Carsten G. Ullrich: Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Eine Einführung
Rezensiert von Prof. Dr. Nicole Göler von Ravensburg, 11.02.2007
Carsten G. Ullrich: Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Eine Einführung. Campus Verlag (Frankfurt) 2005. 262 Seiten. ISBN 978-3-593-37893-0. 17,90 EUR.
Überblick und Zielsetzung
Zur Einführung in die Betrachtung des deutschen Sozialstaates gibt es eine Reihe einschlägiger Lehrbücher, die in der Regel neben der historischen Entstehung vor allem auch Wert auf die rechtlichen Rahmenbedingungen legen. Hiervon unterscheidet sich das vorliegende Buch durch eine klare soziologische Orientierung. Carsten G. Ullrich stellt die aktuelle Sozialpolitik aus soziologischer Perspektive dar, konzentriert sich also auf die Ursachen für wohlfahrtsstaatliches Handeln und seine Folgen. Die Beschäftigung mit dem Dreigestirn Sozialer Sicherheit, Armut, (Un-) Gleichheit bleibt nicht bei der Erklärung der Probleme und der Begründung sozialstaatlichen Handlungsbedarfes stehen. In gleichem Umfang finden vielmehr gut fokussierte Auseinandersetzungen statt mit der "Performanz" des Sozialstaates und mit den Wechselwirkungen zwischen wohlfahrtsstaatlichem System, Effektivität und Effizienz der sozialstaatlichen Aktivitäten einerseits sowie solchen des wirtschaftlichen und politischen Systems und anderer Politikfelder mit sozialstaatlichem Handeln andererseits.
In der Diskussion der Probleme, die mit der Ausgestaltung
sozialer Sicherungssysteme wie auch mit dem demografischen Wandel, der Globalisierung
und der Arbeitslosigkeit verbunden sind, stellt Ullrich klar heraus, dass aller
Wahrscheinlichkeit nicht die Finanzierung an sich sondern die Strukturen und
Organisationsmuster des deutschen Wohlfahrtsstaates sowie die Prämisse der
Vollerwerbsarbeit die Zukunftsaussichten des Wohlfahrtsstaates schmälern. Die
Ergebnisse empirischer
Akzeptanzforschung setzt er geschickt ein, um defätistische
Argumentationsketten zu widerlegen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist erfreulich konsequent nach soziologischen Gesichtspunkten aufgebaut, in sieben Kapitel gegliedert und auf das Wesentliche konzentriert. Gute Anbindungen von Empirie an verschiedene Therorieansätze zeichnen die Methodik aus.
- Eine kurze Einleitung erläutert die Ziele des Buches, und gibt einen Überblick über die Herangehensweise.
- Im leicht zu lesenden zweiten Kapitel befasst sich der Autor mit den Ursachen von Wohlfahrtsstaatlichkeit. Zunächst werden skizzenhaft die Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen von Wohlfahrtsstaatlichkeit aufgezeigt (2.1), dann der wissenschaftliche Paradigmendiskurs angerissen (2.2), die verschiedene Typenbildung von Wohlfahrtsstaaten dargestellt und auf einige Besonderheiten des deutschen Wohlfahrtsstaates hingewiesen (2.3).
- Im dritten bis fünften Kapitel findet die eigentliche Einführung in die Sozialpolitik statt. Sie befassen sich mit den wichtigsten sozialen Wirkungen wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Das dritte Kapitel untersucht die Bedeutung von Sozialpolitik für die Gewährleistung sozialer Sicherheit. Nach definitorischen und konzeptionellen Einlassungen (3.1 und 3.2) wird ausgeführt, welche Begründungen Interventionen zur Erhöhung der sozialen Sicherheit erfahren (3.3). Hier treten zwei der wenigen Schwachstellen des Buches zu Tage: einerseits bleibt die Auseinandersetzung mit der Begründung für Staatseingriffe relativ oberflächlich. Andererseits ist die institutionenökonomisch basierte Argumentation für den nicht entsprechend fachkundigen Leser nicht ganz einfach zu verstehen (S.78ff). Der Hauptteil des Kapitels (3.4) ist den Fragen gewidmet, wie mehr soziale Sicherheit erreicht werden kann und wie sich Wohlfahrtsstaaten dabei unterscheiden. Hier ist sehr schön sowohl die subjektive Wahrnehmung als auch die objektive Sicht von Sicherheit einbezogen worden. Ebenso positiv hervorzuheben ist das bewusste Hinterfragen eher einseitig polit-ökonomischer Argumentation hinsichtlich der Dekommodifizierung. Abschnitt 3.5 beschäftigt sich mit dem potentiellen Konflikt zwischen den Zielen Sicherheit und Freiheit und Abschnitt 3.6 mit den Wirkungen sozialer Sicherheit auf die individuelle Autonomie.
- Armutsbekämpfung ist das Thema des vierten Kapitels. Von der Erläuterung, wie Armut zum sozialpolitischen Problem wurde (4.1), über die Definitions- und die Messproblematiken (4.2) führt der Autor den Leser zum gegenwärtigen Stand der Forschung zu Ursachen und Folgen von Armut (4.3), zur Diskussion über die Performanz der Sozialstaates in der Armutsbekämpfung (4.4) und zu den gegenwärtig diskutierten definitorischen und politischen Alternativen (4.5). Dem Autor gelingt es in Kapitel 4 komplexe Sachverhalte erfreulich überschaubar dar zustellen, ohne dabei oberflächlich zu werden.
- Kapitel 5 untersucht ob (5.1) und wie der Wohlfahrtsstaat soziale Ungleichheit abbaut. Die Messung von Ungleichheit wird dabei genauso betrachtet (5.2) wie die Unterschiede, die sozialpolitische Regelungen diesbezüglich aufweisen (5.3). Das Kapitel schließt mit einer kritischen Diskussion zur Messung von sozialer Ungleichheit. In diesem Kapitel gibt es zwar wiederum kleine Schwächen, insbesondere bei den Erläuterungen zur Unschärfe im Hinblick auf die Einkommensverteilung. Im Großen und Ganzen aber ist die schwierige Materie dank klarer Strukturierung sehr verständlich aufbereitet.
- Die politischen und sozialen Wirkungen sozialstaatlichen Handelns stehen im Zentrum des sechsten Kapitels. Vielschichtige Wechselwirkungen zwischen Wirtschaft und Sozialpolitik, wie bspw. in der Frage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit oder der Finanzierbarkeit, werden in Abschnitt 6.1 diskutiert, während sich Abschnitt 6.2 neueste Ergebnisse der Akzeptanzforschung dargestellt werden. Der Autor war gut beraten dieses Kapitel kurz zu halten, es aber nicht auszulassen!
- Im letzten Kapitel werden schließlich einige der gegenwärtigen Herausforderungen des Wohlfahrtsstaates und insbesondere die neueren, sozialpolitisch relevanten gesellschaftlichen Konfliktlinien diskutiert. Obwohl er auch hier knapp bleibt, greift der Autor doch die wesentlichsten Stränge der gegenwärtigen Diskussion auf und überspitzt sie vielleicht sogar ein wenig. Er kann auf der Basis der Grundlegung der vorherigen Kapitel von längeren Begründungen für die Auswahl dessen, was er als relevant ansieht, getrost absehen und entgegnet gängiger, wenn auch in dieser Darstellung zugespitzten Fundamentalkritik am Wohlfahrtsstaat auf effektive Weise durch Heranziehung der Ergebnisse empirischer Akzeptanzforschung.
Diskussion
Vom einleitend festgehaltenen Credo "The welfare state is here to stay..." geleitet, setzt sich der Autor das Ziel, ein "besseres Verständnis der Gründe und Wirkungsweisen von Sozialpolitik zu ermöglichen" und will einen Überblick über allgemeine Leistungen und Leistungsfähigkeit des deutschen Sozialstaates sowie eine soziologische Einführung in die Sozialpolitik sein. Während zweites wirklich in hervorragender Weise erfüllt, ist das erste Ziel schon in der Einleitung wieder etwas zurückgenommen (s. S. 11) und letztlich auch nicht uneingeschränkt erreicht worden. Dazu ist die Erläuterung der verschiedenen Sicherungs-, Versorgungs- und Fürsorgeinstrumente eher zu implizit gehalten. Das tut jedoch weder der Lesbarkeit des Buches noch dem Sinngehalt des Ansatzes Abbruch. Im Gegenteil, durch die Konzentration auf das, was der Leser zur Beurteilung der Performanz und Erklärung der Akzeptanz des Sozialstaates braucht, gewinnt das Buch an Bedeutung. Es ist präzise dieser Ausrichtung geschuldet, dass sich diese soziologische Einführung in die Sozialpolitik von anderen Einführungen abhebt.
Durch Diskussionsfragen am Ende der einzelnen Kapitel, die Hinweise auf weiterführende Literatur sowie den Glossar am Ende des Buches regt es zur näheren Auseinandersetzung mit den behandelten Problematiken an und ermöglicht so auch gut die eigenständige Erarbeitung wichtiger Themenfelder der soziologischen Wohlfahrtsstaatsanalyse.
Zielgruppen
Insgesamt eignet sich das Buch zum einen wunderbar als ergänzende Literatur für das Grundlagenstudium der Sozialarbeit, Sozialpädagogik oder Soziologie, für angehende WirtschaftswissenschaftlerInnen oder FinanzwissenschaftlerInnen mit sozialökonomischer Ausrichtung. Andererseits ist es eine spannende Lektüre zum Selbststudium für alle, die eine objektive Sicht auf die Diskussion um die Zukunft unseres Sozialstaates suchen.
Fazit
Zwar gibt es keinen Mangel an Einführungsliteratur in die deutsche Sozialpolitik. Dieses Buch ergänzt vorhandene Werke jedoch sehr gut durch seine durchgängige soziologische Herangehensweise. Es ist verständlich geschrieben, kommentiert Fachterminologie derart, dass auch Einsteiger implizit davon profitieren und bringt selbst komplexe Sachverhalte durch einen stringenten Aufbau und eine klare soziologische Fokussierung auf den Punkt. Dafür enthält es keine historischen Erläuterungen oder Bezüge zum Rechtsrahmen.
Vielmehr wird immer wieder ein vergleichender Blick über Ländergrenzen geworfen und die Empirie befragt, was sowohl das Verständnis für die deutsche Sozialpolitik erhöht, als auch dem Thema deutlich schärfere Konturen verleiht. Insgesamt liegt hier ein sowohl für den Einsatz in der akademischen Lehre als auch für das Selbststudium bestens geeignetes Einführungsbuch für diejenigen vor, die sich aus einem soziologischem Blickwinkel mit dem Wohlfahrtsstaat beschäftigen wollen.
Rezension von
Prof. Dr. Nicole Göler von Ravensburg
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Es gibt 2 Rezensionen von Nicole Göler von Ravensburg.
Zitiervorschlag
Nicole Göler von Ravensburg. Rezension vom 11.02.2007 zu:
Carsten G. Ullrich: Soziologie des Wohlfahrtsstaates. Eine Einführung. Campus Verlag
(Frankfurt) 2005.
ISBN 978-3-593-37893-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3825.php, Datum des Zugriffs 06.11.2024.
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