Walter Lorenz: Perspectives on European Social Work. From the Birth of the Nation State to the impact of Globalisation
Rezensiert von Prof. Dr. Daniel Gredig, 16.11.2007
Walter Lorenz: Perspectives on European Social Work. From the Birth of the Nation State to the impact of Globalisation.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2006.
208 Seiten.
ISBN 978-3-86649-008-6.
D: 16,90 EUR,
A: 17,40 EUR.
US $ 19,90.
Thema
Soziale Arbeit sieht sich heute in Europa mit Entwicklungen konfrontiert, die sie in ihren Grundlagen tangieren: Sowohl der Prozess der wirtschaftlichen Globalisierung als auch die Entwicklung einer Europäischen Union von 27 Staaten relativieren die Bedeutung der einzelnen Nationalstaaten. Ihr Vermögen, zwischen ihren Bürgerinnen und Bürgern Solidarität zu stiften und ihnen eine soziale Bürgerschaft, d.h. auf Rechten und Pflichten beruhende Wohlfahrt und Sicherheit zu gewähren, nimmt ab. Damit verliert der bisherige - nationalstaatliche - Bezugsrahmen von Sozialer Arbeit an strukturierender Kraft. Der neue Bezugsrahmen, der sich anbietet, ist die Europäische Union. Dieser Bezugsrahmen stellt die Sozialpolitik wie auch die Soziale Arbeit allerdings vor die - in post-modernen Gesellschaften ohnehin schon gegebene - Herausforderung, nun Solidarität zwischen Menschen zu stiften, die sich in ganz unterschiedlichen Lebenslagen befinden, in verschiedene Kulturen eingebunden sind und sich zunehmend kontrastreiche (nach Referenzpunkten wie z.B. Regionen, Geschlechter u.a.m. differenzierte) soziale Identitäten konstruieren. Wie eine Europäische Soziale Arbeit anzulegen ist, die im Rahmen von Europa und mit dem Zielhorizont einer sozialen Bürgerschaft ("social citizenship") der Europäer/innen wie auch der Zugewanderten zu agieren weiss, ist bis heute wenig diskutiert worden.
Mit seinen "Perspectives on European Social Work" entfaltet und analysiert Walter Lorenz diese grundsätzliche Problematik in systematischer Art. Dabei folgt er den theoretischen Aspekten Diversität, Kohäsion und Solidarität. Aus dieser Perspektive entwickelt er ein mögliches theoretisches Fundament für eine Europäische Soziale Arbeit. Weiter entwirft er den Zielhorizont für eine Europäische Soziale Arbeit und lokalisiert Handlungsspielräume für die Soziale Arbeit in den aktuellen sozialpolitischen Konstellationen.
Walter Lorenz bezieht Arbeiten in diesen Band ein, die zwischen 1998 und 2001 in unterschiedlichen Kontexten publiziert worden sind und sich aus historischer Perspektive mit den Entwicklungen der Sozialen Arbeit an der Wende zum 21. Jahrhundert befassten. Vier der neun Kapitel sind eigens für die vorliegende Abhandlung erstellt worden.
Inhalt
Walter Lorenz schickt seiner Studie ein Einleitungskapitel voraus, in dem er in Form von sechs Zielen festhält, welche Zusammenhänge er in diesem Buch aufzeigen und welche Konturen er damit einer Europäischen Sozialen Arbeit geben möchte. Diese sechs Zielsetzungen decken sich nicht mit den Kapiteln der anschliessenden Abhandlung. Im Rückblick erweisen sich diese einleitenden Bemerkungen aber als stark komprimierte Darlegung der Programmatik, der er in seiner Skizze einer Europäischen Sozialen Arbeit folgt.
Lorenz legt zunächst die systematische Verflechtung von Sozialer Arbeit mit der sozialpolitischen Verfassung eines Staats und den sozialen Bewegungen bzw. der Zivilgesellschaft dar, womit ihre für soziale Professionen spezifische Abhängigkeit von gesellschaftlichen Prozessen, insbesondere der gesellschaftlichen Definitionen von Wohlergehen, sozialer Integration und Solidarität deutlich herausgearbeitet wird.
Die enge Verflechtung mit Politik, insbesondere mit Sozialpolitik, wird im anschliessenden historischen Zugriff verdeutlicht. In dieser Perspektive stellt die Schaffung von Nationalstaaten eine Reaktion auf die im Zuge von Industrialisierung und gesellschaftlicher Modernisierung brüchig gewordene soziale Kohäsion dar. Die Zugehörigkeit zu einer Nation etablierte einen neuen Bezugsrahmen für Solidarität, aber auch einen Anknüpfungspunkt für die Etablierung sozialer Normen, Pflichten und Rechte, die von den Bürgerinnen und Bürgern einzuhalten waren, so sie ihre Zugehörigkeit zur Nation nicht in Frage gestellt sehen wollten. Angesichts der faktisch grossen Diversität unter den zu einer Nation zusammengefassten Menschen musste die nationale kulturelle Einheit also erst hergestellt und das Zusammengehörigkeitsgefühl über die Konstruktion einer gemeinsamen Geschichte und die Bildung von Mythen geschaffen werden. Schule und Soziale Arbeit waren wichtige Agenten in der Durchsetzung und fallbezogenen Anwendung der neuen Normen, von denen Teilhabe abhängig gemacht wurde und denen entlang die Grenzen der Solidarität gezogen wurden.
Aus dieser historischen Rekonstruktion wird nachvollziehbar, wie in den unterschiedlichen Nationalstaaten unterschiedliche "wohlfahrtsstaatliche Regimes" entstehen konnten. Walter Lorenz präsentiert in einem nächsten Schritt eine Typologie solcher wohlfahrtsstaatlicher Verfassungen ("welfare regimes") und zeigt auf, welche Position diese Regimes der Sozialen Arbeit jeweils zuweisen bzw. eröffnen.
In einem der letzten Kapitel arbeitet Lorenz heraus, wie die Globalisierung nun Kompromisse auf politischer, kultureller Ebene in Frage stellt, die im Rahmen der Herausbildung der Nationalstaaten auf politischer und kultureller Ebene eingegangen wurden und auch die wissenschaftlichen Arbeiten und Konzepte, welche die in diese Nationalstaatsprojekte eingebundene Soziale Arbeit geprägt hatten. Im Zentrum steht dabei der Kompromiss zwischen Universalismus und Partikularismus, der nun auf politischer, kultureller und auch auf epistemologischer Ebene aufgebrochen wird. In der Sozialen Arbeit spiegle sich dies, so Lorenz, in der aktuellen Auftrennung des wissenschaftlichen Diskurses. Dem einen Strang rechnet er positivistische, auf Steuerung und Effizienz ausgerichtete Diskussionen um "what works" (evidence-based practice) zu. Dem anderen Strang weist er jene Diskurse zu, die den Anspruch auf (postmodern) aufgeben und sich in normativer Beliebigkeit und Ästhetizismus übten, sich jeder politischen Inanspruchnahme beugten.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb sich die Konzeption einer künftigen Europäischen Soziale Arbeit nicht mehr an einem nationalstaatlichen Rahmen, aber genauso wenig an der Europäischen Union als neuem politischem Gebilde orientieren kann. Zudem führt nicht nur die Tatsache der Migration, sondern die gesellschaftlichen Entwicklungen in den europäischen Gesellschaften selbst zu einer weiter wachsenden Diversität von Kulturen und sozialen Identitäten. Soziale Arbeit hat deshalb zu einer Form zu finden, in der sie über die kulturellen Verschiedenheiten hinweg und unter Bewahrung der bestehenden Differenzen wiederum zur Stiftung von Solidarität und einer sozialen Bürgerschaft der Menschen in Europa beitragen kann.
Lorenz führt den Lesenden im letzten Kapitel schliesslich vor Augen, dass die in den 1990er Jahren aufgekommenen neoliberalen Sozialpolitiken, die den ursprünglichen nationalstaatlichen Kompromiss sprengten, in den unterschiedlichen vorgestellten wohlfahrtsstaatlichen Regimes unterschiedliche Formen angenommen haben. Die Programme bedürfen letztlich immer noch der Sozialen Arbeit als Akteure in der individuellen Umsetzung der Programme in der Interaktion mit den Individuen. In der Wahrnehmung dieser Funktion liegen Spielräume, die von der Sozialen Arbeit gestaltet werden können. Auch heute bewegt sich die Produktion von Wohlfahrt nicht ausserhalb des systematischen Zusammenhangs von Staat, Zivilgesellschaft und der Profession Soziale Arbeit, der im ersten Kapitel aufgezeigt wurde. Dies gibt der Sozialen Arbeit Gestaltungsmöglichkeiten. Dass diese zum Teil schon wahrgenommen werden, wird daran deutlich, dass die neu aufgelegten sozialstaatlichen Programme, die den ursprünglichen nationalstaatlichen Kompromiss sprengten, in den unterschiedlichen vorgestellten wohlfahrtsstaatlichen Regimes jeweils unterschiedliche Formen angenommen haben.
So bedarf es nun eines Entwurfs für eine Europäische Soziale Arbeit, die - weil sonst politisch beliebig funktionalisierbar - weder wertneutral, noch - weil sonst zu wenig kultursensitiv - universalistisch daher kommen darf. Vor diesem Hintergrund skizziert er schliesslich eine erste Kontur einer Europäischen Sozialen Arbeit: Sie soll als eine Praxis entwickelt werden, die in ihrem Vollzug Solidarität über vielfache Differenzen hinweg realisieren und eine soziale Bürgerschaft ermöglichen soll. Damit konstituiert sich Soziale Arbeit bei Lichte besehen als eine sozialpolitische Praxis. Bei jeder Intervention geht es nämlich nicht nur darum, ein bestimmtes Problem zu bearbeiten, dem auf individueller Ebene begegnet wird. Es ist im Bewusstsein zu halten, dass im Rahmen der einzelnen Intervention immer auch Rechte und Verpflichtungen, Teilhabe und Zugehörigkeit verhandelt werden, die den Kern von sozialer Integration ausmachen. Deshalb, so Lorenz Schluss, stellt in einer post-modernen, durch Vielfalt gekennzeichneten Gesellschaft, die Fähigkeit zur Verständigung über kulturelle und andere Differenzen hinweg das Schlüsselelement von Sozialer Arbeit dar. Eine Europäische Soziale Arbeit ist letztlich eine interkulturell, anti-rassistisch konzipierte Soziale Arbeit deren Kernkompetenz die interkulturelle Kommunikation darstellt. Sie hat sich auf Verständigungsprozesse zum sozialen Vertrag zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und den mit der sozialen Bürgerschaft einhergehenden Rechten und Pflichten einzulassen.
In diesen Argumentationsbogen arbeitet Lorenz weitere Kapitel ein, die wie Exkurse gewisse Aspekte vertiefen, so zu Migration als Herausforderung für den Nationalstaat, zur interkulturellen Kommunikation in der Praxis der Sozialen Arbeit und zu Forschung.
Diskussion
Die von Lorenz vorgelegte Studie zur Begründung einer Europäischen Sozialen Arbeit ist interessant. Insbesondere die historisch angelegten Analysen sind erhellend und vermögen eindrücklich zu illustrieren, welchen Beitrag die Geschichtsschreibung zum aktuellen theoretischen Diskurs zu leisten fähig ist. In diesen Kapiteln, in denen der Umgang mit Diversität, deren Herausforderung für die Stiftung von Solidarität, den Bewältigungsversuch in den Nationalstaaten und die Rolle der Sozialen Arbeit im Zentrum steht, ist die Analyse sehr kohärent und auch die historische Forschung anschlussfähig, die unter anderer Perspektive vorgenommenen wurde. Es ist auch dieser Erzählstrang im Buch, aus dem schliesslich auch das Verständnis für das Anliegen und die Konturen der Figur erwächst, die Lorenz einer Europäischen Sozialen Arbeit gerne verleihen möchte.
Die damit zwar in Zusammenhang stehenden, aber etwas eingeschobenen und in Form von Exkursen gehaltenen Ausführungen, z.B. jene zu Migration und interkultureller Kommunikation oder der Ausflug in die (zu sehr auf Deutschland konzentrierte) Theoriegeschichte, sind hingegen weniger kohärent in diese Analyse eingebunden und konnten auch nicht nahtlos in den Textfluss eingepasst werden. Es sind dies bezeichnenderweise jene Kapitel, die unabhängig von diesem Band erstellt und bereits einmal selbstständig publiziert worden sind. Sie wirken stellenweise überladen und führen eher von der zu verfolgenden Thematik weg, als auf die Schlussfolgerungen im letzten Kapitel und die Umrisse einer Europäischen Sozialen Arbeit hin. Auch die Klammer, die in der Programmatik in der Einleitung angeboten wird, erweist sich als zu wenig stark, diese Anteile des Buches zu integrieren. In diesen Passagen finden sich auch die Anlässe für die Irritationen, die von diesem Band ausgehen. Die Rezeption von Alice Salomon ist doch recht ungewohnt und lässt offen, ob sie Salomons Ansatz und Verständnis von Sozialer Arbeit gerecht wird. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang auch die Beurteilung von Nohls Position, der im Gegensatz zur Position Salomons eine besondere Sensibilität für kulturelle Diversität und die Vielfalt sozialer Identitäten zugeschrieben wird. Sich länger hiermit aufzuhalten, lohnt sich allerdings nicht, da diese Irritationen in Kapiteln auftreten, die für das Verständnis von Lorenz Anliegen - so will es scheinen - nicht wirklich relevant sind und auf deren Aufnahme er teilweise auch hätte verzichten können. Ähnlich liegt dies bei den Ausführungen zur Forschung in der Sozialen Arbeit, die etwas verkürzt wirken und in ihrer Substanz nicht ganz aktuell scheinen wollen.
Zielgruppen
Lorenz Arbeit ist voraussetzungsreich. Seine Argumentation ist dicht und setzt theoretische und historische Vorkenntnisse voraus, insbesondere auch eine gewisse Vertrautheit mit den Argumentationsfiguren der Kritischen Theorie. Die Auseinandersetzung mit dem anspruchsvollen Text, der sich auch wegen der nicht ganz nahtlosen Integration der fünf unabhängig entstandenen Arbeiten einer raschen Rezeption widersetzt, ist insbesondere in seiner historischen Argumentationslinie erhellend und daher lohnend. Er gehört ins Büchergestell der heute in Sozialer Arbeit Forschenden, Lehrenden und Lernenden. Englischkenntnisse sind selbstverständlich vorausgesetzt.
Fazit
Der Band ist lesenswert. Er bietet nicht nur theoretische Reflexionen zu einem Fundament einer Europäischen Sozialen Arbeit an. Die Analyse macht auch die aktuellen Herausforderungen deutlich, denen sich auch die im "herkömmlichen", im Wohlfahrtsstaat und damit im nationalstaatlichen Rahmen situierte Soziale Arbeit gegenüber sieht. Auch diese Praxis sieht sich letztlich vor die Frage gestellt, wie Solidarität unter Bedingungen zunehmender Diversität erhalten bzw. gestiftet und im Vollzug von Sozialer Arbeit in Form von Unterstützung realisiert oder verweigert wird.
Rezension von
Prof. Dr. Daniel Gredig
Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten
Website
Mailformular
Es gibt 6 Rezensionen von Daniel Gredig.
Lesen Sie weitere Rezensionen zum gleichen Titel: Rezension 4267
Zitiervorschlag
Daniel Gredig. Rezension vom 16.11.2007 zu:
Walter Lorenz: Perspectives on European Social Work. From the Birth of the Nation State to the impact of Globalisation. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2006.
ISBN 978-3-86649-008-6.
US $ 19,90.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4021.php, Datum des Zugriffs 09.11.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.