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Martin Altmeyer, Helmut Thomä (Hrsg.): Die vernetzte Seele[...] (Psychoanalyse)

Rezensiert von Prof. Dr. Burkhard Bierhoff, 01.01.2008

Cover Martin Altmeyer, Helmut Thomä (Hrsg.): Die vernetzte Seele[...] (Psychoanalyse) ISBN 978-3-608-94403-7

Martin Altmeyer, Helmut Thomä (Hrsg.): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2006. 372 Seiten. ISBN 978-3-608-94403-7. 38,00 EUR.

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Thema und Herausgeber

Die Herausgeber des Bandes, Helmut Thomä und Martin Altmeyer, dokumentieren mit einer Zusammenstellung von internationalen Beiträgen die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Dabei vertreten sie die Auffassung, "dass Intersubjektivität zu einem einheitsstiftenden Paradigma der modernen Psychoanalyse werden kann" (S. 6).

Dr. rer.med. Martin Altmeyer, Dipl.-Psychologe, arbeitet als Paar- und Familientherapeut in der psychosozialen Versorgung. Prof. Dr. med., Dr. med. h.c. Helmut Thomä ist emeritierter Ordinarius für Psychotherapie an der Universität Ulm. Beide sind langjährig mit therapeutischen Themen befasst.

Die Tradition der Frankfurter Schule

Martin Altmeyer kommt nach eigenem Bekunden aus der Tradition der Frankfurter Schule. Deshalb erscheint es angemessen, in der Einleitung dieser Rezension daran zu erinnern, dass das Institut für Sozialforschung der später so genannten Frankfurter Schule die Psychoanalyse Freuds im Rahmen einer kritischen Theorie des Subjekts rezipiert hatte. Dies unter Bezugnahme auf die "Triebstruktur", die Theoretikern der Frankfurter Schule gegenüber repressiven Formen der Vergesellschaftung als widerständig galt. Erich Fromm, der dieser "philosophischen" Rezeption der Psychoanalyse mit ihrem triebtheoretischen Reduktionismus widersprochen hatte, schied schließlich aus dem Institut für Sozialforschung aus und verband sich mit dem William Alanson White Institute, das die intersubjektive Wende bereits vor nunmehr 60 Jahren vorwegnahm. Diese beziehungstheoretische Richtung wurde mehrere Jahrzehnte lang mit dem Vorwurf marginalisiert, den eigentlichen Gehalt der Psychoanalyse, insbesondere die Libidotheorie, preisgegeben zu haben.

Psychoanalyse als Theorie zwischenmenschlicher Beziehungen

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ließen sich jedoch nicht mehr umkehren. Inzwischen hat sich die Psychoanalyse vielerorts als Theorie zwischenmenschlicher Beziehungen neu konstituiert und als klinische Praxis daran ausgerichtet. Dieser Veränderung trägt der vorliegende Sammelband Rechnung, dessen Beiträger fast ausnahmslos Psychoanalytiker und klinische Psychologen sind.

Wie die Herausgeber ausführen, zeigt sich in der heutigen Psychoanalyse ein Paradigmenwechsel, "der quer zu den Strömungen verläuft und inzwischen all ihre Schulen ergriffen hat" (S. 5). Diesen Wechsel beschreiben sie als intersubjektive Wende, die mit ihrem Zentralbegriff die soziale Bezogenheit als Teil der conditio humana bezeichnet. In ihrer Einführung vermitteln die Herausgeber die Entwicklungslinien, Positionen und Kontroversen, die mit dieser Wende verbunden sind. Sie sind entschieden der Auffassung, "dass Intersubjektivität zu einem einheitsstiftenden Paradigma der modernen Psychoanalyse werden kann" (S. 6). "Schulenübergreifend beginnt sich die Erkenntnis durchzusetzen, dass das Seelenleben des Menschen bis in seiner unbewussten Tiefen hinein mit der sozialen Umwelt verbunden und auf andere Menschen bezogen ist: Die Psychoanalyse selbst ist intersubjektiv verfasst" (S. 7).

Die plurale Struktur der relationalen Psychoanalyse - Überblick

Für an der Psychoanalyse und ihren neueren Entwicklungen interessierte Wissenschaftler und Berufspraktiker, die die Psychoanalyse nicht aus der Perspektive klinischer Erfahrung rezipieren, war es bislang schwierig, sich einen Überblick über die verschiedenen Positionen und Kontroversen zu verschaffen.

Genau hier setzt der Herausgeberband an. Er erschließt mit der getroffenen Auswahl von Themen die plurale Struktur der relationalen Psychoanalyse. In dichter Form findet der Leser alle wesentlichen therapeutischen Positionen dargestellt, die zur intersubjektiv ausgerichteten Psychoanalyse gehören. Dabei wird auf relevante Disziplinen wie Entwicklungspsychologie, Säuglingsforschung und kritische Theorie Bezug genommen.

Die Vielfalt und Differenziertheit der Beiträge macht es nicht einfach, diesen Band darzustellen, auch wenn das mit ihm verbundene Anliegen ein klares ist, nämlich die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse zu dokumentieren. In ihrer Vorbemerkung geben die Herausgeber den folgenden Überblick über die Beiträger und ihre Positionen: "Im ersten Teil werden die verschiedenen Strömungen des "amerikanischen Intersubjektivismus" präsentiert. Thomas Ogden steht für die postkleinianische bzw. postwinnicottianische Schule. Jessica Benjamin, Lewis Aron und Adrienne Harris vertreten die relationale Psychoanalyse, deren führender Kopf Stephen Mitchell gewesen ist. Donna Orange, Robert Stolorow und George Atwood kommen aus der intersubjektiven Tradition der Selbstpsychologie. Beatrice Beebe und Frank Lachmann haben einen systemischen Ansatz entwickelt, den sie in Säuglingsforschung und Psychotherapie anwenden. Marcia Cavell überträgt den sprachphilosophischen Zugang zur Intersubjektivität auf die Psychoanalyse. Im zweiten Teil kommen unterschiedliche "europäische Positionen" zu Wort. Werner Bohleber widmet sich den philosophischen und psychoanalytischen Vorläufern des zeitgenössischen Intersubjektivismus. André Green untersucht das Verhältnis von intrapsychisch und intersubjektiv. Jean Laplanche gibt uns Einblick in seine intersubjektive Spielart der Triebtheorie. Michael Buchholz berichtet von qualitativer Psychotherapieforschung aus relationaler Sicht. In der Auseinandersetzung zwischen Axel Honneth und Joel Whitebook werden schließlich grundsätzliche Fragen der intersubjektiven Wende in der Psychoanalyse diskutiert" (S. 6).

In einem einführenden Beitrag zur Psychoanalyse und Intersubjektivität (S. 7-31) identifizieren die Herausgeber die Positionen und Entwicklungslinien, die zur intersubjektiv orientierten Psychoanalyse geführt haben. "Unentfaltete intersubjektive Einsichten bei Freud" werden hier ebenso dargelegt wie die Beiträge von dissidenten Wegbereiter der intersubjektiven Wende (John Bowlby, Harry Stack Sullivan, Erich Fromm), aber auch "klassische" Theoretiker wie Donald W. Winnicott und Hans Loewald werden erwähnt oder aufbereitet. Der Stellenwert, der der Säuglingsforschung bei der Begründung der sozialen Beziehungen als Fundament der menschlichen Entwicklung zukommt, wird ausführlich gewürdigt, mitsamt den Implikationen für die therapeutische Beziehung, in der "die Subjektivität des Patienten, die Intersubjektivität der analytischen Beziehung und die Objektivität der Realität" (S. 21) zusammentreffen. Die intersubjektive Wende erscheint als ein integrativer Beitrag, der geeignet ist, die innere Zersplitterung der Psychoanalyse zu überwinden und sie im interdisziplinären Diskurs neu zu positionieren.

Die Herausgeber geben nicht nur einen informativen Überblick über die neuere Entwicklung der Psychoanalyse, sondern leiten auch jeden Beitrag so ein, dass der Problemkontext mit seiner Entstehung und Entwicklung, aber auch strittige Fragen und Kontroversen zwischen den intersubjektiven Positionen deutlich werden. Nützlich ist ein Personen- und Sachregister von jeweils 6 Seiten Umfang, das ein gezieltes Nachschlagen ermöglicht.

Zum Problemgehalt der Psychoanalyse

Beispielhaft seien im Folgenden die Beiträge von Axel Honneth und Joel Whitebook herausgegriffen, die den bereits in zurückliegenden Kontroversen offenkundigen Problemgehalt der Psychoanalyse aufnehmen und weiterführen. Hier sei nochmals erwähnt, dass die beziehungstheoretisch ausgerichtete Neopsychoanalyse, die mit Namen wie Harry Stack Sullivan, Erich Fromm, Clara Thompson und Karen Horney verbunden ist, nicht nur die intersubjektive Entwicklung vorweg genommen, sondern auch Anlass für eine Kontroverse geboten hatte. Die unter der Leitung von Sullivan im William Alanson White Institute in den 1940er Jahren entwickelte beziehungstheoretische Variante der Psychoanalyse wurde in den 1940er und 50er Jahren von Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse aufs Schärfste bekämpft. Es erscheint geradezu als eine Ironie in der Geschichte der Frankfurter Schule, dass seine zeitgenössischen Vertreter (hier: Axel Honneth) inzwischen von außen (von Joel Whitebook) an deren damalige kritische Position erinnert werden.

So lässt sich die Kontroverse zwischen Axel Honneth (siehe seinen Beitrag, S.  314-333) und Joel Whitebook (S. 334-352) als eine Neuauflage des zurückliegenden Streits zwischen Herbert Marcuse und Erich Fromm um den "Neo-Freudianischen Revisionismus" interpretieren. Ähnlich wie zuvor Fromm von Theoretikern der kritischen Theorie eine Verwässerung des kritischen Gehalts der Psychoanalyse und ein oberflächlicher Konformismus vorgeworfen wurden, so wird Honneth von Whitebook kritisiert. Kern der Kritik an der intersubjektiven Revision der Psychoanalyse ist "die Generalformel, das Selbst sei ein Produkt sozialer Interaktion - wenn damit gemeint ist, dass es bis in seine tiefsten Schichten sozial vermittelt ist und keinerlei vorsoziale Elemente enthält" (S. 337). Genährt wird diese Kritik von der Befürchtung, mit dem in Philosophie und relationaler Psychoanalyse sich verbreitenden Intersubjektivismus würden "wichtige Einsichten der Subjektphilosophie und der Triebtheorie verloren gehen" (S. 337). Whitebook plädiert dafür, besonders die ersten 18 Lebensmonate des Säuglings zu erforschen, hier insbesondere "jene Schichten des Selbst, die unterhalb der reflexiven Ebene liegen" und das vorreflexive Selbst repräsentieren (S. 345). Insgesamt verfolgt Whitebook die Zielrichtung, den "Kerngehalt [der Psychoanalyse] gegenüber der neuen Allianz aus intersubjektivistischer Sozialphilosophie und Säuglingsforschung" zu verteidigen (S. 335; vgl. S. 221f.).

Leserkreis

Wer an der Psychoanalyse, ihren Positionen und ihrer Entwicklung theoretisch oder therapeutisch interessiert ist, wer ihre neueren interdisziplinären Bezüge (etwa zur Säuglingsforschung) erfassen will, wer in Erziehung und Sozialarbeit über das Menschenbild nachdenkt und Begründungen für die prosoziale menschliche Natur (im Gegensatz zur antisozialen Menschennatur bei Thomas Hobbes und Sigmund Freud) prüfen möchte, alle diese Leser (ob therapeutisch, pädagogisch, sozialarbeiterisch, philosophisch oder medizinisch orientiert) werden von diesem Buch Anregungen für eine erweiterte Problemsicht erfahren und ihr Wissen über Psychoanalyse vertiefen. Der Sammelband ist zweifellos als ein wichtiger Beitrag zum "psychoanalytischen Gegenwartsdiskurs" zu werten.

Diskussion

Dennoch sind einige kritische Hinweise angezeigt. Unglücklich bleibt die Wahl des Buchtitels "Die vernetzte Seele". Hier wird der postmoderne Begriff der Vernetzung eher unreflektiert als Bezeichnung für menschliche Bezogenheit und Interaktion gewählt. Soziale Verbundenheit lässt sich jedoch nicht adäquat mit dem technischen Begriff der Vernetzung beschreiben, der bereits eine spezifische von Verdinglichung und Entfremdung geprägte Organisationsform der Psyche und des menschlichen Verhaltens bedeutet.

Wäre der Begriff der Vernetzung hingegen kritisch gemeint, so hätte eine Realanalyse zwischenmenschlicher Beziehungen geleistet werden müssen, wie diese sich in der Postmoderne konstituieren. Ein solches der Tradition der Frankfurter Schule angemessenes Vorgehen hätte die beziehungstheoretische Dimension im Zusammenhang mit der gesellschaftstheoretischen Dimension zu entfalten. Eine solche kritische Subjekttheorie ist jedoch nicht (explizit) vorhanden.

Fazit

Mit dieser metatheoretischen Anmerkung soll der Wert des Bandes nicht geschmälert werden. Vielmehr ist es verdienstvoll, die gegenwärtigen Wandlungsprozesse der Psychoanalyse in einer repräsentativen Auswahl von Beiträgen dokumentiert zu haben, die alle lesenswert sind. Auf der Gegenstandsebene haben die Herausgeber einen materialreichen Band vorgelegt, der einen differenzierten Einblick in die neuere Entwicklung der Psychoanalyse vermittelt, die als paradigmatische Wende hin zur Intersubjektivität gedeutet werden kann.

Rezension von
Prof. Dr. Burkhard Bierhoff
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Es gibt 5 Rezensionen von Burkhard Bierhoff.

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Zitiervorschlag
Burkhard Bierhoff. Rezension vom 01.01.2008 zu: Martin Altmeyer, Helmut Thomä (Hrsg.): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2006. ISBN 978-3-608-94403-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/3952.php, Datum des Zugriffs 07.12.2024.


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