Birgit Bütow, Karl A. Chassé et al. (Hrsg.): Soziale Arbeit zwischen Aufbau und Abbau
Rezensiert von Prof. Dr. Titus Simon, 15.11.2006

Birgit Bütow, Karl A. Chassé, Susanne Maurer (Hrsg.): Soziale Arbeit zwischen Aufbau und Abbau. Transformationsprozesse im Osten Deutschlands und die Kinder- und Jugendhilfe. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2006. 248 Seiten. ISBN 978-3-531-14630-0. 29,90 EUR. CH: 52,20 sFr.
Thema
Macht es denn Sinn, immer wieder neu auf die besonderen Bedingungen einzugehen, unter denen sich die Soziale Arbeit in Ostdeutschland vollzieht? Zumal Transformations- und Implementierungsprozesse, Strukturprobleme und Praxis im Verlauf der letzten 16 Jahre in einer Vielzahl von publizierten und auch nicht publizierten Beiträgen bearbeitet wurden.Mit einem Plädoyer für ein Bewusstsein von den zwei Gesellschaftsgeschichten Ost- und Westdeutschlands werden mit diesem Band nochmals die Transformationsprozesse der Sozialpolitik und der Sozialen Arbeit in Ostdeutschland skizziert und am Beispiel der Jugendhilfe verdeutlicht. Dabei ist erst einmal unerheblich, ob es eher um die Schaffung oder aber den Erhalt dieses Bewusstseins geht.
Inhalt
Nach einer von Karin Böllert vorgenommenen einführenden Beschreibung der Transformationsprozesse in Sozialpolitik und Sozialadministration arbeitet Lothar Böhnisch die besondere Rolle heraus, die von der Sozialen Arbeit selbst, also ihren Verbänden, Vereinigungen, Praktikerinnen und Praktikern unter den Bedingungen eines "neuen Kapitalismus" eingenommen werden muss. Sein Angebot für weiter gehende Diskurse ist das Konstrukt der "intermediären Organisation des sozialen Sektors", die an der Schnittstelle zwischen Markt und Staat eine "Agency-Funktion" bekommen müssten.
Susanne Maurer verweist auf den von ihr bereits an anderer Stelle vertretenen analytischen Ansatz die "Gedächnis-Funktion" Sozialer Arbeit. In dem hier veröffentlichten Aufsatz fragt sie nach der besonderen Rolle DDR-oppositioneller Milieus und ihrem Verhältnis zu Sozialer Arbeit vor und nach der Wende. Dabei wird eine doppelte Funktion der in der DDR aufkommenden sozialen Bewegung sichtbar. Sie waren Akteure des Wandels und haben zum Teil gegenkulturelle Impulssetzungen in die heutige Praxis Sozialer Arbeit überführt. Der Prozess des Erinnerns wird mit einem schriftlichen Beitrag in Dialogform fortgeführt, der aus einem Gespräch von Birgit Bütow und Susanne Maurer mit Prof. Dr. habil Eberhard Mannschatz resultiert. Der mittlerweile emeritierte Hochschullehrer vertrat zwischen 1966 und 1991 das Lehr- und Forschungsgebiet Sozialpädagogik an der Berliner Humboldt-Universität.
In einem zweiten Schwerpunkt werden die Lebensverhältnisse von Kindern und Jugendlichen als besondere Herausforderungen einer ostdeutschen Kinder- und Jugendhilfe beschrieben. Karl August Chassé geht dabei auf der Basis statistischer Befunde den besonderen Armutsentwicklungen und -risiken nach. Basierend auf der Feststellung, dass es der Kindheits- und Jugendhilfeforschung bislang kaum gelungen ist, Ostdeutschland als einen eigenständigen Lebensort mit spezifischen Anforderungen und Problemen wertungsfrei wahrzunehmen, plädiert er vorrangig dafür, dass Jugendhilfe stärker als bislang zur Kinder- und Jugendpolitik für Ostdeutschland erweitert werden muss.
Auf der Basis von Interviews mit jungen Erwachsenen zeichnet Birgit Reißig Ausbildungs- und Erwerbsverläufe benachteiligter junger Erwachsener nach: Neben dem passgenauen Fördern und Vermitteln (wohin? - T.S.) sollten die in der Arbeit mit sozial benachteiligten jungen Erwachsenen tätigen Institutionen stärker als bislang individuelle Unterstützungen leisten, die jugendliche Existenzgründungen außerhalb der traditionellen Vermittlungspfade möglich werden lassen.
Die spezifischen Herausforderungen der Kinder- und Jugendhilfe werden nachfolgend - nun doch sehr eingegrenzt und nicht so aufbereitet, dass von exemplarischen Betrachtungen ausgegangen werden kann - an drei ausgesuchten Praxisfeldern verdeutlicht. Karsten Speck geht dabei auf den nunmehr oft bearbeiteten Paradigmenwechsel ein, der zu stärkerer Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe führt. Exemplarisch für das Land Thüringen untersucht Birgit Bütow die Rolle der Kinder- und Jugendschutzdienste im Spannungsverhältnis zwischen der gebotenen Lebensweltorientierung einerseits und den restriktiver werdenden sozialstaatlichen Rahmenbedingungen andererseits. Die Besonderheit der Etablierung von mittlerweile 12 Kinder- und Jugendschutzdiensten in diesem Bundesland liegt darin, dass hier kleine Träger eigenständige sozialraumorientierte Konzepte entwickelt und umgesetzt haben, ohne westdeutsche Vorbilder zu duplizieren. Vor dem Hintergrund einer voranschreitenden Ökonomisierung der Institutionen und den damit verbundenen Freisetzungen aus Arbeits- und Lebenszusammenhängen erstarken in Ostdeutschland patriarchale Handlungsmuster und daraus resultierende Gewaltverhältnisse. Heike Funk und Berith Möller gehen unter Würdigung dieser Rahmenbedingungen in ihrem Beitrag auf die Arbeit von Mädchenzufluchten in Ostdeutschland ein. Sie konstatieren eine sich erschöpft habende Kraft vieler "alter" Projektfrauen und verzehrende Diskurse innerhalb eines an ökonomischen Bedingungen orientierten Bezugsrahmens.
In einem dritten Schwerpunkt werden institutionelle und biografische Aspekte des ostdeutschen Professionalisierungsprozesses bearbeitet. Heike Ludwig und Peter Rahn sehen in der Gründung und Entwicklung der Fachbereiche Sozialwesen einen wichtigen Beitrag zur Transformation der Hochschullandschaft. Aufgrund des hohen Anteils an aus Westdeutschland stammenden Hochschullehrern (85%) sind eigene Traditionsbildungen verzögert worden und hat "Eigenes" sich in erster Linie in Form guter Verknüpfung von Lehre und Praxis entwickelt. Bei den Studierenden bestimmt die Wahl der jeweiligen Hochschule weniger deren Profil, sondern deren Standort. Über 80% der Studierenden stammen aus der näheren Umgebung der jeweiligen Fachbereiche und Hochschulen.
Stefan Busse und Gudrun Ehlert konstatieren mit Blick auf Professionalisierung und Professionalität des ostdeutschen Personals zum einen das Dilemma, dass vergleichende Studien zu möglichen Unterschieden zwischen ost- und westdeutschen SozialarbeiterInnen rar sind. Aus dem Material kleinerer Projekte lassen sich drei verschiedene Typen von Studierenden bzw. der AbsolventInnen extrahieren: Professionelles Handeln, das vor allem auf Lebenserfahrung und früherer Berufstätigkeit basiert, eine Berufspraxis die Vergangenes nicht in Frage stellt, aber für eine fortschreitende Professionalisierung im Sinne der Weiterqualifizierung offen ist und schließlich die Form eines wendebedingten "widerständigen Wandels zu einer anderen Professionalität". Das besondere Spannungsverhältnis von Programmen und praktischem Erfahrungswissen verdeutlicht Iris Nentwig-Gesemann mittels einer qualitativen Studie zu professionellem Handeln von Krippenerzieherinnen in den neuen Bundesländern.
Zwei Beiträge wenden sich Fragen von bürgerschaftlichem Engagement unter den Bedingungen des deutsch-deutschen Transformationsprozesses zu. Chantal Munsch geht dabei der Frage nach, welche Kraft bürgerschaftliches Engagement innerhalb derartiger Umstrukturierungen entfalten kann. Die Autorin verdeutlicht am Beispiel der Demonstrationen gegen die sogenannten "Hartz-Gesetze", dass bürgerliches Engagement in erheblichem Maße organisationsgebunden, reaktiv und nur selten in einem weitergehenden Sinne gesellschaftskritisch ist. Gudrun Israels Beitrag über sozial-kulturelle Arbeit im Gemeinwesen ist vor allem als Abriss über den historischen Verlauf der Gemeinwesenarbeit zu verstehen, der die jüngeren Entwicklungen in Ostdeutschland einschließt.
Die drei HerausgeberInnen geben dem Band eine nochmalige Rundung, indem sie die vorgestellten Beiträge abschließend kommentieren. Zugespitzt gelangen sie zu dem Resümee, dass die deutsch-deutsche Vereinigung faktisch als "Verwestlichung" stattgefunden hat. Die Frage nach den (Rest)Potentialen ostdeutscher Lebensverhältnisse findet ihrer Meinung nach bislang wenig präzise und zufriedenstellende Antworten.
Fazit
Insgesamt handelt es sich bei dem Band um eine nochmalige Bestandsaufnahme der Entwicklung von Sozialpolitik und Sozialer Arbeit in Ostdeutschland, die aus der Perspektive unterschiedlicher Zugänge vorgenommen wird. Die Stärken liegen zweifelsohne in einer verdichteten Betrachtung der Transformationsprozesse sowie der Fokussierung der Beiträge auf die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sowie die Jugendhilfe selbst. Es fehlen allerdings Hinweise an die Kommunalpolitik, insbesondere solche, die konkret auf die aktuellen Finanzierungs- und Ausgestaltungsbedingungen in den verschiedenen neuen Bundesländern eingehen und der Frage nachgehen, was unter den prekärer werdenden Bedingungen künftig noch möglich sein könnte. Zukunftsfragen werden somit vor allem in den Beiträgen aufgegriffen, die sich mit institutionellen und biografischen Aspekten der ostdeutschen Professionalisierungsprozesse sowie Betrachtungen über die Potentiale der Selbstorganisation und des bürgerschaftlichen Engagements zuwenden.
Rezension von
Prof. Dr. Titus Simon
lebt in Wolfenbrück, einem Weiler mit 140 Einwohnern; lehrt zu ausgesuchten Themen in Magdeburg und St. Gallen und schreibt kritische Heimatromane.
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