Sibylle Heeg, Katharina Bäuerle: Demenzwohngruppen und bauliches Milieu
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 05.09.2006

Sibylle Heeg, Katharina Bäuerle: Demenzwohngruppen und bauliches Milieu.
Demenz Support Stuttgart gGmbH
(Stuttgart) 2005.
81 Seiten.
ISBN 978-3-937605-03-6.
17,50 EUR.
Reihe: Planen und Bauen, Band 2.
Zur Thematik des Buches
Demenzkranke besitzen aufgrund ihrer kognitiven Minder- und Fehlleistungen eine äußerst geringe Person-Umwelt-Passung dergestalt, dass sie mit verschiedenen Reizen der Umwelt überfordert sind und entsprechend mit gravierenden Stressphänomenen reagieren. Sie können sich räumlich nicht mehr orientieren, finden ihr Zimmer oder die Toilette nicht mehr, neigen zu Fehlwahrnehmungen, wenn sie z. B. ein Spiegelbild für eine lebendige Person halten und fürchten sich vor Schatten und Dunkelheit. All diese Krankheitssymptome haben in den letzten Jahrzehnten dazu geführt, dass in verschiedenen Ländern im Bereich der Demenzarchitektur und des Demenzmilieus Modelle und Strategien entwickelt wurden, die im Wesentlichen darauf hinauslaufen, die Minderleistungen in der Wahrnehmung und im Verhalten durch räumliche Anpassungsleistungen zu kompensieren.
Im Rahmen des Projektes "Einführung milieutherapeutisch orientierter Demenzwohngruppen im stationären Bereich mit begleitender Evaluation" (Kurztitel MIDEMAS) sind in Baden-Württemberg vor einigen Jahren in mehreren Einrichtungen der stationären Altenhilfe u. a. Umbaumaßnahmen im Bestand vorgenommen worden, um für die demenzkranken Heimbewohner angemessene Raum- und Milieustrukturen gestalten zu können.
Bei den Autoren handelt es sich um Architekten, die als Mitarbeiter von Demenz Support Stuttgart tätig sind.
Inhalt
Die Publikation ist in sechs Kapitel untergliedert.
Nach einer kurzen Einleitung (Kapitel 1) werden in Kapitel 2 (Bauliche Anforderungen, Seite 8 - 13) Auswahlkriterien, Raumangebot und Milieugestaltung beschrieben. Wichtig für eine Demenzraumstruktur sind für die Autoren die Gruppengröße (12- 15 Plätze), die räumliche Abgrenzung von den anderen Wohnbereichen, die Überschaubarkeit und Orientierungsmöglichkeit, großzügige Bewegungsflächen, ein vollständiges Raumangebot und ein direkter Zugang zu einem Freibereich. Das Raumangebot sollte u. a. ausreichende Gemeinschaftsflächen, eine Wohnküche als soziales Zentrum und einen zentral gelegenen Personalstützpunkt enthalten. Bezüglich der Milieugestaltung sind die Akustik, die Lichtgestaltung und auch die Farbgebung von Bedeutung. Darüber hinaus ist die Sicherheit u. a. in Gestalt der Kaschierung der Ausgänge (versteckte Türen u. a.) von Bedeutung.
Kapitel 3 (Einführung milieutherapeutisch orientierter Demenzwohngruppen - ein Modellprojekt, Seite 14 - 16) enthält einige kurze Ausführungen über die Ziele und Schwerpunkte des MIDEMAS-Projektes.
In Kapitel 4 (Das Gradmann Haus als bauliche Referenzeinrichtung, Seite 17 - 24) wird u. a. mittels Grundriss und zahlreichen Fotos das Gradmann Haus dargestellt. Es handelt sich hierbei um eine stationäre Pflegeeinrichtung in Stuttgart mit 24 Plätzen speziell für Demenzkranke im mittelschweren und schweren Stadium der Erkrankung.
Kapitel 5 (Die Umbaubeispiele, Seite 25 - 75) enthält die Darstellung von fünf Umbaumaßnahmen in Pflegeheimen im Rahmen des MIDEMAS-Projektes.
Zu Beginn wird das bauliche Potential für die Einrichtung einer Demenzwohngruppe u. a. anhand von Grundrissen und Fotos erläutert. Hierauf folgend werden die einzelnen Umbaumaßnahmen (u. a. räumliche Abgrenzung einer Wohngruppe, Vergrößerung des Aufenthaltsbereiches, Umgestaltung des Außenbereiches, Kaschierung der Ein- und Ausgänge, Anbau eines Wintergartens. Umgestaltung einer Dachfläche zu einem Demenzgarten, nachträglicher Anbau eines Balkons) beschrieben und mittels Fotos (Vorher - Nachher) dargestellt. Des Weiteren werden die einzelnen baulichen Umbaumaßnahmen und deren Kosten (12.900 - 31.600 Euro pro Platz) angeführt. Zum Schluss wird eine Einschätzung hinsichtlich der Auswirkungen der baulichen Veränderungen auf das Verhalten und die Raumnutzung der demenzkranken Bewohner gegeben.
In folgenden Einrichtungen wurden Umbaumaßnahmen durchgeführt:
- Lothar-Christmann-Haus in Stuttgart
- Wichernhaus in Mannheim
- Haus Morgenstern in Stuttgart
- Ida-Scipio-Heim in Mannheim
- Johanniterstift in Plochingen
Kapitel 6 (Ergebnisse und Erfahrungen, Seite 76 - 77) fasst die wesentlichen Ergebnisse des Projektes zusammen. Eine entscheidende Nutzungserfahrung ist der Umstand, dass im Demenzwohnbereich weiter abgelegene gemeinschaftliche Räumlichkeiten wie ein zweites Wohn- oder ein Esszimmer von Bewohnern nicht frequentiert werden, wenn nicht die Präsenz von Bezugspersonen (Pflegende, Betreuende) gegeben ist. Es entstehen hierdurch so genannte "tote Flächen" ohne Funktionalität.
Diskussion
Zu der vorliegenden Publikation kann kritisch ausgeführt werden, dass einerseits der Bezugsrahmen und andererseits eine Projektvorgabe nicht nachvollziehbar sind. Das Gradmann Haus in Stuttgart als Bezugsrahmen für die Projekteinrichtungen auszuwählen, ist willkürlich und fachlich nicht belegbar, denn diese Einrichtung weist einige strukturelle Unzulänglichkeiten auf: zu lange Wege für die Pflegenden, zu kleine Wohngruppen bezüglich der Platzzahl, eine zu geringe Platzzahl der Einrichtung aus betriebs- und personalwirtschaftlicher Sicht und das Fehlen eines Versorgungsbereiches für Bewohner im Stadium der ständigen Bettlägerigkeit. Auch wird die Projektvorgabe, dass eine Demenzwohngruppe nur über 12 - 15 Plätze verfügen sollte, nicht einsichtig vermittelt. Für diese Vorgabe werden keinerlei Untersuchungen oder einschlägige Erfahrungen angeführt.
Fazit
Sieht man von eher nachrangigen Schwächen einmal ab, so kann konstatiert werden, dass hier eine fundierte und komplexe Untersuchung über Aspekte des räumlichen und sozialen Demenzmilieus vorliegt. Den Autoren ist es gelungen, durch gezielte Umbaumaßnahmen gravierende Verbesserungen in der Lebenswelt und damit zugleich der Lebensqualität demenzkranker Bewohner herbeizuführen. Die Milieusensibilität und die Milieuabhängigkeit im Sinne einer eingeschränkten Umweltkompetenz sind Tatbestände der Demenz, auf diese Gegebenheiten angemessen durch Veränderungen der Raumstruktur eingehen zu können, konnte in diesem Projekt überzeugend nachgewiesen werden.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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