Dorothea Hilliger: Theaterpädagogische Inszenierung
Rezensiert von Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel, 26.09.2006

Dorothea Hilliger: Theaterpädagogische Inszenierung. Beispiele - Reflexionen - Analysen. Schibri-Verlag (Uckerland) 2006. 234 Seiten. ISBN 978-3-937895-24-6. 15,00 EUR.
Im Zentrum: die praktische Arbeit an der theatralen Gestaltung
Hilliger konzentriert ihre Darstellung auf die praktische Arbeit an der theatralen Gestaltung einer Inszenierung; die intellektuell-reflektierende Arbeit (Konzept, Stückwahl, Themenwahl …) wird zwar immer wieder genannt und markiert, aber nicht ausgeführt.
Das Buch beginnt mit einer methodischen Einführung anhand von 34 alphabetisch zusammengestellten Handlungsbegriffen (von Amateur bis Ziel). Ungewöhnliche, auf den Körperausdruck konzentrierte Zugänge werden schon im 1. Kapitel „Annäherung an eine Arbeitsform“ gewählt. Das setzt sich fort mit „Kostüme als Erarbeitungs- und Gestaltungselement“ (2), „Die Entwicklung theatraler Figuren als Zentrum theaterpädagogischer Projekte“ (3), „Funktionen des Requisits“ (4), „Raumerfahrung und Gestaltung von Bühnenräumen“ (5). Dann erst folgt „Textarbeit“ (6); im 7. Kapitel gibt es „Ergänzungen zum „Handwerk“ des Theaterlehrers“.
Der Theaterlehrer als Adressat
Dieser Theaterlehrer (TL) ist der eigentliche Adressat des Buches. Was an wichtigen, kenntnisreichen „Reflexionen“ und „Analysen“ auftaucht, wendet sich an den erwachsenen Leser, den Theaterpädagogen oder Theaterlehrer.
Damit ist zugleich eine berufspolitische Akzentuierung vollzogen; die Erfahrungen der Autorin wie ihre Ausführungen beziehen sich auf das Oberstufenfach Darstellendes Spiel, wobei sie durchaus mit Recht auf die Übertragbarkeit auf Amateurgruppen hinweist und vielfach auch von Amateuren spricht.
Es ist der Theaterlehrer, der „die Verantwortung übernimmt für das Vorankommen des Projektes, für den thematischen Rahmen und damit das Erfahrungsfeld, das sich den Jugendlichen öffnet, sowie für die sozialen Prozesse innerhalb der Gruppe“ (11). Dabei wird die Bezeichnung Theaterlehrer „hier gegenüber der Bezeichnung Spielleiter bevorzugt. Der Begriff „Theaterlehrer“ entspricht in höherem Maße der Komplexität der Aufgaben, die sich in der Vermittlung theaterpraktischer Grundlagen und innerhalb eines theaterpädagogischen Projektes stellen. „Spiel“ erscheint hier nur als ein Element unter anderen. In der Schule ergibt sich mit der Bezeichnung „Theaterlehrer“ zudem eine ausdrücklich gewünschte Parallelität zu den anderen künstlerischen Fächern“ (28). Als „Leser dieses Buches“ wird er (schon beim Lesen!) „immer als aktiv Gehender, Wahrnehmender, Suchender und Experimentierender gedacht“, der „vor dem inneren Auge Alternativen, Fortführungen und Modifikationen“ sieht, „die sich auf eine eigene Gruppe und eine eigenes Projekt beziehen“ (12). Respektiert wird also die Freiheit des Lesers, gesucht wird der mündige Leser – ein hoher Anspruch, dem das Buch vollauf Genüge tut. Damit ist zugleich eine Maxime exemplifiziert, die für die Theaterarbeit insgesamt gelten sollte: „Der Dialog zwischen Theaterlehrer und Gruppe, der die Impulse für den theaterpädagogischen Prozess liefert, soll auch im Umgang mit dem Buch zum tragenden Element werden: Ziel ist ein lebendiger Austausch zwischen Erfahrungen und Reflexionen“ (13).
Der Freiheit des Lesers entspricht also die Freiheit des Spielers in der theatralen Gestaltung. „Theaterpädagogische Inszenierung ist darauf angewiesen aufzunehmen, was aus der Gruppe kommt, von dort aus weiterzugehen, zu strukturieren, auszudeuten, zuzuspitzen“ (42). Zwar ist das Ziel klar („die Aufführung vor einem Publikum“,10) [1], das ist jedoch nur eine formal-abstrakte Bestimmung. Was aber wann wie in welcher Form wo aufgeführt wird, ist „notwendigerweise offen“ (10) und stellt sich erst in der praktischen Arbeit heraus. Aber nicht nur „Ergebnisoffenheit“ (11), auch der Weg zum Ergebnis, wie klar auch immer methodisch-didaktisch strukturiert, ist offen; „Umwege“ und Sackgassen sind „Teil des kreativen Weges“ (10). Weil „Beteiligung … zu einem weiteren zentralen Stichwort“ (12) wird, kann es nämlich „einen allgemein gültigen Weg … nicht geben“ (12), „stellt sich erst im Gehen heraus … welche Erfahrungen, Verwandlungen und Entwicklungsmöglichkeiten die Strecke birgt“ (11).
Überdies „muss jeder Theaterlehrer in der jeweiligen Gruppe seinen eigenen Arbeits- und Anleitungsstil finden“ (15), wird er im Buch immer wieder auf die Notwendigkeit von Modifikationen hingewiesen (z.B. 15), gibt es vielfache Hinweise auf Variationen und haben fast alle Handlungsvorschläge improvisatorischen Charakter. In immer wieder anderen, reizvollen Improvisationen können also die SpielerInnen ihre Ideen frei und eigenverantwortlich entwickeln; die von Hilliger vorgeschlagenen Probeneinheiten sind bei sicherer methodisch-didaktischer Führung auf Offenheit angelegt - ein gelungener Balanceakt zwischen Freiheit und Regel (“Trotz dieser Hinweise bleiben viele Leerstellen, bei deren Ausfüllung die Kreativität der Gruppe gefragt ist“, so etwa auf S. 39). Und noch ganz am Ende des Buches gibt es den Ratschlag: „Auch nach getroffenen Entscheidungen … prozesshaft denken und offen bleiben für neue, bessere Lösungen …“ (220).
Ehe ich weitere Besonderheiten von Hilligers Ansatz herausarbeite (Gestaltung, Konvention, Einzelkünste) und die Funktion des Theaterlehrers problematisiere, zeichne ich zunächst Aufbau und Inhalt des Buches nach.
Vorbemerkungen: Handlungsbegriffe
Es beginnt in den „Vorbemerkungen“ mit 34 vorgeschalteten, knapp charakterisierten Handlungsbegriffen (S. 17 bis 30) – eigentlich ein Glossar. Sie sind insofern kennzeichnend, als sie schon voraus weisen auf die tätige, handelnde, gestaltende Dimension der Inszenierungsarbeit. Auffällig der Begriff Immobilität (= Standbild, Freeze); sie wird in allen Improvisationen vielfach genutzt und immer wieder zur Klärung der Gestaltung eingesetzt.
Improvisation, ein Kernelement für Hilliger, wird ausführlich charakterisiert; Lebendigkeit in der Aufführung ist das Ziel; deshalb lehnt die Autorin auch den Souffleur in ihrer Arbeit „strikt ab, weil schon die Erwartung einer Einhilfe von außen das lebendige Zusammenspiel behindern muss“ (20).
Ungewöhnlich und bemerkenswert der Begriff Inselprinzip – „Szenen, die besonders gründlich, am besten unter Einbezug der ganzen Gruppe, erarbeitet wurden“, brauchbar unter anderem als Gedächtnisstütze. Deutlich wird hier die langjährige didaktische Erfahrung der Autorin, die Verfahren entwickelt hat, die in den lang dauernden Arbeitsprozessen von Schulgruppen hilfreich sind. Die Beschreibung des Inselprinzips ist in ihrer Kürze nicht ganz klar, enthält auch einen defekten Satz (S. 20 unten: „So geschaffene Inseln ermöglichen es der ganzen Gruppe, bei einer Wiederaufnehme (sic!) zu helfen“).
1 Annäherung an eine Arbeitsform
Das 1. Kapitel „Annäherung an eine Arbeitsform“ nutzt zur Demonstration von Gestaltungsansätzen eine Szene aus Aristophanes „Die Vögel„; gewählt werden vier unterschiedliche, körperbetonte, nicht unbedingt übliche Schwerpunkte (Stimme/Text, Figurengestaltung, chorisches Gestalten, Raum), erläutert wird dabei insbesondere das Verfahren der Fokussierung, der Konzentration auf einen spezifischen Aspekt: „Wird der Fokus auf einen Gestaltungsbereich gelegt, gestalten sich die anderen Bereiche zumindest im Ansatz mit„; das liegt, erläutert Hilliger, „auch daran, dass überhaupt bewusst gestaltet wird“ (41). -
Dann folgt unter der Überschrift Theaterpädagogische Inszenierung – Was meint das eigentlich?eine Reflexion auf das eigene Verfahren, auf die methodisch-didaktischen Grundlagen (49 ff). Es geht Hilliger darum, „den Weg zu einem (Selbst-) Ausdruck zu öffnen, der insofern künstlerische Qualität besitzt, als er neue Blickrichtungen auf die eigene Person, das Verhältnis zu anderen Menschen, vielleicht sogar zu Geschichte und Gesellschaft ermöglicht. Im besten Fall … mit einer Gruppe deren eigene Visionen zu entwickeln und mit den Mitteln der Theaterpädagogik künstlerisch umzusetzen“ (49). Dabei will die Autorin „die Amateure, mit denen wir in unserer Arbeit zu tun haben, konsequent, wenn auch behutsam von der Vorstellung eines naturalistischen Theaterspiels wegführen, das von einer fernsehmedialen, nicht theatralen Wirklichkeit geprägt ist“ (49 f). Die Überlegungen kristallisieren sich zu einer ersten Definition: „Theaterpädagogische Inszenierung meint also zunächst einmal ein methodisch klares Heranführen einer Gruppe an theatrale Ausdrucksformen mit dem Ziel einer abschließenden Präsentation“ (50).
2 Kostüme als Erarbeitungs- und Gestaltungselement
Das zweite Kapitel Kostüme als „Erarbeitungs- und Gestaltungselement“ führt den Weg der spezifischen Schwerpunktsetzung fort. Gearbeitet wird mit Kostümen, genauer Kostümteilen (z.B. Schuhen); Hilliger nimmt überraschende, komplizierte Arbeitsweisen von Lecoq auf („für Anfänger nicht geeignet“, 69, „ein wesentlicher Teil des Grundlagentrainings für Fortgeschrittene“, 70), beschreibt dann eine zweite schön spielerische, für Anfänger geeignete „Probeneinheit: Kostüme als Einstieg in die Theaterarbeit“ mit “ausprobieren, experimentieren“ (75 f). Das Kapitel wird abgesichert durch theoretische Reflexionen; Kostüme werden gerechtfertigt „als integrativer Bestandteil einer theaterpädagogischen Inszenierung“ und als Erarbeitungs- wie als Gestaltungselemente charakterisiert.
3 Die Entwicklung theatraler Figuren als ein Zentrum theaterpädagogischer Projekte
Auch im 3. Kapitel wird Lecoq wieder aufgegriffen, wenn die Autorin „Die Entwicklung theatraler Figuren als ein Zentrum theaterpädagogischer Projekte„ (89 ff) in Probeneinheiten und Reflexionen vorstellt.
Freilich: So richtig es ist, dass Lecoq den Schauspieler sieht „als acteur-auteur, als Schauspieler, der auch der Autor seines eigenen Materials ist“ (114), so wichtig die Vermittlung ebendieser Fähigkeiten an Schüler und Amateure ist, so wenig verstehe ich, dass in einem deutschen Text (nicht nur bei Hilliger!) immer wieder von Personnage die Rede ist, wenn es um Lecoq geht. Das französische Wort personnage heißt schlichtweg Person, Persönlichkeit, Figur, Rolle; es wäre also gut und richtig, weiterhin von „Figur“ zu schreiben (zumal die etymologische Herkunft des Substantivs Figur von lat. fingo: bilden, formen, erdichten, ersinnen den gemeinten Inhalt ausgesprochen gut transportiert). (Ähnliche Heiligenscheinerei übrigens bei Strasberg: method ist schlichtweg „Methode“).
Hilliger nutzt den Rekurs auf Lecoq überdies zur Begründung ihrer Arbeitsweise, bei der „der Weg zur Figur ganz eindeutig über ihre formale Gestaltung geht“ mit einer „Betonung auf der körperlichen Gestaltung“ (115). Theatergeschichtlich problematisiert und unterlegt werden diese praktisch-methodischen Überlegungen durch den historischer Abriss „Erarbeitungsweisen auf dem Theater„ (116 ff: von Diderot über Stanislawski, Strasberg, Meyerhold bis zu Brecht, Grotowski, Barba).
„Aus theaterpädagogischer Sicht muss die Überlegung angeschlossen werden, welcher Weg zur Figur Amateuren nicht nur am ehesten ästhetische Erfahrungsräume erschließt, sondern auch eine möglichst souveräne Verfügung über ihr eigenes theatral-künstlerisches Spiel. Damit ist die Frage nach Schutzmechanismen berührt, die dazu angetan sind, den Spieler immer zwischen sich und seiner Figur unterscheiden zu lassen und die es dennoch erlauben, dass er sich auf eine imaginäre, ihm fremde Existenz persönlich einlassen kann“ (120). Konsequent werden im Folgenden „Erarbeitungsweisen im Amateurtheater“ diskutiert, dabei auch Ergänzungen zur „formalen Gestaltung“ (123) genannt: „Ohne Wahrnehmungstraining, Phantasiereisen, innere Motivierung von Handlungen und ähnliches mehr gerät Figurenarbeit in Gefahr, mechanisch, rein formal und äußerlich zu bleiben“ (122). Besonders nützlich und überzeugend finde ich den Hinweis, „den künstlerischen Ausdruck der Amateure möglichst breit mit Material zu unterfüttern, das im Training, also in der theaterpädagogischen Arbeit selbst gewonnen wird und das in Spiel- und Aufführungssituationen aktualisiert werden kann“ (122). Die Spieler sollten also „immer Zugriff auf möglichst breit und vielfältig angelegtes Gestaltungsmaterial haben„(123), das auf Grund einer intensiven Improvisationserfahrung in weiteren Proben, vor allem aber im Moment der Aufführung reaktivierbar ist. Dazu aber, so Hilliger, ist eine Struktur nötig, „die zugleich flexibel und deutlich formgebend ist. … Ein so angelegter Vorgang der Figurenfindung setzt eindeutig an der formalen Gestaltung an. Er dient dem Schutz der Spieler wie auch der Vermittlung an den Zuschauer … “ (123).
Der Passus „Entwicklung einer theatralen Figur als Kernstück der Theaterpädagogik“ (124 f) unterstreicht noch einmal: „Die Annäherung an eine dramatische Figur geschieht im Bereich des Theaters über die Entdeckung und gestaltende Inbesitznahme ihrer körperlichen Existenz“ (124) [2] und formuliert (im Sinne von Schechners Nicht-Ich und Nicht-Nicht-Ich): „Die eigene Person und die eigene Geschichte bilden den in die Gestaltung einfließenden Ausgangspunkt und den Hintergrund für die mit theatralen Mitteln lebendig gewordene Figur“ (124).
4 Funktionen des Requisits
Das 4. Kapitel„Funktionen des Requisits“ (127 ff) bringt wiederum gut aufgebaute, ungewöhnliche Probeneinheiten und pfiffige Überlegungen; gearbeitet wird vor allem mit Gegenständen (Objekten), nicht mit Spielmaterial (etwa Tücher, Stöcke, Sand, Wasser …; Sägemehl freilich verwendet Hilliger selbst in einer Inszenierung von Ionescos „Der König stirbt“, vergl. S. 178 )
5 Raumerfahrungen und Gestaltung von Bühnenräumen
Auch das 5. Kapitel„Raumerfahrungen und Gestaltung von Bühnenräumen“ (151 ff) gibt ungewöhnliche, attraktive Anregungen. „Die traditionelle Guckkastenbühne ist schon lange nur noch eine Möglichkeit neben vielen anderen. Das Verhältnis von Zuschauern und Spielern kann immer wieder neu definiert werden. … diese Entwicklungen stellen für die Theaterpädagogik eine enorme Chance dar, da hier die Bedingungen in vielerlei Hinsicht dazu zwingen, für jede Aufführung eine neue projektadäquate Lösung zu finden“ (152).
6 Textarbeit
Im 6. Kapitel dann dieTextarbeit (181 ff). Auch hier geht es um die Vermeidung „konventioneller Darstellungsformen“ (182); erläutert werden im Unterschied zu den anderen Kapiteln zunächst KEINE Probensequenzen, sondern „Möglichkeiten“ mit verschiedenen einführenden Übungen und Etüden, wobei wiederum auf die Arbeit
mit chorischen Elementen hingewiesen wird (189). Erst dann folgt eine Probeneinheit („Freies Experimentieren mit Textmaterial“). „Auch in der Arbeit mit Text ist es ein zentrales Ziel, Amateure an möglichst breit gestreute Ausdrucksmöglichkeiten heranzuführen und sie über den Weg der Gestaltung mit neuen und überraschenden Bedeutungsebenen – hier eines Textes - zu konfrontieren.“ Deshalb geht es zunächst um die Befreiung „von konventionellen Betonungen und Zäsuren“, um Auflösung der „Gewohnheitsmuster“ (192). „Text wird nicht über die Bedeutung gelernt“, sondern „wie eine mathematische Zahlenkonstruktion. Das heißt, ihr behandelt den Text wie „Wortmaterial“. … ohne Punkt und Komma und ohne Absätze“ (193); dann folgen Kombinationen mit „unterlegter Emotion, Lautstärke und Sprechtempo„; Sinn(zer)störung also, „so dass mutige und unkonventionelle Lösungen möglich werden“ (197). Auch hier also die „Montagetechnik als ein zentrales, immer wiederkehrendes Element in den in diesem Buch vorgestellten theaterpädagogischen Erarbeitungsprozessen“ (209). Konsequent wird dem „Sinn von Montageverfahren in theaterpädagogischen Erarbeitungsprozessen“ eine eigene „Reflexion“ gewidmet (209 ff): Die Montage „gilt in der klassischen Moderne gemeinhin als künstlerische Antwort auf die Erfahrung, dass Umwelt und Gesellschaft nicht mehr als Totalität begriffen werden können„; sie scheint demnach geeignet, „Jugendliche an die komplexen Möglichkeiten künstlerischen Gestaltens heranzuführen und verschiedene Schichten von Texten oder Figuren aufzuspüren“.
Es geht also um die Montage von Ausdrucksmitteln, von Gestalten, von Textmaterial und NICHT um die Montage von Texten und Bedeutungen; diese ergeben sich erst durch das und nach dem Montieren. So soll sich in einer „Bewegungssequenz“ (204 f) die „Reihenfolge … eher durch den Bewegungsfluss als durch eine irgendwie unterlegte Bedeutung ergeben“ (205). Erst „die künstlerische Umsetzung offenbart, was der Text für eine Gruppe oder einen einzelnen Spieler be-deutet“ (212). Dabei wird auch hier, zumindest theoretisch, festgestellt: „Die Be-Deutungsfindung wie auch ihre Vermittlung an ein Publikum vollzieht sich auf Seiten des Spielers wiederum auf zwei Ebenen, der körperlichen und der intellektuellen“ (214).
7 Ergänzungen zum „Handwerk“ des Theaterlehrers
Das 7. Kapitelenthält unter dem Titel„Ergänzungen zum „Handwerk“ des Theaterlehrers„ (215 ff) Tabellen und Stichworte; es mahnt noch einmal: „Auch nach getroffenen Entscheidungen … prozesshaft denken und offen bleiben für neue, bessere Lösungen, für radikale Stückkürzungen etc.“ (220) und nennt überdies eine Fülle von intellektuellen Aufgaben, etwa „diskutieren, besprechen, theatergeschichtliche Bezüge herstellen, Gestaltungsideen einordnen und weiterdenken“ (217), „Richtung der Textbearbeitung diskutieren“ (218). Die
7. und letzte Phase der Projektplanung schließlich heißt „Reflexion“ und weist unter anderem hin auf „Reflexion der Aufführungserfahrung und des Erarbeitungsprozesses, künstlerischer Entscheidungen usw. sowie der Gruppensituation. Bedeutung der Publikumsreaktionen einschätzen lernen. Überlegungen zur Weiterarbeit …“ (223).
Diskussion
Im Folgenden möchte ich explizit machen und problematisieren, was von Hilliger zwar immer mitgedacht und benannt, aber nicht ausgeführt und begründet wird. Dabei möchte ich eingehen auf
- die Intellektualität beim Theatermachen,
- die Funktion des Theaterlehrers,
- das Verhältnis zwischen Kunstbezug und Alltag bzw. Kunst und Realität (man könnte auch sagen: Form und Inhalt).
Ich beginne mit einer möglichst kurzen Zusammenfassung von Hilligers Ansatz: Hilligers Kunst des theaterpädagogischen Inszenierens setzt an am je eigenen körperlichen Ausdruck unter sorgfältiger Vermeidung von Klischees und vorhandenen Ausdrucksschablonen. Durch ungewöhnliche Gestaltungsaufgaben werden unübliche Ausdrucksformen provoziert. Ihre Ausdruckskraft und (mögliche) Bedeutung wird erst im Nachhinein oder in actu erfahren, jedenfalls nicht vorab konzipiert. Dabei ergeben sich für den Spieler Ausdrucksverstärkung und geschärftes Ausdrucksbewusstsein und für die Gruppe insgesamt szenisches Material. Dieses Material wird mit weiteren Gestaltungen kombiniert, wird verändert und weiter entwickelt, wird schließlich (zu einer sinnvollen, bedeutungsvollen Einheit zusammengefügt) einem Publikum präsentiert. Ziel ist die (Qualität der) Inszenierung – nicht die Entwicklung des Spielers.
Mit anderen Worten: Ausgangspunkt der Gestaltung ist nicht die Realität von Interaktionen, nicht das Interesse an Inhalten, Problemen, einem Thema, nicht die Auseinandersetzung mit vorhandenen Realitätserfahrungen oder durch Beobachtung gewonnenen Realitätserscheinungen [3].
Dabei führt die experimentelle Lösung ungewöhnlicher Aufgaben mit dem eigenen Körperausdruck unter Suspension von „Sinn“, „Bedeutung“ zweifellos zu (bewussten) unüblichen, reizvollen körperlichen Gestaltungen – zu überraschenden, ansehnlichen (unterhaltsamen, nachdenklich machenden) Inszenierungen und einem entwickelten Kunstverständnis der SpielerInnen.
Hilliger konzentriert ihre Ausführungen auf die Gestaltungsprozesse, die sie mit vielen Beispielen kompetent und ausführlich darstellt und durch Reflexionen, Analysen, Erläuterungen und Exkurse flankiert. Dass die Arbeit an der Inszenierung überdies eine intellektuelle Aufgabe, eine geistige Herausforderung ist, wird durchaus mitgedacht und als gleichwertig anerkannt („So entscheidend spontanes körperliches Agieren in einer Improvisationssituation ist, so wenig lässt sich ohne einen intensiven sprachlichen Dialog eine komplexe Aufführung mit einer Gruppe realisieren“, 212), wird aber nicht methodisch aufbereitet oder expliziert, obwohl „Besprechung“ bereits als einer der Handlungsbegriffe (17) aufgeführt wird. Ähnlich heißt es schon auf S. 11: Die jugendlichen Amateure „nehmen Stellung zu theatralen Gestaltungsmöglichkeiten, zu Themen, Figuren, Bezügen und Beziehungen sowie zum sozialen und gesellschaftlichen Umfeld, das sie umgibt. Diese Positionierung wird auf der Basis einer künstlerischen Formfindung veröffentlicht und kommunizierbar gemacht“. Im Folgenden erfahren wir viel über Gestaltungs-Vertiefung, Präsentationstraining …, nichts über eine thematische, personale Vertiefung. „Körpererfahrung … gibt den Spielern Ideen, die intellektuell weiterentwickelt werden können“ (49). Wie das bei Hilliger geschieht, hätte ich gern gewusst. – Auch Transfermöglichkeiten bezieht sie in ihre Überlegungen ein („Unter der Voraussetzung, dass nicht nur gestaltet, sondern auch reflektiert wird, kann also auch ein übertragbarer Gewinn aus dieser Arbeit gezogen werden“. Hervorhebung durch die Autorin, 121), führt sie aber nicht aus, sondern bleibt klar und entschieden bei dem Weg zur Theaterkunst. Das gilt schon für das Training: „In und mit dieser Komplexität zielt das Training auf die theatrale Gestaltung …“ (28). Ähnlich: „Eindimensionalitäten möglichst von Anfang an vermeiden!“ (47); ein eigener Passus trägt die Überschrift „Körperlichkeit und Komplexität als Ziel der Darstellung“ (73 ff); es geht um Bilder und Geschichten, „die nicht auf der Ebene der reinen Wiedergabe von Alltagsrealität verbleiben, sondern Akzentsetzungen, Verdichtungen, Vergrößerungen, Banalisierungen oder Überhöhungen enthalten und die dazu angetan sind, die Spieler selbst zu überraschen und von ihrer eigenen Ausdrucksfähigkeit zu überzeugen“ (109). Was mir hier als Gefahr aufscheint: dass das Bemühen um „Ausdrucksform“ (50), um „formale Gestaltung“ (115, 123), dass die Abkehr von der „reinen Wiedergabe von Alltagsrealität“ und die Hinwendung zur „eigenen Ausdrucksfähigkeit“, sagen wir es grob verkürzt, zwar vom Alltag zum Ausdruck führt, über dem Ausdruck aber den Alltag vergisst. [4]
Positiv gewendet aber führt diese Abkehr zu einer Lust am Ungewöhnlichen, am Absurden. „Gängige Annahmen über das Verhalten theatraler Figuren erfahren so automatisch eine gewisse Irritation, was als eine Grundvoraussetzung für künstlerisches Gestalten angesehen wird“ (42). Gesteuert wird der Zu-Fall über die Arbeit an „Randphänomenen“, den Einstieg über “Einzelkünste“. Zwar ist zentral für Hilliger das Erfinden und Gestalten von Figuren; Ansatzpunkt der Arbeit aber sind „Details“, um „freie Erfindung“ zu ermöglichen, sich von Mustern zu lösen.
Freilich: „Wenn in diesem Buch auf den möglichen theaterpädagogischen Umgang mit den Einzelkünsten des Theaters getrennt eingegangen wird, so ist das insofern nur eine analytische Trennung, als eine Inszenierung selbstverständlich immer im Zusammenwirken der Einzelkünste entsteht. Aber die Trennung ist insofern nicht willkürlich, als sie Teil der schrittweisen Vermittlung der Theaterkunst an Amateure ist. …ein methodisch-didaktisches Element …“ (54)
Außerdem sieht Hilliger mit Recht einen weiteren Vorteil dieses Weges: „Wird die Erarbeitung auf Teilbereiche bzw. Einzelkünste des Theaters konzentriert, präzisiert dies den Erarbeitungsweg und die Gestaltung. Damit wird die Wiederholbarkeit erleichtert“ (224). Das ist auch pragmatisch gedacht: ein lang hingezogener Probenprozess ist charakteristisch für DS in der Schule (vergl. das Stichwort „Inselprinzip“ bei den Handlungsbegriffen, s.o.). Und überdies: „Wird der Fokus auf einen Gestaltungsbereich gelegt, gestalten sich die anderen Bereiche zumindest im Ansatz mit“ (41). Im übertragenen Sinne heißt das auch: Wird ein Detail durch ungewöhnliche Akzentuierung irritiert, verbreitet sich die Irritation auf die Gestalt insgesamt. D. h. „Reibungsprozesse in der Verwandlung liefern nicht nur Gestaltungsmaterial, sondern auch Denk- und Gesprächsanlässe“ (213). In diesem Zusammenhang zitiert Hilliger zustimmend G. Naumann: „Erst durch das Aushalten von Ambivalenz, Differenz und Fremdheit wird Erfahrungs- und Denkfähigkeit hergestellt“ (214).
Damit sind wir wiederum bei der Frage, wie die Denkfähigkeit der SpielerInnen bei der Theaterarbeit „hergestellt“ werden kann – oder wie weit das Voraus- und Nach-Denken vom Theaterlehrer übernommen wird. Einerseits gibt es Sätze, die so klingen, als nehme der TL entscheidende Interpretationen vorweg, die er dann „direkt ins Spiel bringt“, also nur „auf der Handlungsebene thematisiert„: „Das in der karikaturhaft gezeichneten Szene liegende kritische Potential findet seine Entsprechung in einem Erarbeitungsweg, der den Widerspruch zwischen Individualität und der Unterordnung unter hierarchische Strukturen aufnimmt, direkt ins Spiel bringt und auf der Handlungsebene thematisiert“ (63 f). Ähnlich wird als „Voraussetzung“ formuliert, „dass der Gruppe schon relativ früh eine vom TL erarbeitete Szeneneinteilung für das ganze Stück vorliegt“ (67). Die Raumgestaltung „ist von so grundlegender Bedeutung für eine Aufführung, dass sich die intensive Beschäftigung mit der Geschichte der Bühnenformen und aktuellen theatralen Raumgestaltungen für den Theaterlehrer immer lohnt“ (176). Auch dieser Satz klingt so, als sei die Gruppe von der Beschäftigung mit aktuellen theatralen Raumgestaltungen dispensiert. Geradezu ausschließend heißt es dann: „Das komplexe Textgefüge und seine Durchdringung stellen aber tatsächlich nur einen Ausgangspunkt für den Theaterpädagogen, nicht für die Spieler dar“ (113). Auch wenn Emotionen bei einer Probe schon auf den Text bezogen werden (vergl. S. 204), stammt die Interpretation durch die Emotionen vom Lehrer!
Manchmal bleibt offen, WER die Interpretation vornimmt: „Aus der Textvorlage zu einer Szenen (sic!) werden die zentralen Äußerungen der Figuren herauskristallisiert“ (109). In anderen Sätzen wird die Beteiligung der Schülerinnen gefordert, wird plädiert für eine „klare Lesartentwicklung mit der Gruppe“, wird „in die Auswertung einer Improvisation die ganze Gruppe einbezogen “ (225). Ähnlich heißt es in einem Passus zur „Einbindung der Gesamtgruppe: Zentral wichtig ist es, eine „Kultur der Beschreibung“ zu entwickeln und zu pflegen. Die Gruppe muss lernen zu beschreiben, was sie gesehen hat und wie das Gespielte auf sie gewirkt hat“ (226). In solchen Zusammenhängen wird auch immer wieder die mit Theater verbundene kognitiv-intellektuelle Auseinandersetzung als positives Desiderat genannt: „Reibungsprozesse in der Verwandlung liefern nicht nur Gestaltungsmaterial, sondern auch Denk- und Gesprächsanlässe. Fremdheit kann so sichtbar und reflektierbar gemacht werden. Dieser Vorgang lässt sich unter den Begriff der Differenzerfahrung fassen“ (213). Im Zusammenhang mit den „drei zu erschließenden Bedeutungsebenen eines Textes, die historische, die persönliche und die gesellschaftliche, gilt“, dass „in diesen Prozess Körper und Intellekt des Spielenden gleichermaßen involviert“ sind (214). Und schließlich fließen „die gewonnenen Bedeutungen, Deutungen und Erfahrungen … im Rahmen einer Aufführung in einen vielschichtigen kommunikativen Prozess mit dem Publikum ein, der wiederum der sprachlichen Kommunikation und damit der reflexiven Verarbeitung zugänglich gemacht wird“ (214).
Ein dringender Wunsch also an die Autorin: der Methodik des „Besprechens“ und der Verschränkung von „besprechen“ und „gestalten“ mehr Raum zu geben - oder, besser noch, diesen Zusammenhang, das Voraus- und Nachdenken mit Theatergruppen, in einer weiteren Publikation aufzugreifen. Das darf zugleich als ein Kompliment für die „Theaterpädagogische Inszenierung“ von Dorothea Hilliger gelesen werden: ich möchte mehr von ihr lesen. Um zusammenzufassen: Es gibt in der Theaterpädagogik nur wenige Veröffentlichungen, die ein Verfahren, konzentriert auf die praktische Arbeit, ähnlich genau und reflektiert darstellen: auf umfänglicher Erfahrung beruhend, reich an Anregungen, präzise sowohl in der Beschreibung der praktischen Durchführung wie in ihrer reflektierenden Begründung – mit einer Fülle von vorzüglichen Spielvorschlägen mit ungewöhnliche Übungen und Einstiegen, die nicht einfach nebeneinander gestellt werden, sondern in einen konsistenten Zusammenhang eingeordnet sind: kein Lese- oder Nachschlage-, sondern ein Studierbuch in einem klaren, angenehm lesbaren Stil.
Fazit
Hilliger konzentriert ihre Darstellung auf die praktische Arbeit an der theatralen Gestaltung einer Inszenierung. Sie wählt aus ihrer reichen Erfahrung meist ungewöhnliche, auf den Körperausdruck konzentrierte Zugänge (etwa über Kostüme, Kostümteile, Gegenstände, den Raum, aber auch über den Text); Zentrum der Arbeit ist die Entwicklung theatraler Figuren; Ziel ist die Aufführung vor einem Publikum. „Theaterpädagogische Inszenierung meint also zunächst einmal ein methodisch klares Heranführen einer Gruppe an theatrale Ausdrucksformen mit dem Ziel einer abschließenden Präsentation“ (50).
Dabei sollen die SpielerInnen in ihren Gestaltungen möglichst frei sein, der Weg zur Aufführung wie das Ergebnis der Gestaltungen sind „notwendigerweise offen“ (10); es geht um Auflösung der „Gewohnheitsmuster“ (192), „so dass mutige und unkonventionelle Lösungen möglich werden“ (197). Die Erfahrungsfähigkeit der SpielerInnen wird über Ambivalenzen und Reibungsprozesse, über Differenz und Fremdheit entwickelt. „Körperlichkeit und Komplexität“ sind „Ziel der Darstellung“ (73 ff); es geht um Bilder und Geschichten, „die nicht auf der Ebene der reinen Wiedergabe von Alltagsrealität verbleiben“ (109); sie werden über Improvisationen erspielt und über Montagetechniken weiter angereichert, sodass sich eine Spielerin nicht nur „ästhetische Erfahrungsräume erschließt, sondern auch eine möglichst souveräne Verfügung über ihr eigenes theatral-künstlerisches Spiel“ (120).
Alle Gestaltungsprozesse werden mit vielen Beispielen kompetent und ausführlich darstellt und durch Reflexionen, Analysen, Erläuterungen und Exkurse flankiert. Die mit Theater verbundenen intellektuellen Aufgaben werden von der Autorin nur genannt, aber nicht weiter behandelt oder methodisch-didaktisch strukturiert.
[1] Man könnte an Jean Paul denken: Das Ziel muss man früher kennen als die Bahn.
[2] Wobei freilich, etwa in Anlehnung an Gadamer, mitgedacht werden müsste, dass jegliche Interpretation ein „Vorurteil“, d.h. ein vorgängiges Urteil voraussetzt. Diese in der Hermeneutik formulierte Erkenntnis wird inzwischen von der Psychologie durch den Nachweis von Wahrnehmungsschemata gestützt; ähnlich Popper (keine sinnvolle Beobachtung ohne vorlaufende Hypothese).
[3] Genau hier setzen andere theaterpädagogische Verfahren an; ein Konzeptvergleich könnte helfen, Unterschiede und Ähnlichkeiten, Vor- und Nachteile genauer zu erfassen.
[4] Mir kommt Brechts Bemerkung in den Sinn „zur größten aller Künste, der Lebenskunst“ oder Goethe (in A.G. v. Stroganoff, letzte Lebensjahre): „Ich achte das Leben höher als die Kunst, die es nur verschönert.“ Oder auch (Aus: Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt): „… denn beim Übergang von der Erfahrung zum Urteil, von der Erkenntnis zur Anwendung ist es, wo dem Menschen gleichsam wie an einem Passe alle seine inneren Feinde auflauern, Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefaßte Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag …“. Will sagen: Auch der Weg zu Urteil und Erkenntnis steckt voller Schwierigkeiten, braucht (Selbst-)Kontrolle und methodisch-didaktische Hilfen.
Rezension von
Prof. Dr. Hans Wolfgang Nickel
Institut für Spiel- und Theaterpädagogik der Universität der Künste Berlin
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