Markus Drolshagen: "[...] Fehlplatzierung jüngerer Behinderter [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Jörg Michael Kastl, 22.10.2006
Markus Drolshagen: "Was mir fehlt, ist ein Zuhause". Fehlplatzierung jüngerer Behinderter in hessischen Altenhilfe-Einrichtungen. Frank & Timme (Berlin) 2006. 310 Seiten. ISBN 978-3-86596-055-9. 34,80 EUR. CH: 52,20 sFr.
Das Problem
Nach dem jüngsten Zwischenbericht des vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in Auftrag gegebenen Forschungsprojekts "Möglichkeiten und Grenzen selbständiger Lebensführung in Einrichtungen (MUG IV)" sind 4 % der derzeit in vollstationären Alteneinrichtungen in Deutschland lebenden Männer und Frauen unter 60 Jahre alt, insgesamt dürfte es sich dabei um schätzungsweise rund 30.000 Menschen bundesweit handeln.
Das Buch von Markus Drolshagen, zugleich seine Dissertation am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Philipps-Universität Marburg, beleuchtet diesen Sachverhalt unter dem Problemtitel der "Fehlplatzierung jüngerer behinderter Menschen in stationären Einrichtungen der Altenhilfe". Drolshagen knüpft dabei an eine Erhebung von Brings und Rohrmann aus dem Jahre 2000 an. Diese Studie belegte, dass Ende 2000 in 567 hessischen Altenpflegeheime 1.427 Menschen unter 60 Jahren untergebracht waren. Die meisten dieser Menschen lebten vorher zu Hause, bei etwas mehr als einem Drittel ging der Einweisung ein Krankenhausaufenthalt voraus. Als Grund für den Einzug in Heim wurde bei 60 % entweder der Zusammenbruch einer häuslichen Pflegesituation genannt oder der Umstand, dass diese - etwa im Anschluss an eine Krankenhausbehandlung - aus den verschiedensten Gründen nicht zustande gekommen war.
Empirische Grundlage
Markus Drolshagens Studie wählte im Unterschied zu den angeführten quantitativen Erhebungen einen qualitativen, biografisch orientierten Zugang. Er befragte insgesamt 37 betroffene Frauen und Männer zur Vorgeschichte und gegenwärtigen Beurteilung ihrer Wohnsituation, von denen 26 Fälle in die dem Buch zugrunde liegenden Analysen eingingen. Ausführlich dokumentiert werden in dem Buch vierzehn Fälle.
Inhalt des Buches
Das Buch setzt ein mit einem ausführlichen Vorspann zur Problemstellung und zum Forschungsstand. Einigen sehr selektiven Vorklärungen zum Begriff der Behinderung (Bleidick, SGB IX, ICF, Jantzen) folgt ein Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzender sozial- und professionshistorischer Rückblick zum "institutionellen Einschluss" von Menschen mit Behinderung. Nach einem sehr ausführlichen und differenziert argumentierenden Methodenteil besteht der eigentliche Hauptteil der Arbeit in einer Präsentation von vierzehn Fällen größten Teils unter Rückgriff auf Zitate aus den Originaltranskripten der geführten Interviews.
Der Gesamtkorpus wird anschließend unter bestimmten Gesichtspunkten zusammenfassend ausgewertet. Dabei zeigt sich, dass neun der 26 Befragten im Anschluss an einen Klinikaufenthalt in die stationäre Altenhilfeeinrichtung "gerieten", weitere sieben hatten die Unterbringung selbst initiiert, bei fünf weiteren waren die Angehörigen ausschlaggebend (auch bei diesen beiden Gruppen z.T. im Anschluss an oder im Umfeld von eine/r Akutbehandlung), bei weiteren fünf blieben die Umstände der Heimeinweisung unklar.
In zwei weiteren Kapiteln beschäftigt sich Drolshagen wiederum exemplarisch mit der Frage, welche Gründe dafür verantwortlich sein können, dass es zu solchen - in seinen Augen - Fehlplatzierungen kommt. In Form von Interviews mit Vertretern verschiedener sozialer Dienste gelingt es allenfalls einige Schlaglichter auf mögliche Ursachen zu werfen: ungenügende Beratung und ungenügende Beratungsqualität bei kommunalen Stellen und Diensten einerseits, in Sozialdiensten der Krankenhäuser andererseits; eine zu wenig geschärfte professionelle Wahrnehmung bei den zuständigen Leistungsträgern und dem Personal der Altenhilfeeinrichtungen.
Kritik
Die Stärke des Buchs liegt sicher in der ausführlichen Präsentation der zum Teil sehr beeindruckenden Fallgeschichten. Es wird aber aus dem Material auch deutlich, wie wichtig eine differenzierte Sicht auf die dargestellte Problematik ist. Es finden sich gewiss eine ganze Reihe von Fällen, bei denen man Drolshagens Diagnose einer "Fehlplatzierung" umstandslos folgen wird. In anderen Fällen liegt offensichtlich ein mit bestimmten kontingenten (in der regionalen Versorgungssituation begründeten, aus der Lebenssituation der Betroffenen herrührenden) Umständen zusammenhängendes "Provisorium" vor. Bei einer dritten Gruppe von Fällen sind die Beteiligten selbst vergleichsweise zufrieden und es ist nicht zu sehen, welche Argumente gegen die von den Betroffenen - unter gegebenen Umständen ihrer Situation - geltend gemachte Alternativlosigkeit ihrer Wohnsituation ins Feld zu führen wären.
Drolshagens in den hinteren Kapiteln angestellten Ursachenvermutungen gehen sicher in die richtige Richtung, allerdings hätte man sich hier noch - fallbezogen - mehr Gründlichkeit in der Analyse gewünscht. Dies betrifft eine klarere Analyse der leistungsrechtlichen Voraussetzungen und der strukturellen Problemen der rehabilitatorischen Abläufe und Einrichtungen ebenso wie eine der besonderen lebensweltlichen und sozialen Gegebenheiten im Einzelfall. Insgesamt wäre eine präzisere Rahmung der Arbeit z. B. über eine Analyse der ja grundsätzlich bekannten Dysfunktionen und Strukturprobleme im Anschluss an die medizinische Rehabilitation oder im Bereich ambulanter Pflege sinnvoller gewesen als die viel zu allgemeine Rahmung über die Geschichte der "totalen Institutionen" der Behindertenhilfe.
Fazit
Die Präsentation der Einzelfälle ist lehrreich, nützlich und anschaulich; insgesamt wirft die Arbeit aber mehr Fragen auf als sie beantwortet.
Rezension von
Prof. Dr. Jörg Michael Kastl
Professor für Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik. Arbeitsgebiete: Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung, Rehabilitation/Teilhabe behinderter Menschen (Persönliches Budget, IFD); Berufs- und Professionssoziologie; Sozialrecht und Sozialpolitik (spez. Rehabilitation); Sozialisationsforschung und allgemeine Soziologie
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Es gibt 14 Rezensionen von Jörg Michael Kastl.
Zitiervorschlag
Jörg Michael Kastl. Rezension vom 22.10.2006 zu:
Markus Drolshagen: "Was mir fehlt, ist ein Zuhause". Fehlplatzierung jüngerer Behinderter in hessischen Altenhilfe-Einrichtungen. Frank & Timme
(Berlin) 2006.
ISBN 978-3-86596-055-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3948.php, Datum des Zugriffs 03.12.2024.
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