Deutschen Zentrum für Altersfragen in Berlin. Weitere Autoren aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Institutionen sind an den einzelnen Themengebieten und Kapiteln beteiligt.

Aufbau und Übersicht über die behandelten Themen und Inhalte

Das Buch ist in zehn Hauptabschnitte differenzierter Themen untergliedert. Im Vorwort werden die beiden Wellen des Alterssurveys kurz beschrieben und die beteiligten Institutionen und Mitarbeiter vorgestellt.

  1. Das erste Kapitel von Clemens Tesch-Römer/Susanne Wurm/Andreas Hoff/Heribert Engstler und Andreas Motel-Klingebiel ist mit dem Titel überschrieben "Der Alterssurvey: Beobachtung gesellschaftlichen Wandels und Analyse individueller Veränderungen". Hier werden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen älter werdender Menschen hinsichtlich der demographischen Entwicklung geschildert und der theoretische Rahmen des Surveys geklärt. Danach werden das Design und Themen des Alterssurveys benannt. Die erste Welle fand 1996, die zweite 2002 statt, wobei bei der Überarbeitung großer Wert auf die Kontinuität der standardisierten Instrumente gelegt wurde. Die Untersuchung umfasst sowohl eine Panelstichprobe, die Befragungsteilnehmer aus der ersten Welle einschließt (n = 1524) und eine Replikationsstichprobe von in Privathaushalten lebenden Deutschen im Alter von 40 bis 85 Jahren (n = 3084) sowie einer kleinen Population ausländischer Bürger (n = 586). Zentrale Themenbereiche, die im Alterssurvey aufgegriffen werden sind: die Erwerbstätigkeit und der Übergang in den Ruhestand, materielle und soziale Beziehungen, Freizeitaktivitäten, Lebensziele, Gesundheitsverhalten und Pflegebedürftigkeit.
  2. Das zweite Kapitel, von Heribert Engstler und Susanne Wurm verfasst, setzt sich mit der Datengrundlage und Methodik der Studie auseinander. Es wird die Zielstellung des Alterssurveys heraus gearbeitet, der in erster Linie dazu dient, die Sozialberichterstattung in Deutschland durch eine Altersberichterstattung zu ergänzen und Grundlage vertiefender Forschung zu sein. Es erfolgt eine akribische Beschreibung der einzelnen Stichproben und der Analysemöglichkeiten.
  3. Kapitel drei nimmt erstmals zu inhaltlichen Fragen Stellung: "Erwerbsbeteiligung in der zweiten Lebenshälfte und der Übergang in den Ruhestand". Heribert Engstler, Verfasser dieser Ausführungen, verweist zunächst auf den Paradigmenwechsel zum längeren Verbleib von Arbeitnehmern im Erwerbsleben. So konnte die Erwerbstätigenquote der über 55 bis 64 Jährigen von 2002 bis 2004 um 3,4% auf 41% gesteigert werden. Dennoch sei die Erwerbsbeteiligung Älterer ein multifaktorielles Geschehen, das sich der einfachen Erklärung durch einen bestimmenden Kausalfaktor entziehe. Zentrale Variablen seien hier das Alter, das Geschlecht, der Bildungsstand und finanzielle Bedingungen etc. (S. 95).  Nur bei Frauen hänge die Erwerbsbeteiligung signifikant vom Qualifikationsniveau ab - studiert zu haben erhöhe das Verhältnis zwischen Erwerbs- und Nichterwerbswahrscheinlichkeit um das Dreifache zu Gunsten der Erwerbstätigkeit.
  4. Ein weiteres Kapitel von Andreas Motel-Klingebiel nimmt zu "materiellen Lagen älterer Menschen - Verteilungen und Dynamiken in der zweiten Lebenshälfte" Stellung. Zentrale Kategorien sind Einkommen und Vermögen, Geld- und Sachtransfers und Armut. Armut wird als relative Einkommensarmut definiert, die sich auf Grundlage der neuen OECD-Skala ein berechnetes Äquivalenzeinkommen in Höhe von bis zu 50% des arithmetischen Mittelwertes des Gesamteinkommens in der BRD beziehe, so dass die Armutsgrenze 680 Û betrage. Umfangreiches Tabellenmaterial verdeutlicht, dass Auf- und Abstiege in der Einkommensverteilung häufig seien, aber der Anteil stabiler Einkommen in den oberen Altersgruppen deutlich höher liege. Der Trend zu immer weniger Armut in der zweiten Lebenshälfte scheint gebrochen zu sein, verschlechterte Lagen seien insbesondere bei den heute 40- bis 54 Jährigen zu erwarten, weil die wohlfahrtsstaatlichen Alterssicherungen hier geringer ausfallen dürften als erwartet. Insgesamt wäre eine kritischere Sicht auf die bereits bestehenden gravierenden Ist- Zustände in den Vermögensanteilen zwischen Ost und West wünschenswert gewesen, die auf Grund des Erhebungsinstrumentes unberücksichtigt bleiben mussten.
  5. Das fünfte Kapitel nimmt "Intergenerationale Familienbeziehungen im Wandel" in den Blick und wurde von Andreas Hoff erarbeitet. Erst die gestiegene Lebenserwartung ermögliche die Existenz von drei und mehr Generationen innerhalb desselben Familiennetzwerks, wobei es auch gegenläufige Tendenzen gäbe (S. 234). So verringere der Rückgang der Fertilität und das steigende Lebensalter von Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes die Wahrscheinlichkeit der parallelen Existenz vieler Generationen, da die Abstände zwischen diesen wieder größer würden. Weitere Ausführungen widmen sich den Generationen-Konstellationen im multilokalen Familienverbund sowie dem Zusammenleben und den Unterstützungsleistungen innerhalb der Generationen. Abschließend regt Hoff an, die bisher separat geführten politischen Handlungsfelder von Familien-, Kinder-, Senioren- und Bildungspolitik zu einer "Generationenpolitik" zusammen zu führen.
  6. Kapitel sechs von Harald Künemund ist den "Tätigkeiten und Engagement im Ruhestand" verpflichtet. Er stellt zu Beginn seiner Ausführungen die Frage nach der Produktivität des Alters und merkt ihre Strittigkeit an. Während aus soziologischer Perspektive neben der Erwerbsarbeit primär die Haushaltsproduktion, Eigenarbeit, Ehrenamt und Netzwerkhilfen als produktive Tätigkeiten gesehen würden, wäre es unter psychologischer Sichtweise bereits die erfolgreiche Anpassung an spezifische Lebensbedingungen. Im Folgenden werden einzelne Betätigungsfelder entsprechend ihrer spezifischen Ausprägung betrachtet, die in der zweiten Lebenshälfte eine Rolle spielen. Stellvertretend genannt werden die Erwerbstätigkeit, das ehrenamtliche Engagement, Pflegetätigkeiten, Kinderbetreuung und Partizipation an Bildungsangeboten. Die meisten Tätigkeiten werden mit zunehmendem Alter weniger ausgeübt, Ausnahmen bilden nur das Fernsehen und die Beschäftigung mit Kreuzworträtseln und Denksportaufgaben, die im Alter von der Intensität her wachsen würden.
  7. Susanne Wurm und Clemens Tesch-Römer sind die Verfasser des nächstfolgenden Kapitels, das mit dem Titel "Gesundheit, Hilfebedarf und Versorgung" überschrieben ist. Der zu Grunde gelegte Gesundheitsbegriff geht nicht nur von medizinischen Indikatoren wie Maße der Morbidität, funktionellen Einschränkungen etc aus, sondern wird durch ein interdisziplinäres Gesundheitskonzept der WHO ergänzt, das ebenso Indikatoren subjektiver Gesundheit und Lebenszufriedenheit sowie Lebensstil und Gesundheitsverhalten einbezieht (S. 330). Die Ergebnisse verdeutlichen insbesondere, dass der Anteil von Personen mit Mehrfacherkrankungen mit dem Alter zunimmt und die meisten der Altersgruppe von 55 bis 69 Jahren von zwei und mehr Erkrankungen betroffen seien. Des Weiteren sind ältere Frauen stärker von Behinderungen betroffen als Männer. Die Ergebnisse des Kohortenvergleiches zwischen erster und zweiter Welle des Alterssurveys verweisen auf eine bessere Gesundheit später Geborener, was sich in einer geringeren Zahl an Erkrankungen zeige. Ebenso würden die durch eine höhere Lebenserwartung "gewonnenen" Lebensjahre nicht gemäß der Morbiditätsexpansion nur zusätzliche Jahre in schlechter Gesundheit sein, sondern es seien in der Regel Jahre in guter Gesundheit.
  8. Auch das achte Kapitel "Veränderung des subjektiven Wohlbefindens in der zweiten Lebenshälfte" wurde von Clemens Tesch-Römer und Susanne Wurm verfasst. Es wird zunächst herausgearbeitet, dass einige Merkmale der objektiven Lebenssituation mit dem subjektiven Wohlbefinden korrelieren. Hierzu zählten der Gesundheitsstatus, die materielle Lage, der Erwerbsstatus und die soziale Integration. Trotz zunehmender Verlustereignisse im Alter würde die Korrelation zwischen Alter und allgemeiner Lebenszufriedenheit äußerst gering sein, so dass von mehreren Wissenschaftlern vom "Zufriedenheitsparadox" gesprochen würde, was auf die hohe Adaptionsfähigkeit oder Resilienz älterer Menschen zurückzuführen sei. Die Ergebnisse legen ein höheres allgemeines Zufriedenheitspotential der Frauen nahe, wobei sich die Unterschiede zwischen West und Ost angeglichen hätten. Ebenso korreliere höheres Einkommen mit größerer Lebenszufriedenheit und die Zugehörigkeit zu einer höheren Schicht hänge mit positiven Gefühlszuständen zusammen. Die bedeutsamsten Prädiktoren subjektiven Wohlbefindens seien der Gesundheitszustand, der Lebensstandard und das Vorhandensein eines Partners.
  9. "Die Lebenssituation älterer Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland" wird im folgenden Kapitel von Helen Baykara und Andreas Hoff aufgegriffen. Nach Daten der Bevölkerungsfortschreibung des Statistischen Bundesamtes hätte sich die Zahl älterer Ausländer (älter als 60 Jahre) von 1991 bis 2003 verdreifacht und die meisten von ihnen (über vier Fünftel) möchten ihren Lebensabend in Deutschland verleben. In fast allen materiellen und sozialstrukturellen Merkmalen würden sie schlechter als Deutsche gestellt sein.
  10. Das letzte und damit zehnte Kapitel zu "Implikationen der Befunde des Alterssurveys für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik" wurde von Clemens Tesch-Römer, Susanne Wurm, Andreas Hoff, Heribert Engstler und Andreas Motel-Klingebiel erarbeitet. Es soll Informationen zum sozialen Wandel und individuellen Entwicklungsdynamiken in der zweiten Lebenshälfte liefern. Ausgangspunkt bilden drei Diskurse zum demographischen Wandel: Bedarfs- und Versorgungsdiskurs, Belastungsdiskurs und Potenzialdiskurs. Danach sollte der Versuch unternommen werden, die Befunde der zweiten Welle auf diese Diskurse zu beziehen (S. 522). Leider wird dieses Anliegen kaum eingelöst, sondern es werden die relevanten Ergebnisse des zweiten Alterssurveys in kurzen Statements wiederholt, ohne auf die oben erwähnten Diskurse einzugehen.

Letztere Anmerkung muss bis auf wenige Ausnahmen auf fast alle Kapitel des Buches übertragen werden. Der Leser wird mit einer Fülle wissenschaftlicher Theorieansätze konfrontiert, die aber nicht stringent auf die Ergebnisse des Surveys bezogen werden. Hier muss die Frage nach der Sinnhaftigkeit ihrer Nennung erlaubt sein, wenn sie in die Ausführungen kaum integriert werden. Eine vorbildliche Theorie-Daten-Verknüpfung gelingt dagegen im achten Kapitel "Veränderung des subjektiven Wohlbefindens in der zweiten Lebenshälfte" von Clemens Tesch-Römer und Susanne Wurm.

Fazit

Insgesamt bietet die Publikation ein umfangreiches empirisches Datenmaterial, das einen breiten Überblick über die Lebensumstände von Menschen in der zweiten Lebenshälfte ermöglicht. Das Datenmaterial und die Auswertung entsprechen hohen wissenschaftlichen Standards und dürften für viele in der Altenarbeit Tätigen eine wertvolle Unterstützung im Verstehen der Spezifik älterer Menschen geben. Bei aller positiver Kritik sollte angemerkt werden, dass die Ausführungen teilweise zu breit ausgeführt wurden und dadurch Wiederholungen, teilweise auch Redundanzen nicht ganz vermieden werden konnten.

Rezension von
Prof. Dr. habil. Gisela Thiele
Hochschule Zittau/Görlitz (FH)
Berufungsgebiete Soziologie, Empirische Sozialforschung und Gerontologie
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Es gibt 205 Rezensionen von Gisela Thiele.

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ISSN 2190-9245