Udo Kelle, Susann Kluge: Vom Einzelfall zum Typus
Rezensiert von Prof. Dr. Peter Sommerfeld, 02.11.2011

Udo Kelle, Susann Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2010. 2., aktualisierte Auflage. 121 Seiten. ISBN 978-3-531-14704-8. 12,95 EUR.
Thema
Im engeren Sinn geht es in diesem Buch um methodologische Fragen der Typenbildung mittels qualitativer Methoden. Da die Autorin und der Autor aber zugleich die Intention verfolgen, den unterschiedlichen Methoden und Modellen der Typenbildung, die in unterschiedlichen qualitativen Ansätzen entwickelt wurden, einen übergreifenden methodologischen Rahmen zu verleihen, ist ein Lehr- und Methodenbuch der qualitativen Sozialforschung entstanden, das neben der Bearbeitung der spezifischen Zielsetzung einen tiefgehenden Einblick in einige der wichtigsten qualitativen Methoden und deren „forschungslogische Grundlagen“ liefert.
Autor, Autorin und Entstehungshintergrund
Udo Kelle und Susann Kluge sind als ausgewiesene qualitative Methodiker bekannt. Mit zu dieser hohen Reputation hat die erste Auflage des hier zu besprechenden Bandes beigetragen, die 1999 erschienen ist. Die zweite Auflage wurde vollständig überarbeitet. Es kann an dieser Stelle bereits angemerkt werden, dass in allen Teilen der Überarbeitung erkennbar ist, dass noch einmal rund zehn Jahre intensive Beschäftigung mit diesem Thema eingeflossen sind und entsprechend noch einmal eine Qualitätssteigerung erzielt werden konnte.
Aufbau und Inhalt
Das Buch gliedert sich grob in zwei Teile.
- Im ersten Teil werden in zwei Kapiteln die „forschungslogischen Grundlagen“ ausgeführt.
- Im zweiten Teil werden sodann Verfahren der Fallkontrastierung und schliesslich die eigentliche Methodik der Typenbildung vorgestellt, die in einem abschliessenden Kapitel in sieben Regeln der Fallkonstrastierung und Typenbildung verdichtet und zusammengefasst werden.
Im ersten Kapitel zu den „forschungslogischen Grundlagen“ wird die in der Tat methodologisch grundlegende Frage bearbeitet, wie man vom empirischen Material zu theoretischen Kategorien gelangt. Dabei wird der Leser/ die Leserin auf engstem Raum und gewissermassen in einem Guss mit den Grundbegriffen der Induktion und Deduktion und deren Einbettung in die jeweiligen wissenschaftstheoretischen Paradigmen vertraut gemacht. Dies führt auf direktem Wege unter Bezugnahme vor allem auf die „Grounded Theory“ nach Glaser und Strauss zu einer der grösseren Problematiken im rekonstruktiven Paradigma, nämlich der Frage nach der „Unvoreingenommenheit“ der Ergebnisse, die mit den qualitativen Methoden erzielt werden können, die letztlich entscheidend für die Anerkennung der qualitativen Methoden als wissenschaftliche Methoden ist. Kelle und Kluge behandeln dieses Thema unter dem Stichwort „das induktivistische Selbstmissverständnis“ und zeigen die Unbrauchbarkeit und Undurchführbarkeit solch „naiv empiristischer Modelle“. Wieder in Auseinandersetzung mit Glaser und Strauss wird zunächst die Bedeutung „theoretischer Sensibilität“ herausgearbeitet. Im Anschluss daran wird dann ein Ausweg aus den induktivistischen Aporien mittels der Einführung des „hypothetischen Schlussfolgerns“ respektive der auf Pierce zurückgehenden „Abduktion“ geboten.
Das zweite Kapitel zur „Bedeutung heuristisch-analytischer Konzepte“ greift die Ausführungen zur „theoretischen Sensibilität“ wieder auf und vertieft die Frage nach der Verwendung theoretischen Vorwissens für die Generierung solcher Konzepte. Ausgehend von der Feststellung, dass auch qualitative Forschung theoriegeleitet vorgehen muss, wird den wiederum grundlegenden Fragen nachgegangen, worin denn dann der Unterschied zur Verwendung „hypothetico-deduktiver Konzepte“ besteht, und ob dem eigenen Anspruch der Vertreter/innen des interpretativen Paradigmas, nämlich einen explorativen oder auf Entdeckung angelegten Zugang zur Welt zu verfolgen und dabei die „Relevanzsetzungen der Befragten“ nicht zu überblenden, trotzdem entsprochen werden kann. Die Antwort besteht verkürzt darin, dass ein solches, qualitatives Vorgehen keine definitiven Konzepte benötigt, die überprüft werden, sondern offene Konzepte, die für die „Wahrnehmung sozialer Bedeutungen in konkreten Handlungsfeldern sensibilisieren. Die Präzisierung oder Konkretisierung des zunächst offenen Konzepts geschieht über die Auseinandersetzung mit der untersuchten Lebensform. Um diesen Grundgedanken der „offenen“ heuristischen Konzepte weiter auszubauen, wird im folgenden das theoretische Vorwissen entlang der Dimensionen Grad der Explikation, Herkunft, Grad der Theoretisierung und Grad an empirischem Gehalt differenziert beschrieben. Der erste Teil (der forschungslogischen Grundlagen) mündet entsprechend in dem Satz, dass „eine gelungene qualitative Untersuchung sich also durch eine beständige Integration von empirischen und theoretischen Arbeitsschritten ?auszeichnet?“ (40).
Mit dem dritten Kapitel beginnt der zweite Teil, der nun auf die forschungspraktische Gestaltung hin angelegt ist, nicht ohne auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren, wichtige Grundbegriffe zu klären. Das dritte Kapitel ist schon allein deshalb verdienstvoll, weil hier ein oftmals unterschätzter Teilprozess der qualitativen Forschungsarbeit, nämlich die Stichprobenbildung, erstens in seiner Bedeutsamkeit herausgehoben wird, und zweitens anschaulich und nachvollziehbar (und das heisst in diesem Zusammenhang anwendbar) verschiedene Verfahren des Sampling eingeführt werden.
Das vierte Kapitel führt in die Grundoperation qualitativer Sozialforschung schlechthin ein, nämlich in Verfahren der Kodierung bzw. Indexierung des Datenmaterials. Wie bereits im vorausgegangenen Kapitel gelingt es Kelle und Kluge anschaulich, u.a. anhand von Beispielen überwiegend aus ihrer eigenen Forschungspraxis bzw. aus ihrem Umfeld, diesen Prozess so zu beschreiben, dass eine auch für Anfänger/innen in der qualitativen Sozialforschung geeignete, also anwendbare Grundlage entsteht. Darüber hinaus bearbeiten die beiden sehr erfolgreich eine weitere Problemzone in der Literatur zur qualitativen Sozialforschung, nämlich die uneinheitliche Verwendung der Begriffe Kode bzw. Kodierung sowie Kategorie, Subkategorie und Dimension.
Im fünften Kapitel wird schliesslich das Verfahren der Typenbildung begründet und eingeführt. Wieder wird die auf die Forschungspraxis hin angelegte Anleitung zur Bildung von Typen durch eine präzise Einführung und klärende Diskussion der zentralen Begriffe auf eine mehr als solide Basis gestellt. Neben dem nunmehr noch einmal in diesem Zusammenhang bedeutsam werdenden Begriff der Dimension (im Sinne von Vergleichsdimension) wird der Begriff des Typus im Zusammenhang mit den Begriffen Merkmal und Merkmalsraum zu einem konzeptionell dichten Netz verflochten, das es (relativ) einfach macht, den prinzipiell schwierigen Schritt hin zur Typenbildung gedanklich nachzuvollziehen, so dass auch hier gewährleistet sein sollte, dass das vorgestellte Verfahren angewendet werden kann.
Das sechste Kapitel fasst die Verfahrensschritte, wie man vom Einzelfall zum Typus gelangt in sieben Regeln zusammen, die als Merkhilfe sozusagen jeden Arbeitsplatz qualitativ Forschender zieren könnten, zumindest solange bis diese Abläufe in Fleisch und Blut übergangen sind, wie es bei erfahrenen Forschenden wohl der Fall sein sollte.
Diskussion
Es ist vermutlich bei der Darstellung des Aufbaus und Inhalts bereits erkennbar geworden, dass ich dieses Buch für äusserst gelungen halte, und zwar eben aufgrund der sehr seltenen Kombination von methodologischem und erkenntnistheoretischem Tiefgang und gleichzeitiger forschungspraktischer, handhabbarer Nützlichkeit im Hinblick auf die Ausbildung der Forschungskompetenz. Während das erste vermutlich eher fortgeschrittene Forscher/innen anspricht und das zweite eher Neulinge, ist beides zusammen ein Gewinn insbesondere für die Ausbildung in den Methoden der qualitativen Sozialforschung. Dies wird noch durch sehr gute Lesbarkeit und Verständlichkeit unterstützt. Was wahrlich nicht für alle Methodenbücher gesagt werden kann, ist, dass es sich um eine durchgängig spannende Lektüre handelt, die niemals langweilig wird, die einen stringenten Aufbau und Argumentationsbogen bis zum Ende hin durchhält, und die schliesslich mit der Verwendung der gut gewählten Beispiele jeden Anflug trockener Methodologie sozusagen im Keim erstickt.
Insofern gelingt es Kelle und Kluge nicht nur ihre eigene Zielsetzung zu erreichen, nämlich die Lücke im Hinblick auf die Beschreibung der Methodologie der Typenbildung zu füllen, die von den allgemeinen Methodenlehrbüchern offen gelassen wird, sondern sie liefern zugleich eine hervorragende allgemeine Einführung in die Methoden der qualitativen Sozialforschung und ihre Grundlagen, und das auf 120 Seiten.
Fazit
„Vom Einzelfall zum Typus“ ist eines der wenigen Lehrbücher, das den damit verbundenen Anforderungen vollauf gerecht wird, und zugleich einen weiterführenden Beitrag leistet in Bezug auf die Klärung zentraler, methodologisch hochgradig relevanter Begriffe und der Problemzone der Verwendung theoretischen Vorwissens in Form von heuristischen Konzepten. Dieses Buch gehört insofern in jede Bibliothek der sozialwissenschaftlichen Fakultäten und Fachbereiche und eines jeden qualitativ Forschenden.
Rezension von
Prof. Dr. Peter Sommerfeld
Professor für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz, Institut Soziale Arbeit und Gesundheit
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