Erwin Scherfer: Forschung verstehen. Ein Grundkurs in evidenzbasierter Praxis
Rezensiert von PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas von Lengerke, 11.07.2006

Erwin Scherfer: Forschung verstehen. Ein Grundkurs in evidenzbasierter Praxis. Pflaum Verlag (München) 2006. 223 Seiten. ISBN 978-3-7905-0938-0. 23,00 EUR. CH: 39,00 sFr.
Autor
Dr. rer. soc. Dipl.-Soz.-Wiss. Erwin Scherfer ist Physiotherapeut, Mitarbeiter der Physio-Akademie und Vorstandsmitglied der Stiftung für Förderung von Forschung und Evaluation des Deutschen Verbandes für Physiotherapie (ZVK), Gutachter und Übersetzer des Physiotherapy Evidence Database (PEDro), Gastdozent an der University of Teesside, und Lehrbeauftragter an der FH Hildesheim. Seine Arbeitsgebiete sind Lehre (Forschungsmethoden, Statistik, evidenzbasierte Praxis), Forschungsberatung und -förderung sowie Studiengangsentwicklung.
Einführung in das Thema
Auf den ersten Blick können Begriffe wie "evidenzbasierte Medizin" (EBM) und "evidenzbasierte Praxis" (EBP) recht seltsam anmuten. Auf was in aller Welt sollte denn die Praxis von Heilberufen zuvor basiert haben, wenn nicht auf einleuchtender Erkenntnis (nach Duden ein primärer Wortsinn von "Evidenz")? Des Rätsels - wenn es denn eines ist - Lösung liegt selbstredend in dem, was unter "Evidenz" tatsächlich verstanden wird bzw. zu verstehen ist.
Eine dezidierte Auffassung zu diesen Fragen haben unter Verwendung des EBM-Begriffes seit Anfang der 1990er Jahre Arbeitsgruppen um Gordon Guyatt und David L. Sackett mit großer Resonanz entwickelt. Ein Kernstück ist dabei die so genannte Evidenzhierarchie, die vom Oxford Centre for Evidence-Based Medicine für fünf Bereiche zur Verfügung gestellt wird:
- "Therapie / Prävention, Ätiologie / Schädigungen",
- "Prognostik",
- "Diagnostik",
- "Differentialdiagnostik / Symptomprävalenz" und
- "Ökonomische und Entscheidungsanalysen".
Im Bereich "Therapie" (auf den sich der hier rezensierte Band beschränkt) stellt das höchste Evidenzniveau die systematische Überblicksarbeit über mehrere randomisierte kontrollierte Studien (engl. randomized controlled trials, RCT) mit homogenen Ergebnissen dar. Inhaltlich ist das RCT das Pendant der Therapieforschung zum Experiment der eher grundlagenwissenschaftlichen Forschung. Zentrales Merkmal ist die zufällige Verteilung von Studienteilnehmern entweder zu einer Interventionsgruppe oder einer Kontrollgruppe. EBM selbst ist dann der "gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten", und ihre Praxis die "Integration individueller klinischer Expertise mit der bestmöglichen externen Evidenz aus systematischer Forschung" (s. S. 13f.). Konkret werden fünf Schritte empfohlen: (1) Übersetzung des Informationsbedarfes in klinisch relevante und beantwortbare Fragen; (2) möglichst effizientes Finden der besten verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz; (3) kritische Bewertung ihrer Gültigkeit (Validität) und (klinischen) Anwendbarkeit; (4) Integration dieser Bewertung mit klinischer Expertise (interne Evidenz) und Anwendung in der klinischen Praxis - und schließlich (5) die Evaluation dieser Anwendung.
Da nun auch "Heilhilfsberufe" wie die Physiotherapie - sei es durch Selbstverpflichtung oder das SGB V, und sicherlich auch durch die sich verschärfende Knappheit an Finanzmitteln - zunehmend dem Druck unterworfen sind, die eigenen Bemühungen um Qualitätssicherung und Evidenzbasierung zu verstärken, legt Erwin Scherfer mit "Forschung verstehen" nunmehr eine Einführung in die EBP für (angehende) PraktikerInnen in diesen Bereichen der Heilkunde vor.
Aufbau und Inhalt
Der Band besteht aus den (Unter-)Kapiteln des Autors und darin eingebetteten Unterkapiteln von Christiane Hempel (gemeinsam mit dem Autor), Robert D. Herbert, Ruth Schallert, und Corina Schuster. Dabei handelt es sich zu knapp einem Achtel um von Herbert 2000 im Australian Journal of Physiotherapy bereits veröffentlichte und von Scherfer ins Deutsche übersetzte Texte. Im Kern ist das Buch jedoch, wie Scherfer schon im Vorwort erläutert, aus Beiträgen einer seit Februar 2003 in der Krankengymnastik - Zeitschrift für Physiotherapeuten erscheinenden Serie zu Konzepten aus der Forschung entstanden. Sie wurden für das neue Medium komplett überarbeitet und inhaltlich der oben skizzierten 5-Schritte-Strategie der EBM angepasst.
- In der Einführung (Kap. 1) stellt Scherfer zunächst Anspruch, Zielgruppe und Aufbau des Buches vor. Dann gibt er einen Überblick über die EBP und ihre Möglichkeiten, wobei er ausdrücklich für sie plädiert, und gleichzeitig unter der Überschrift "Von unbegründeter Sicherheit zu begründeter Unsicherheit" ihre Grenzen skizziert. Den Abschluss dieses Kapitel bildet eine informative Zusammenstellung von historischen Meilensteinen der EBP.
- Danach folgt der umfangreichste Abschnitt des Buches (Kap. 2.: Evidenzbasierte Praxis - die Methode) mit sieben Unterkapiteln: "Wie stellt man Fragen?" (2.1), "Wo findet man Evidenz" (2.2), "Studientypen verstehen" (2.3), "Wie liest man eine Studie kritisch?" (2.4), "Statistische Aussagen verstehen" (2.5), "Beurteilung der klinischen Signifikanz von Studienergebnissen" (2.6), und "Mit EBP anfangen, Integration der Methode in die Praxis" (2.7). Unterstützt durch zahlreiche Beispiele, Tabellen und Abbildungen, Screenshots sowie Anregungen für Lehre und Selbststudium finden sich hier unter anderem Informationen zu den Datenbanken PEDro und Medline, Studientypen wie z. B. dem RCT, Längsschnittstudien und Einzelfallanalysen, der o. g. Evidenzhierarchie, Validität, Messniveaus, Signifikanztests, Fragen der klinischen Signifikanz bei kontinuierlichen und dichotomen Outcomes - sowie Methoden der Integration von EBM in die Praxis.
- Im abschließenden Kap. 3 (Wichtige Informationsquellen) finden sich einige ausführliche Buchempfehlungen (3.1), eine kurz gefasste Literaturliste (3.2), die die Angaben am Ende der Unterkapitel ergänzt, sowie eine mehrseitige Tabelle mit Hinweisen zu Internetressourcen (3.3).
Qualität und Nutzen des Buches
Es hat sich für mich bewährt, ein zu rezensierendes Buch zunächst nicht nur im Hinblick auf die eigenen Erwartungen, sondern auch die Ansprüche des Autors oder Herausgebers zu beurteilen. Da Scherfer diesbezüglich erfreulich transparent ist (weshalb ich auch empfehle, sich die Zeit zu nehmen, auch das einleitende erste Kapitel zu lesen), ist dies unschwer möglich:
- Scherfer und KoautorInnen möchten anwendungsorientiert das liefern, was PraktikerInnen der Physiotherapie und ähnlicher Berufe ihrer Einschätzung nach beim Lesen von Studien aus der klinisch-praktischen Forschung in der Regel brauchen. Es geht ihnen also um die "Begrifflichkeiten, die zum Verständnis von klinischen Studien im Zusammenhang mit der evidenzbasierten Praxis erforderlich sind" (S. 10). Das Buch ist daher ein EBP-Einführungstext, und ausdrücklich kein klassisches Lehrbuch (weder der Forschungsmethoden noch der Statistik). Aus meiner Sicht erfüllt der Band diesen Anspruch fast: ich könnte mir für PraktikerInnen auch einen Einführungstext vorstellen, in dem noch stärker an exemplarischen Originalarbeiten die Rezeption von Therapiestudien und das Ableiten von Implikationen für die eigene Praxis demonstriert wird. Aber vielleicht würde das den Rahmen eines einzelnen Buches auch sprengen, wobei mir (spontan) in den Sinn kommt, dass ein gutes "Handbuch" (= der vorliegende Band) ja möglicherweise sogar ein "Arbeitsbuch" (mit Übungen) verdient hätte...
- Der zweite Anspruch ist es, unter Beachtung der von Scherfer genannten Einschränkungen (Verzicht auf manche statistischen Details, Labor- und qualitative Forschung - sowie die Evidenzbereiche "Prognostik", "Diagnostik" "Differentialdiagnostik / Symptomprävalenz" und "Ökonomische und Entscheidungsanalysen") "vom Niveau der Reflexionen her auf dem Gebiet der Forschungsmethodologie an das Niveau eines Bachelor-Grades heranzuführen" (S. 10). Dieses leistet der Band aus meiner Sicht sehr gut, und ich habe lediglich einen Hinweis auf die Ebenen evidenzbasierter Praxis vermisst, in die einzelne Interventionen eingebettet sind - will sagen: spezifische Perspektiven und Probleme von Politik- und Programmevaluation.
Was meine eigenen Erwartungen angeht, kann ich sagen, dass ich von dem Buch auch als vorab mit dem Thema leidlich vertrauter Leser nicht nur in den für Heilhilfsberufe spezifischen Teilen profitiert habe. Minuspunkte würde ich für einige kleine Schwächen geben: neben gelegentlichen Fehlerteufeln und (etwas ärgerlich) insgesamt inkonsistenter Formate der Literaturangaben fand ich den didaktisch sicher ambitionierten "Studiendesign-Werkzeugkoffer" der Kapitel 2.3.2-2.3.5 (Abbildungen 2.17-2.18, 2.24-2.25, und 2.27) aufgrund seiner wechselnden Inhalte, die ihre kumulativ aufbauende Struktur zumindest nicht unmittelbar offenbaren, eher verwirrend. . Schließlich: die Strukturierung des Kernkapitels (Kap. 2.) nicht in 7, sondern 5 Unterkapitel hätte auch formal die Anpassung der didaktischen Linie an die oben skizzierte 5-Schritte-Strategie der EBM umgesetzt.
Fazit
Abgesehen von wenigen Schönheitsfehlern ein gelungenes, stilistisch flott geschriebenes und angenehm zu lesendes sowie für seinen Bereich innovatives Buch, dem eine zweite Auflage zu wünschen ist.
Rezension von
PD Dr. phil. Dipl.-Psych. Thomas von Lengerke
Stv. Leiter der Forschungs- und Lehreinheit Medizinische Psychologie der Medizinischen Hochschule Hannover
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