Klaus D. Kubinger: Psychologische Diagnostik
Rezensiert von Dr. Anne-Kathrin Mayer, 05.09.2006

Klaus D. Kubinger: Psychologische Diagnostik. Theorie und Praxis psychologischen Diagnostizierens. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG (Göttingen) 2006. 458 Seiten. ISBN 978-3-8017-1693-6. 39,95 EUR. CH: 69,90 sFr.
Zur Relevanz des Themas
Psychologisches Diagnostizieren stellt eine Kernaufgabe für praktisch tätige Psychologinnen und Psychologen dar. Auch die Forschung in verschiedenen psychologischen Teilfächern muss bei ihren Versuchen der Erkenntnisgewinnung auf sorgfältig konstruierte psychodiagnostische Untersuchungsverfahren zurückgreifen können. Das Fach "Psychologische Diagnostik" gehört daher zu den zentralen Ausbildungsfächern im Rahmen des Studiengangs "Psychologie".
Der Autor des Bandes, Klaus D. Kubinger, ist Professor für Psychologische Diagnostik an der Universität Wien und dort verantwortlich für die Ausbildung der Studierenden im Fach "Psychologische Diagnostik". Er verfolgt mit dem vorgelegten Band das Ziel, Psychologie-Studierenden ein "aus einem Guss" geschriebenes Lehrbuch anzubieten, das unter Verwendung einer einheitlichen und stringenten Fachterminologie eine in sich abgerundete, praxisbezogene Einführung in das Themengebiet liefert.
Aufbau, Inhalte, Gliederung
- Kapitel 1 ("Einführung") enthält zentrale Begriffsbestimmungen und gibt einen kurzen Abriss der Geschichte psychologischer Diagnostik. Zudem werden wichtige Grundsätze psychologischen Diagnostizierens vorgestellt, von denen insbesondere die DIN 33430 hervorgehoben wird, welche die Anforderungen an diagnostische Verfahren und deren Einsatz bei der berufsbezogenen Eignungsbeurteilung regelt.
- Das umfangreiche Kapitel 2 "Testtheoretische Grundlagen" erläutert ausführlich die Haupt- und Nebengütekriterien psychologischer Untersuchungsverfahren, wobei sowohl auf die Klassische Testtheorie wie auch auf Ansätze der Probabilistischen Testtheorie eingegangen wird.
- Unter der Überschrift "Formales" werden in Kapitel 3 Gestaltungsmöglichkeiten diagnostischer Verfahren sowie verschiedene Erhebungstechniken (Prüfen, Fragen, Beobachten) und Prozess-Strategien (Untersuchungs- vs. Entscheidungsstrategien) erklärt und veranschaulicht.
- In Kapitel 4 ("Inhalte") geht Kubinger auf standardisierte Verfahren zur Leistungs- und Persönlichkeitsdiagnostik ein. Zwei Unterkapitel sind der Diagnostik "hybrider Eigenschaften" (Kreativität, "Soziale Intelligenz") und der "Biographie" gewidmet.
- In dem kurzen Kapitel 5 "Besondere Merkmalsträger" findet sich ein Einblick in Möglichkeiten der Diagnostik in Gruppen und Teams sowie in Techniken der Arbeitsplatzanalyse.
- Auch die weiteren Kapitel zu den Anwendungsfeldern psychologischer Diagnostik fallen in Relation zu den grundlagenorientierten Kapiteln recht knapp aus. Kapitel 6 ("Gutachten") liefert eine Einführung in Aufbau und Gestaltung schriftlicher Gutachten und verdeutlicht häufig gemachte Fehler. Äußerst hilfreich sind hier die von Studierenden erstellten Demonstrationsbeispiele psychologischer Gutachten, die trotz (oder gerade wegen) ihrer Einfachheit wesentliche Gestaltungsprinzipien sehr gut veranschaulichen.
- In Kapitel 7 werden "Themenbereiche psychologisch-diagnostischer Fragestellungen" (z.B. Entwicklungsdiagnostik im frühen Kindesalter, Neuropsychologische Diagnostik, Klinisch-psychologische Diagnostik) auf jeweils kaum mehr als einer Textseite abgehandelt. Zur Vertiefung wird auf Fallbeispiele verwiesen, welche durchweg einem vom Autor 1997 herausgegebenen Band entstammen.
- Das abschließende Kapitel 8 "Ausstehende Grundlagenforschung zum diagnostischen Prozess" enthält einen Katalog von ungelösten Fragen und Problemen der psychologischen Diagnostik, die fünf Themenschwerpunkten (u.a. Optimierung des diagnostischen Prozesses, Compliance, Gendereffekte) zugeordnet sind.
Ergänzt wird der Band durch einen umfangreichen Anhang, bestehend aus zwei Teilen.
- Im ersten Teil sind Verfahrensbeschreibungen zu häufig eingesetzten psychologischen Tests und Fragebögen zusammengestellt.
- Der zweite Teil, "Diagnostik-Info-Check '05", besteht aus einer Sammlung von Fragen zur psychologischen Diagnostik, deren Antworten sich durch sorgfältiges Studium des Bandes erschließen lassen.
Angesprochener Nutzerkreis
Der Band wurde primär als einführendes Lehrbuch für die praxisnahe Ausbildung von Studierenden der Psychologie verfasst. Er kann zugleich praktisch tätigen Diplom-Psychologinnen und -Psychologen als Zusammenfassung des state of the art der psychologischen Testdiagnostik dienen. Zum gleichen Zweck kann er von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in verschiedenen Teildisziplinen der Psychologie genutzt werden.
Diskussion
Kubinger legt mit seinem Band eine umfassende, flüssig geschriebene Darstellung von Prinzipien und Strategien des psychologischen Diagnostizierens vor. Ausgehend von der Diskussion fundamentaler Fragen und Probleme aus der psychodiagnostischen Grundlagenforschung gelingt es dem Autor immer wieder, nachvollziehbare Bezüge zur Praxis der (Test-)Diagnostik herzustellen. Wie wohl kein anderes Lehrbuch zu diesem Themengebiet enthält der Band zahlreiche Bezüge zu aktuellen Erkenntnissen der Grundlagenforschung. Er dokumentiert damit zugleich die beeindruckende wissenschaftliche Produktivität des Autors, aus dessen Arbeitsgruppe viele der referierten Erkenntnisse stammen.
Aufgrund der hohen Differenziertheit der Ausführungen stellt der Band jedoch auch sehr hohe Ansprüche an seine Leserinnen und Leser. Zwar wird das Verstehen erheblich dadurch erleichtert, dass die theoretischen Ausführungen durch vielfältige Beispiele illustriert werden (z.B. detaillierte Darstellungen von Testverfahren und / oder Wiedergabe einzelner Testitems, Screenshots aus computergestützten Verfahren). Studierenden, die noch keine einschlägigen Vorkenntnisse besitzen, dürfte die Lektüre des Bandes dennoch alles andere als leicht fallen: Zahlreiche Exkurse (eingeführt als "Erläuterung", "Bemerkung am Rande" oder "Exkurs") stören mitunter den Lesefluss erheblich und machen es schwer, das Wesentliche der Ausführungen zu erkennen, zumal sie optisch nicht klar vom Kerntext abgegrenzt sind. Umso mehr vermisst man Kapitelzusammenfassungen, in denen die Kerngedanken des jeweiligen Kapitels noch einmal hervorgehoben werden. Für ein Lehrbuch ungeeignet erscheint das gewählte Layout: Die sehr kleine Schrifttype und der engzeilige Druck machen das Lesen anstrengend und unangenehm. Zudem lässt die Randgestaltung kaum Platz für eigene Notizen, Kommentare o.ä.
Unter inhaltlichen Aspekten kann die Gewichtung der behandelten Themengebiete durchaus kritisch gesehen werden. Insbesondere werden diagnostische Möglichkeiten jenseits der standardisierten Testdiagnostik nur sehr knapp behandelt, obschon diese gerade in der klinisch-psychologischen Praxis einen hohen Stellenwert besitzen.
Schließlich erzeugt die Auflistung vieler Fragen, auf die die Forschung bislang noch keine befriedigenden Antworten gefunden hat, bei den Leserinnen und Lesern eine massive (vermutlich vom Autor sehr wohl intendierte) Verunsicherung: Erscheint es angesichts dieser weit reichenden Probleme überhaupt gerechtfertigt, psychologische Diagnostik zu betreiben? Auf diese zentrale Frage findet sich im Text selbst keine ermutigende Antwort, die ich mir z.B. in einem letzten Abschnitt des Schlusskapitels erhofft hätte. Stattdessen resümiert lediglich ein Zitat, das unauffällig zwischen Text und Anhang positioniert wurde und dadurch möglicherweise von vielen Leserinnen und Lesern gar nicht zur Kenntnis genommen wird, die zwar kritische, aber durchaus konstruktive Haltung des Autors.
Fazit
Obschon als ein "Lehrbuch" eingeführt, lässt sich der Band in weiten Teilen eher als eine aktuelle und hoch differenzierte kritische Standortbestimmung der Theorie und Praxis psychologischen Diagnostizierens beschreiben. Für ein Einführungslehrbuch im Fach "Psychologische Diagnostik" erscheint mir das Themengebiet nicht optimal didaktisch aufbereitet. Als Vertiefung für fortgeschrittene Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter eignet sich der Band jedoch hervorragend. Dieser Personenkreis dürfte die Fülle systematisch zusammengetragener Erkenntnisse eher als Bereicherung denn als Belastung empfinden und durch die aufgeworfenen, höchst interessanten wie auch relevanten Fragen möglicherweise sogar zu eigener psychodiagnostischer Grundlagenforschung angeregt werden.
Rezension von
Dr. Anne-Kathrin Mayer
Leibniz-Zentrum für Psychologische Information
und Dokumentation (ZPID), Trier
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