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Rainer Göckler: Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement

Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Münch, 08.08.2007

Cover Rainer Göckler: Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement ISBN 978-3-8029-7485-4

Rainer Göckler: Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement. Praxisorientierte Betreuung und Vermittlung in der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II). Eine Einführung. Walhalla Fachverlag (Berlin) 2006. 192 Seiten. ISBN 978-3-8029-7485-4. 19,90 EUR. CH: 34,90 sFr.

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Ein Kochbuch

Gegen ein gutes Kochbuch ist nichts einzuwenden: Es liefert dem Anfänger und der Anfängerin die notwendigen Grundlagen der Kochkunst, erste Kenntnisse der Warenkunde und daran anschließend Rezepte, um das Gelernte anzuwenden. Und der Prüfstein für das Erlernte ist dann die Praxis des Essens: Es schmeckt oder es schmeckt nicht.

Inhalt

Rainer Göckler ist gelernter Sozialamtssachbearbeiter, "Case Manager"  und Verwaltungswirt und lehrt - nach langen Praxisjahren in der Arbeitsverwaltung - "Arbeitsmarkttheorie, Arbeitsmarktpolitik, berufliche Beratung, Vermittlung und Arbeitsförderung am Fachbereich Arbeitsverwaltung der Fachhochschule des Bundes" und er liefert uns ein Kochbuch für das "Beschäftigungsorientierte Fallmanagement". Sein Grundrezept ist die Übertragung des "Case Managements" auf das Fallmanagement bzw. den PAP ("Persönlicher Ansprechpartner" im SGBII) und die einzelnen Rezepte beinhalten die Zutaten und das Verfahren und so sieht man bei der Lektüre dieses Büchleins vor dem inneren Auge die fleißigen Studierenden, wie sie in der Küche Arbeitsamt (oder besser auf Neudeutsch "ARGE" bzw. "Agentur für Arbeit") Einstiegsberatung, Assessment, Integrationsplanung, Eingliederungsvereinbarung, Leistungssteuerung und Controlling zum Sonntagsbraten "Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement" zusammen rühren. Doch wem wird der Braten serviert und wem soll erschmecken?

"Hartz IV" - je nach Standpunkt die größte Sozialreform oder der größte Sozialabbau der Bundesrepublik Deutschland - wird seit dem 1. Januar 2005 tagtäglich exekutiert. In den örtlichen ARGEN - "Arbeitsgemeinschaften" im Sinne des SGB II, die sich aus Arbeitsverwaltung und Sozialamt zusammensetzen - treffen zwei unterschiedliche Organisationskulturen aufeinander, die das politisch gewollte "Fördern und Fordern" mit dem Ziel der Halbierung der Arbeitslosigkeit bis Ende 2006 - so Peter Hartz - realisieren müssen.

Auf diesem Hintergrund kann "Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement" gelesen werden als ein Handbuch, eine Rezeptsammlung für diesen in sich widersprüchlichen Prozess. In dieser Lesart ist es einleuchtend, dass grundlegende Fragen, wie z.B. nach der strukturellen Veränderung der Erwerbsgesellschaft, nur pflichtgemäß hier und dort angerissen werden, sich aber im eigentlichen Text nicht wieder finden und auch nicht wieder finden können. Hier herrscht vielmehr die Logik des zu exekutierenden Sachzwangs, der "schnellstmöglichen Überwindung der Hilfebedürftigkeit als Kernelement der neuen Leistung"(10) und damit  der Vermittlung in einen Arbeitsmarkt, der gekennzeichnet ist durch einen strukturellen Mangel an Arbeitsplätzen. Und in dieser Logik des "aktivierenden Sozialstaates" sind dann die primären Ursachen der Arbeitslosigkeit eben nicht im Arbeitsmarkt, sondern in den Erwerblosen zu suchen, mit dem entsprechenden diagnostischen und imperativen Instrumenten zu finden und zu beheben. "Fallmanagement" derart verstanden wird dann zu einer "erfolg versprechenden Betreuungsmethode für MenschenÉdie mehrfache, überwiegend in der Person liegende Vermittlungshemmnisse aufweisen"(10). Der derart etikettierte Ratsuchende (einen Hinweis auf die Theorie des "Labeling" sucht man hier vergebens) wird dann zum "Kunden" und "Kunde und Dienstleister bilden in einer idealtypischen Marktbeziehung ein gleichwertiges "Verhandlungspaar" bei dem es nur dann zu einem erfolgreichen Vertragsabschluss kommt (Vertrag - Eingliederungsvertrag, verhandeln - Arbeitsbündnis), wenn beide Seiten ihre Vorteile daraus erzielen"(11).

Nur der Ordnung halber: Die Kritik aus dem Bereich der Rechtswissenschaften, der Sozialwissenschaften, der Sozialarbeitswissenschaften und der Sozialphilosophie an eben dieser Fiktion der "gleichen Vertragspartner" und dem Zwangscharakter des "Eingliederungsvertrages" füllt mittlerweile Bände - sie wird bei Göckler noch nicht einmal erwähnt, geschweige denn rezipiert.

Diskussion

In dieser ersten Lesart finden wir also eine Rezeptsammlung vor, die geradezu eklektizistisch unterschiedliche und widersprüchliche Positionen und Arbeitsansätze der Sozialen Arbeit zwangsvereint, um einen rein technizistischen Zugang zum widersprüchlichen Alltagshandeln in den Arbeitsgemeinschaften zu finden. Beispielhaft sei hier nur auf das Problem der "Beratung in Zwangskontexten" hingewiesen; ein Problem welches eben nicht durch Verwaltungsakt und Leistungskürzung - wie es das SGB II vorschreibt - gelöst werden kann. Dass dieses Verfahren im Gegenteil folgerichtig zur Reaktanz auf Seiten der Betroffenen führt und auch führen muss, kann in dem hier skizzierten technizistischen Verständnis nicht wahrgenommen werden; es muss vielmehr ausgeblendet werden. Die rechtliche Fragwürdigkeit dieses Verfahrens wird gleichfalls nicht wahrgenommen; man vergleiche dazu nur einmal die Kapitel 6.3 und 6.4.

In einer zweiten Lesart kann "Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement" gelesen werden als Reaktion auf die Reaktanz der eigenen Beschäftigten: Denn diese erleben alltäglich, dass der Vermittlungs-Spagat zwischen arbeitsmarktlichen Rahmenbedingungen und ihren Zielgruppen nicht zu leisten ist, dass die unterschiedlichen Organisationskulturen "Arbeitsamt" und "Sozialamt" nicht passfähig gemacht werden können und dass ihr Arbeitsengagement keine öffentliche Resonanz erfährt. Sie reagieren auf diese Zerreißprobe mit Verweigerung, stiller Kündigung - schlicht und einfach mit Widerstand gegen die "Arbeitsmarktreform" und mit zunehmender Hilflosigkeit, aber auch Ignoranz gegenüber der Lebenswelt der Arbeitssuchenden (15). Hier soll dieses Büchlein dann quasi "therapeutisch" wirken, indem es den Versuch unternimmt, durch schlichte Alltagsrezepte Handeln zu vereinfachen und zu ermöglichen - ein wenig erfolgreiche Strategie wie die entsprechenden Arbeitsmarktstatistiken aufzeigen.

In einer dritten Lesart kann "Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement" wissenschaftstheoretisch gelesen werden, als Musterbeispiel einer politisch gewollten Praxis ohne Theorie. Ohne die wissenschaftliche Grundlegung durch die Sozialarbeitswissenschaft und die Leitwissenschaften der Sozialen Arbeit bleibt dieses Handbuch auf einer Ebene des praktischen Handelns, die keine Handlungsfähigkeit beinhalten kann, da sie keinerlei theoretisch fundierte Reflexion zur Praxis aufweist. Exemplarisch kann dies im Kapitel 8 "Controlling und Leistungssteuerung II - Makrosteuerung" nachvollzogen werden. Hier wird jenseits aller politikwissenschaftlichen, sozialwissenschaftlichen und sozialarbeiterischen Analysen, Einsichten und Erfahrungen eine "Systemsteuerung", ein "ökosozialer Ansatz" aufgerissen, der die Reichweite der "Agentur für Arbeit" und der "ARGEN" und des "Fallmanagers" grotesk überschätzt.

Auch die folgende "Forschungstheoretische Einordnung" im Kapitel 9 ist keine forschungstheoretische Einordnung, sondern der bescheidene Versuch einer Systematisierung. Aber wider Erwarten finden Leserin und Leser gerade an dieser Stelle eine tiefere Einsicht; der "Subtext" einer verdrängten Wirklichkeit bricht sich Bahn: "Wie soll Motivation für ein Arbeitsbündnis entstehen, wenn auch nach noch so viel Fordern und Fördern kein Arbeitsplatz in Sicht ist oder sich die Arbeitsplätze auf 400-Euro-Basis und damit dauerhaft nicht existenzsichernd bewegen?"(166).

Fazit

Wer immer schon wissen wollte, welche Denkstrukturen, welche Deutungs- und Handlungsmuster im Inneren des Leviathan Arbeitsverwaltung vorherrschen, dem ist die Lektüre dieses Büchleins zu empfehlen. Auch wer wissen möchte, wie eben dieser Leviathan "ARGE" und "Agentur für Arbeit" Exklusion und Armut tagtäglich produziert und reproduziert und wie diese banale Exekution ideologisch ummantelt wird, auch der sollte sich diese Lektüre zumuten. Wer aber seinen Blick schärfen möchte für die Zukunft der Erwerbsgesellschaft und der Sozialen Arbeit, für neue und mögliche Perspektiven, für einen neuen Horizont - der greife dann doch lieber zu einem anderen Buch.

Nachtrag: Das Büchlein verkauft sich gut; bereits die zweite Auflage ist auf dem Markt und nach Angaben des Verlages ist die dritte Auflage in Vorbereitung. "Time is on your side" sagt Mick Jagger dazu oder doch eher klassisch: "Was ihr den Geist der Zeiten heißt, - Das ist im Grund der Herren eigner Geist". (Goethe).

Rezension von
Prof. Dr. Thomas Münch
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Fach Verwaltung und Organisation

Es gibt 15 Rezensionen von Thomas Münch.

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Zitiervorschlag
Thomas Münch. Rezension vom 08.08.2007 zu: Rainer Göckler: Beschäftigungsorientiertes Fallmanagement. Praxisorientierte Betreuung und Vermittlung in der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II). Eine Einführung. Walhalla Fachverlag (Berlin) 2006. ISBN 978-3-8029-7485-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3790.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.


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