Ursula Koch-Straube: Beratung in der Pflege
Rezensiert von Kinie Hoogers, 30.06.2002

Ursula Koch-Straube: Beratung in der Pflege. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2001. 211 Seiten. ISBN 978-3-456-83626-3. 29,95 EUR.
Einführung in das Thema
Im Rahmen ihrer Professur in der Pflegewissenschaft an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum mit dem Schwerpunkt Beratung/Supervision entwickelte Ursula Koch-Straube ein Curriculum zu "Beratungskompetenz" und fand dafür keine "sachdienlichen Vorbilder" (7). Ausgehend von der Frage, ob Beratung als inhärenter Teil von Pflege an zu sehen ist – oder ob dies anderen Professionen, Sozialpädagogen, Psychologen, Ärzten überlassen bleiben sollte – bezog sie sich auf ihre im Bereich von Pflegeheimen gemachten Erfahrungen. Sie kam zu der Überzeugung, dass es an der Zeit sei, grundsätzliche Aspekte von Beratung, wie "die genuine Würde des Menschen und das Recht auf und die Kompetenz zur Selbstbestimmung – potentiell in allen Lebenslagen" (8) in das Selbstverständnis von Pflege zu integrieren. Nicht die Oberhoheit des Medizinisch-pflegerischen und die Unterordnung der Gepflegten, sondern das partnerschaftliche Aushandeln der Pflegeziele zwischen Patient/in bzw. Heimbewohner/in und den Pflegenden sollte Leitbild sein.
Das Buch steht unter dem Leitmotiv eines Zitates von Erich Fried, das hier verkürzt wiedergegeben wird:
< (...) Die Gewalt fängt nicht an, wenn Kranke getötet werden. Sie fängt an, wenn einer sagt: "du bist krank und du musst tun, was ich dir sage!" > (7)
"Verluste im Laufe der Geschichte"
Im ersten Kapitel wird die Geschichte der Pflege dargestellt mit der Trennung von Heilen (meist Männern vorbehalten) und dem Pflegen (meist unentgeltlich von Frauen geleistet), wobei Letzteres wohl immer ganzheitliche Aspekte hatte. Die Medizin hat von jeher die Oberhoheit beansprucht, und die Pflege hat sich sehr lange dem gebeugt.
Als schlimmste Form der Unterordnung von Pflege unter die Medizin wird ihre Beteiligung an den Euthanasie-Programmen genannt und mit einem Zitat aus einem Prozess belegt.
Die Emanzipation der Pflegeberufe seit ca. 1945 geht eher in Richtung auf Orientierung auf das "distanzierende Medizinsystem" (14) als auf (eher personennahe) Beratung, da dies zu den (abwertend erlebten) weiblichen Anteilen gehört.
"Der lange Weg zur Patientenorientierung in den Pflegetheorien"
Im zweiten Kapitel werden nacheinander verschiedene Pflegetheorien und die entsprechenden psychosozialen Theorien bzw. Therapieschulen anhand folgender Merkmale vorgestellt: Pflegekraft-Patient-Interaktion, Aufgaben und Rolle der Pflegenden, Ziele der Pflege und Kompetenzen der Pflegenden. Jedem Abschnitt folgt eine Diskussion, welche Konsequenzen die Anwendung der Theorien jeweils in der Realität hat.
Es schließt sich die "Patientenorientierung als Pflegemodell" an, erweitert um die Beschreibung einer amerikanischen Studie zu den Kompetenzen der Pflege.
In der abschließenden Betrachtung wird die Frage gestellt, inwiefern diese Theorien dazu beitragen können, ein ganzheitliches, holistisches Leitbild zu entwerfen, in dem die Bedürfnisse und Erwartungen der Gepflegten und pflegerisches Selbstverständnis austariert sind.
"Herausforderungen in der Gegenwart: die Notwendigkeit der individuellen Entscheidung"
Im dritten Kapitel werden zwei soziologische Ansätze referiert, weil Pflege "ein bedeutender Teil gesellschaftlichen Lebens" (37) darstellt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der fortschreitenden Individualisierung und ihrer Auswirkung auf die Beziehung zwischen den Pflegenden und den Gepflegten. Außerdem werden philosophische Gedanken aufgenommen.
Es wird festgestellt: Der Individualismus und die Autonomie der Mitglieder der heutigen Gesellschaft stehen in gewissem Widerspruch zu den Gepflogenheiten im gesamten Gesundheitswesen, in dem das Gefälle (s. Zitat von Fried) weiterhin aufrecht erhalten wird.
"Alltägliche Situationen I: Beratungsbedarf im Pflegealltag"
Im vierten Kapitel wird in acht Fallbeispielen, sowohl aus dem Bereich der Altenpflege als aus Krankenhäusern, beschrieben, wie anscheinend vorhandene Chancen von Beratung nicht wahrgenommen werden – aus verschiedenen Gründen. Die Vorstellungen und Erwartungen der Patientinnen und Patienten sowie der Heimbewohner/innen, wie mit ihren Problemen umgegangen werden könnte, werden nicht erfüllt; bei den Pflegenden wird u. a. Hilflosigkeit und Unsicherheit beschrieben.
"Beratung in der Pflege"
Im fünften Kapitel werden verschiedene Definitionen von Beratung mit einander verglichen, wobei nicht-direktive psychologische Verhaltensmodifikation und umfassende soziale Beratung (mit dem Ziel der Bewältigung weit mehr umfassender Probleme) die Pole bilden. Dazwischen liege psychosoziale Beratung mit einem Schwerpunkt auf das emotionale Erleben.
Im folgenden Teil des Kapitels werden Beratung, Therapie, Alltagsberatung und Erziehung gegeneinander abgegrenzt; dann werden die sozialen Konstellationen in der Beratung sowie Supervision und kollegiale Beratung besprochen.
Das Besondere an der Beratung in der Pflege ist, dass – anders als in Sozialarbeit und Sozialpädagogik – der körperlich beeinträchtigte Mensch im Mittelpunkt steht, mit allen tangierenden Aspekten, wie Schmerz, Angst, Sinnfrage. Außerdem spielt die Berührung zwischen Menschen in anderen beratenden Situationen nie eine so wichtige Rolle. Eine holistische Betrachtungsweise für beide Partner ist notwendig, ein "reflektierter Umgang mit Distanz und Nähe" (77) ist auch für Beratung wichtig. Kennzeichnend für Beratung in der Pflege sei zudem die Intensität und Mehrdimensionalität.
Das Machtgefälle, das durch den Besitz von Wissen gegeben ist, ist eines der größten Hindernisse auf dem Weg zu einer Partnerschaft in der Beratung ("Arbeitsbündnis", 78) zwischen Pflegenden und Gepflegten. Zu den Grenzen des Wissens gehört die Tatsache, dass den Pflegenden zumeist nur sehr wenig, bei Migrantinnen und Migranten sogar fast nichts über deren alltägliches Umfeld und Traditionen bekannt ist.
Im Abschnitt "Information, Anleitung, Beratung" werden die unterschiedlichen Zielsetzungen dieser Aspekte von Pflege geschildert und unter Einbeziehung einiger der vorherigen "Fälle" erläutert.
Die "leiborientierte Beratung" (85) wird als eigener Auftrag der Pflege eingefordert; dabei soll die Ganzheit des Menschen und nicht nur sein körperliches Problem im Blick sein. Anhand der Beispiele Schmerz und Sterben wird dies präzisiert. Intuition wird als fundiertes, erlernbares Einfühlungsvermögen umschrieben, das als "die höchste Stufe pflegerischen Expertentums" (91, nach Benner) bezeichnet wird.
In der partnerschaftlichen Auffassung von Beratung ist Offenheit unabdingbar; die Pflegenden sollen ihr ganzes Wissen mit den Gepflegten teilen, damit diese die gleiche Kompetenz zu Entscheidungen erhalten wie sie selbst. Und es soll eine Balance gefunden werden zwischen "notwendigem Schutz vor psychischer Überlastung einerseits und grenzenloser Zuwendung andererseits" (92); auch für sich selbst sollen die Pflegenden also Sorge tragen.
"Alltägliche Situationen II: Innere Dialoge"
Im sechsten Kapitel werden zwei der Fallbeispiele aus dem vierten Kapitel aufgegriffen und imaginäre, innere Dialoge der Beteiligten und gesprochene Sätze parallel dargestellt. Ziel: Es wird veranschaulicht, wie sehr Menschen "in Gesprächen partiell oder gänzlich aneinander vorbeireden können" (96).
"Beratungstheorien"
Im siebten Kapitel greift die Autorin zurück auf die Erkenntnisse in vorangegangenen Kapiteln, in deren Kontext u. a. die Grenzen der Kompetenzen und Möglichkeiten der Pflege gegenüber den Erwartungen der Gepflegten thematisiert wurden.
Die Forderung: "Leiborientierte Pflege zieht eine leiborientierte Beratung nach sich. Oder besser: Leiborientierte Beratung ist integraler Bestandteil der Pflege" (99) bestimmt den Blick auf vorhandene Beratungskonzepte in anderen Disziplinen. Diese werden nun daraufhin betrachtet, inwiefern sie den eben formulierten Forderungen gerecht werden.
Vorgestellt werden z. B. humanistische Konzepte, wie die klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie (Rogers), bei der angemerkt wird, dass hier hohe Anforderungen an die verbale Kommunikation gestellt werden. Ferner verhaltenswissenschaftliche Konzepte, welche auf Verlernen und neu Lernen von Verhalten basieren: Hier wird zwar die Konkretisierung in Form der Verhaltensmedizin gesehen, aber die überwiegend kognitive Ausrichtung entspricht nicht der Vision des holistischen Ansatzes. Tiefenpsychologische und systemische Konzepte werden kurz beschrieben; sozialwissenschaftlichen Konzepten wird mehr Raum gegeben, da sie die "Dichotomie zwischen psychologischer und sozialer Beratung" (106) überwanden und sie sich also eher dem gesetzten Ziel eines ganzheitlichen Konzeptes nähern.
Eines der Fallbeispiele wird nun nach jeder der bisher vorgestellten Konzepte aufgearbeitet – mit der Schlussfolgerung, dass in der Praxis kaum jemals ein solches Konzept "in Reinkultur" (109) angewandt wird; je nach den Erfordernissen der Situation werde dieser oder jener Ansatz benutzt.
Das integrative Beratungskonzept, das sich an der integrativen Therapie von Petzold orientiert, wird ausführlich dargestellt und als "attraktiv" (113) für Beratung in der Pflege beschrieben. Die besonderen Merkmale dieser Beratung, wie das Prozesshafte, ihre Stufen und Methoden sollten, so eine Fußnote, an anderer Stelle in Form einer "explitize(n) und differenzierte(n) Übertragung" (120) dieses Konzeptes auf die Beratung in der Pflege übertragen werden, was derzeit an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum versucht werde.
"Alltägliche Situationen III: Gespräche, die weiterführen"
Im achten Kapitel werden nun die beiden Fallbeispiele aus dem sechsten Kapitel wieder vorgestellt und auf der Basis der integrativen Beratung konstruktiv bearbeitet.
"Handlungsfelder der Beratung in der Pflege: Beispiele aus der Praxis"
Das neunte Kapitel stellt anhand einiger Diplomarbeiten von Fachhochschulabsolventinnen Umsetzungen vor; die Bereiche sind unterschiedlich und befassen sich mit den Eltern chronisch kranker Kinder, mit interkultureller Pflege, Pflegeüberleitung und Beratung als Auftrag des Pflegeversicherungsgesetzes.
"Grenzen der Beratung"...
... werden im zehnten Kapitel thematisiert. Hier sei nämlich kein Wundermittel gefunden, das alle Probleme von Beratung löse; es gebe überwindbare, aber auch unüberwindbare Probleme. Es wird noch einmal auf Notsituationen verwiesen, in denen keine Möglichkeit zum partnerschaftlichen Aushandeln von Pflegezielen möglich ist, die aber öfter als Gegenargument herhalten müssen, um ein solches paritätisches, holistisch orientiertes Beratungskonzept abzulehnen. Ferner hilft das herkömmliche Konzept (im Sinne von: ich weiß, was gut für Sie ist), psychische Belastungen der Pflegenden zu begrenzen. Institutionelle Rahmenbedingungen würden zudem eine Umsetzung be- oder verhindern. Und mangelnde Kooperationsbereitschaft der Gepflegten führt zu der Beurteilung, dass diese "schwierig" seien, ohne dass nach den Gründen gefragt werde. An Demenz Erkrankte sind aufgrund ihrer Beeinträchtigung nicht in der Lage, ihre Situation einzuschätzen und daher kaum Partner für ein Aushandeln von Pflegezielen. Es kommt hinzu, dass die Umsetzung Zeit erfordert, sich der Gesamtpersönlichkeit zu widmen; diese werde aber für die medizinisch-pflegerischen Tätigkeiten dringend benötigt.
Eine zu beachtende Grenze sei aber da gegeben, wo es um Abgrenzung zu Therapie gehe; auch wenn diese Grenze schwer zu bestimmen sei.
Das elfte Kapitel zeigt
"Konsequenzen"
aus dem bisherigen auf für Gesundheitswesen (z. B. durch Einrichtung von Patienten-Informationszentren, analog jenen in den USA), Aus-, Fort- und Weiterbildung (Vermittlung der Erkenntnisse und Praxiseinübung sowie Supervision) und Forschung (es werden etliche Fragen dazu formuliert).
Im zwölften Kapitel
"Übergänge"
schließlich wird die Frage aufgeworfen, ob Beratung nicht auch als Spezialaufgabe verstanden werden kann in Form einer "Gesundheits- bzw. Pflegeberaterin" (193); die Pflegenden brauchen Praxisberatung und Supervision. Schließlich müssten auch Organisationen im Sinne von OE beraten werden.
Möglicherweise, so eine der Erkenntnisse dieses Buches, könnte das Missachten der Kompetenzen der Pflege mit ein Grund für ein "ungünstiges Verhältnis zwischen hohen Ausgaben und durchschnittlichen Leistungen" (198) im deutschen Gesundheitswesen sein.
Fazit
Ein roter Faden: "Wie ist Beratung zu verstehen, welche vorhandenen Konzepte sind hilfreich, wie können die Erkenntnisse umgesetzt werden und welche Forderungen müssen als Konsequenz erhoben werden?" durchzieht das Buch und führt zu den angegebenen logischen Schlüssen und Forderungen.
Weder der Verlag noch das Vorwort o. ä. geben an, für wen dieses Buch geschrieben wurde; es ist eine Standortbestimmung. Als solche ist es hervorragend geeignet, im Rahmen des Studiums der Pflegewissenschaften zu der grundlegenden Diskussion über "Beratung in der Pflege" beizutragen. Die Fülle der heran gezogenen Fachliteratur mit oft nur kurzen inhaltlichen Hinweisen dazu lässt darauf schließen, dass an Fortgeschrittene gedacht wurde.
Pflegefachkräfte aber, welche aufgrund eines durch den Titel ausgelösten "inneren Dialogs" dieses Buch kaufen, werden es aller Wahrscheinlichkeit nach enttäuscht aus der Hand legen, wenn sie sich praktische Hilfestellung für ihre tägliche Arbeit erhofften. Sie werden aufgrund ihrer Ausbildung kaum in der Lage sein, den theoretischen Teil sinnvoll nachzuvollziehen und erst garnicht die praktischen Umsetzungen der Schlussfolgerungen lesen.
Hier liegt dann aber die Aufgabe der Lehrenden in Aus- und Fortbildung, diese Erkenntnisse zu transponieren.
Rezension von
Kinie Hoogers
Diplom-Pädagogin
Fortbildungen in der Altenpflege, Gerontologische und altenpflegerische Forschung
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