Ulrich Deinet, Maria Icking: Jugendhilfe und Schule. Felder - Themen - Strukturen
Rezensiert von Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt, 16.11.2006

Ulrich Deinet, Maria Icking: Jugendhilfe und Schule. Felder - Themen - Strukturen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2006. 262 Seiten. ISBN 978-3-86649-012-3. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-86649-317-9 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Seit mehr als zehn Jahren wird in der Jugendhilfe - und dort insbesondere in der Kinder- und Jugendarbeit sowie der Jugendsozialarbeit - eine lebhafte Debatte geführt, in welcher Art und Weise und vor allem zu welchen Konditionen eine (vom Gesetzgeber im Übrigen geforderte) Kooperation mit Schule möglich ist. Zugespitzt wird das Erfordernis, sich unter Wahrung eines eigenen (jugendhilfespezifischen) Profils in Kooperationen zu begeben, durch die im Zuge der PISA-Debatte einerseits neu angefachte Notwendigkeit von Schule, sich anders zu organisieren, und andererseits die von Politik meist mit dem Etikett der "Zusammenarbeit von Schule und Jugendarbeit" verklausulierte Inpflichtnahme für Zwecke der Schule. Erfahrungen, die in diesem Zeitraum mit der Kooperation von Jugendhilfe und Schule gesammelt werden konnten, können dabei dienlich sein, die Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene künftig gelingender zu gestalten. Einen Beitrag hierzu leisten Ulrich Deinet (der derzeit eine Vertretungsprofessur für Didaktik und Methodik der Sozialpädagogik an der FH Düsseldorf wahrnimmt) und Maria Icking (Referentin bei der Gesellschaft für innovative Beschäftigungsförderung/GIB in Bottrop) mit der von ihnen herausgegebenen Sammlung "Jugendhilfe und Schule: Analysen und Konzepte für die kommunale Kooperation".
Aufbau und Inhalt
Die Texte sollen Antworten auf die mit der von Ulrich Deinet und Maria Icking in der Einleitung formulierten Kernthese verbundenen Fragen geben, "dass in der Kooperation von Schule und Jugendhilfe dann große Chancen liegen, wenn diese nicht als „Notlösung“ wegen knapper Ressourcen betrachtet wird, sondern wenn sich beide Systeme auf eine gemeinsame Rahmung verständigen" (S. 7), zum Beispiel:
- Worin also besteht die Verständigung über (gemeinsame) Ziele?
- Welche Rahmenbedingungen sind zu vergegenwärtigen?
- Welche (insbesondere auch externen) Akteure spielen eine Rolle, welche müssten eine stärkere Spielen?
Die (ohne Einleitung) 15 Aufsätze sind in fünf thematische Blöcke (zu je drei Texten) gegliedert, wobei inhaltlich die Handschrift insbesondere von Ulrich Deinet deutlich wird (der sich in den zurückliegenden Jahren wiederholt zu dem Thema der Kooperation immer wieder und durchaus richtungsweisend geäußert hat, vgl. z. B. das Handbuch "Kooperation von Jugendhilfe und Schule", Opladen 2001. Vgl. hierzu auch die Rezension.)
- Grundlagen der Kooperation behandeln die ersten Aufsätze (zu den theoretischen und konzeptionellen Grundlagen einer Kooperation) von Ulrich Deinet und Maria Icking im Blick auf die Öffnung v. a. von Schule gegenüber informellen und nicht-formellen Bildungsprozessen (wobei das Konzept "Aneignung" als Verständigungshintergrund zu verstehen ist, es aus der Jugendarbeit auch in schulischen Alltag zu übertragen) und nochmals Deinet, der die sozialräumliche Dimension noch einmal in das Zentrum von Kooperationsbemühungen rückt (und damit einen zentralen Aspekt des jugendhilfespezifischen Profils in Kooperationen mit Schule konnotiert und zugleich Schule eine Öffnungsperspektive vermittelt). Die unterschiedlichen Anforderungen, denen sich Kooperationsakteure im Kontext ihrer jeweiligen Systemverortung ausgesetzt sehen, thematisiert Raingard Knauer (Hochschullehrerin an der FH Kiel) in einem dritten Aufsatz.
- Auf Erfahrungen der Zusammenarbeit von Jugendarbeit und Schule (dem Kooperationsfeld mit den zwischenzeitlich wohl nachhaltigsten Bilanzen in Bezug auf Erträge, Chancen und Risiken) nehmen im zweiten Themenblock die Beiträge von Deinet (er nimmt auf Kooperation im Zuge der Überlegung zu Ganztagsbetreuung bzw. -bildung Bezug), Karlheinz Thimm (Hochschullehrer an der Evangelischen FH Berlin), der ein Plädoyer für Kooperationen mit Ganztagsschulen "trotz ungewissen Ausgangs" formuliert, und Helle Becker (freiberuflich im Büro "Expertise & Kommunikation in Bildung", Essen, tätig), die den Aspekt politischer Bildung in den Überlegungen nicht vergessen sehen will.
- Weiter gespannt - und im Zusammenhang mit den thematischen Schwerpunktbildungen anderer ([zwischen] bilanzierender) Veröffentlichungen zu Kooperationen zwischen Jugendhilfe und Schule besonders bemerkenswert - sind die Aufsätze im dritten Themenblock Soziale Arbeit an Schulen. Hier thematisieren Ulrike Leonhardt und Beate Schnabel die Relevanz von Elternarbeit und referieren (im Zusammenhang mit dem Bundesmodellprogramm "Tantalus" gesammelte) Ergebnisse aus der Praxisforschung zur Konzipierung und Durchführung von Elternarbeit am Lernort Schule, Claudia Streblow (als Evaluationsbeauftragte der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung, Berlin) reflektiert Schulstationsarbeit (am Beispiel einer Berliner Hauptschule und im Kontext des erst jüngst aufgelegten Senatsprogramms "Jugendsozialarbeit an Hauptschulen") und Deinet geht zunächst auf den Stellenwert von Schulsozialarbeit für Kooperationsprojekte ein.
- Berufsorientierung und Übergang in den Beruf ist ein weiterer Block übertitelt. Hier geht Maria Icking zunächst auf Unternehmen als weiterem Akteur in Kooperationsbeziehungen ein (wobei die Bedeutung von Unternehmen für gelingendere Prozesse der innerschulischen Berufsorientierung und -vorbereitung herausgearbeitet wird), Wenka Wentzel (Koordinierungsstelle Girl"s Day) reflektiert geschlechterspezifische Erfahrungen aus Girl"s-Day-Projekten und Holger Spiekermann (vom Institut Management und Organisation, Köln) setzt sich vor dem Hintergrund spezifisch Kölner Erfahrungen mit dem Kooperationsmanagement von Netzwerken im Übergang auseinander.
- Eher nordrhein-westfälische Erfahrungen mit den kommunalen Rahmenbedingungen kommen im letzen Block (Kommunale Strukturen und Planungskonzepte) zur Sprache. Maria Icking referiert zunächst die Resultate einer Befragung von Städten und Landkreisen in NRW zur Praxis der Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule (wobei dem Aspekt von Beteiligung besondere Aufmerksamkeit zuteil wird), während Stephan Maykus (wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziale Arbeit/ISA, Münster) die Kommunale Bildungsberichterstattung als Grundlage der Planung lokaler Bildungsräume thematisiert und für eine Verzahnung der in den Systemen Schule und Jugendhilfe je spezifisch entwickelten Planungsinstrumente (Jugendhilfeplanung, Schulentwicklungsplanung) plädiert. Im abschließenden Aufsatz behandelt Gaby Grimm (Leiterin "Innovative Projekte" der Hochtief Construction AG) Zukunftsschulen im Wohnquartier (zu verstehen als in ein intergeneratives Konzept von Bildung im Gemeinwesen integriert).
Zielgruppen
Richtig dürfte der Verlag mit seiner Ankündigung liegen, dass sich die Sammlung sowohl an Fachkräfte im Kooperationsalltag als auch an Leitungskräfte aus Jugendhilfe und Schulbehörden sowie mit Fragen der Kooperation von Jugendhilfe und Schule strategisch befasste Kommunalpolitiker/innen wendet. Die intelligente und inhaltlich breit gefächerte Zusammenstellung unterschiedlicher Foci, auf eine Kooperation zuzugehen, verspricht allen (durchaus erheblichen) Erkenntnis(zu)gewinn.
Fazit
Der vorliegende Band erweist sich als breit angelegt (ohne den "Anspruch auf eine vollständige Bearbeitung des breiten Spektrum" für sich in Anspruch zu nehmen [S. 8]); andere Werke brauchen weitaus mehr Raum, um Anregungen zu einer gelingenden Praxisgestaltung zu geben - oder sie sind schlicht zu opulent geraten. Da kommt der von Deinet und Icking editierte Band knapp und präzise daher. Die Darlegungen erweisen sich in der Regel als fundiert, lesenswert (und lesbar) und anregend. Auch neue relevante Aspekte finden ihren Platz: Elternarbeit z. B. im Rahmen von Darstellungen zur Kooperation von Schule und Jugendhilfe einzuflechten, sollte zwar als selbstverständlich gelten, ist es aber keineswegs, was seinen Grund darin finden kann, dass sich die Einbeziehung von Eltern als non-formellen Akteuren immer noch schwierig erweist (wie z. B. die Reflexionen im DJI-Netzwerk zur frühen Prävention von Schulverweigerung zeigten) und mithin so viel Richtungsweisendes noch nicht mitzuteilen ist. Dies zu thematisieren macht den Band besonders interessant, zumal die abschließenden Empfehlungen hierzu gute Anregungen zum Weiterentwickeln auf kommunaler Ebene enthalten.
Ulrich Deinet und Maria Icking haben eine Aufsatzsammlung vorgelegt, die sowohl den Interessen der in Kooperationsprojekten alltäglich verstrickten Praxis Rechnung trägt (z. B. zum Aspekt der Elternarbeit, der Berücksichtigung von politischer Bildung, der Sozialraumorientierung) als auch den mit Strategie und Planung beauftragten "Overheads" Impulse gibt (z. B. zur Verzahnung von Jugendhilfe- und Schulentwicklungsplanung, zu Konzepten intergenerativen Lernens oder dem Kooperationsmanagement im Übergang von Schule in Ausbildung und Beruf).
Trotz dieses insgesamt sehr positiven Gesamteindrucks ist darauf hinzuweisen, dass die Fragestellung, was Kooperationsprojekte für den gelingenderen Übergang von Schule in Ausbildung und Beruf zu leisten im Stande sind, in dem vorliegenden Band doch etwas zu kurz kommt. So bleiben zum Beispiel die umfänglichen Erfahrungen aus dem seit 1997 tätigen Netzwerk UPJ - Unternehmen: Partner der Jugend, die für die Frage der Kooperation von Schule, Jugendhilfe und Unternehmen insbesondere auch im Übergang von erheblicher Bedeutung sind, ausgeblendet. Dass die (Zwischen-) Resultate aus Übergangsmanagement, die in dem Kinder- und Jugendplan-Projekt "Kompetenzagenturen" keinen Eingang gefunden haben, mag dem Zeitverlauf geschuldet sein; das Faktum zeigt einerseits, wie dynamisch sich das Feld entwickelt und neue Prozesse einer Integration in eine landläufige Praxis "harren", andererseits verweist es darauf, dass auch die beste Veröffentlichung, so sie Praxisreflexion und -entwicklung zum Gegenstand hat, immer eines bleibt: eine Momentaufnahme. Diese wirklich gelungene Sammlung macht da keine Ausnahme.
Rezension von
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
Professur für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg
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Zitiervorschlag
Peter-Ulrich Wendt. Rezension vom 16.11.2006 zu:
Ulrich Deinet, Maria Icking: Jugendhilfe und Schule. Felder - Themen - Strukturen. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2006.
ISBN 978-3-86649-012-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4019.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.
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