Sven Mirko Damm: Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit
Rezensiert von Prof. Dr. Kurt Pärli, 10.02.2007

Sven Mirko Damm: Menschenwürde, Freiheit, komplexe Gleichheit. Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes. Der Gleichheitssatz im europäischen Gemeinschaftsrecht sowie im deutschen und US-amerikanischen Verfassungsrecht.
Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2006.
627 Seiten.
ISBN 978-3-428-11954-7.
98,00 EUR.
CH: 155,00 sFr.
Reihe: Schriften zum internationalen Recht, Band 156.
Thema
Der Autor dieser von der Juristischen Fakultät der Universität Hannover im Jahr 2005 als Dissertation angenommenen Arbeit hat sich an die Herausforderung gewagt, anhand einer Untersuchung des amerikanischen und deutschen Gleichheitsverfassungsrechts sowie der Gleichheitsdogmatik des Europäischen Gemeinschaftsrechts darzulegen, nach welchen Massstäben überhaupt Situationen als "Gleichheitsrelevant" anzusehen sind und nach welchen Kriterien die Rechtsordnung Ungleichbehandlungen rechtfertigt. Richtigerweise wird bereits in der Einleitung festgestellt, dass Gleichheit keine Eigenschaft von Personen und Dingen, sondern vielmehr eine Beziehung zwischen Personen oder Dingen darstellt. Gleichheit wird, so der Autor, reflexiv konstruiert. Auch wenn bei diesem umfangreichen Werkes zuweilen die für Untersuchung massgebenden Fragen zu Gunsten historischer Herleitungen und ausschweifender Darstellungen etwas verloren gehen, so gelingt es dem Autor doch, sein ambitioniertes Vorhaben umzusetzen. Auch wenn die Übergänge vom US-amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht zum europarechtlichen Gemeinschaftsrecht nicht ganz optimal gelungen sind, können an der rechtlichen Dimension von Gleichheitsfragen interessierte Lesende die vorliegende Studie mit grossem Gewinn und zuweilen auch Genuss lesen. Die vorliegende Rezension führt die potenziellen Lesenden mit einer Inhaltsübersicht im Eilzug durch die Studie durch, ehe auf drei inhaltliche Aspekte besonders eingegangen wird.
Inhaltsübersicht
Die fast 600 Seiten starke Arbeit ist in fünf Teile aufgegliedert. Im ersten Teil werden der Untersuchungsgegenstand und der Gang der Untersuchung erläutert. Im zweiten Teil folgt vorab eine Systematisierung von Gleichheitsmassstäben im Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten von Amerika und Deutschland. Dazu legt der Autor die Grundzüge der deutschen und der amerikanischen Verfassungsgeschichte dar, wobei er sich, dem Zweck der Untersuchung entsprechend, auf die Verfassungsgeschichte der Gleichheit konzentriert. Noch immer innerhalb des zweiten Teils der Studie werden im nächsten Kapitel Ähnlichkeiten und Unterschiede in der deutschen und amerikanischen Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen Gleichheitssatz aufgezeigt. Daran anschliessend behandelt der Autor wiederum je im amerikanischen und deutschen Verfassungsrecht die Bedeutung besonderer Gleichheitsgebote (Diskriminierungsverbote) und insbesondere die höchstgerichtliche Verfassungsrechtsprechung dazu. Der zweite Teil wird durch eine vertiefte Analyse des sensiblen Verhältnisses zwischen verfassungsrechtlicher Gleichheitsrechsprechung und Gleichheitsgesetzgebung über den Weg des politischen Prozesses abgeschlossen. Im dritten Teil werden die Spannungsfelder verfassungsrechtlicher Gleichheitsprüfung, wie sie im zweiten Teil sichtbar geworden sind, aufgegriffen und einer vertieften Analyse unterzogen. Im vierten, gemeinschaftsrechtlichen Teil der Studie sucht der Autor anhand des Primärrechts und insbesondere der Rechtsprechung systematisch nach einer gemeinschaftsrechtlichen Gleichheitsdogmatik. Bei der systematischen Entfaltung der Gleichheitsprüfung werden insbesondere die Prüfschritte der Vergleichbarkeit, der Ungleichbehandlung und der Rechtfertigung der Ungleichbehandlung bearbeitet. Hierzu bildet die europäische Grundrechtstrias "Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit" den Ausgangspunkt. Darauf aufbauend werden im wohl wichtigsten Kapitel des Buches (S. 376 - 535) die drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes dargestellt: Menschenwürde und Gleichheit, Freiheit und Gleichheit, Komplexe Gleichheit. Die Arbeit wird mit grundsätzlichen Überlegungen zur virulenter werdenden Frage abgeschlossen, welche Gleichheitsansprüche die Unionsbürgerschaft mit sich bringt und künftig bringen wird.
Die Relativität der Gleichheit im historischen Kontext
Das Buch von Sven Mirko Damm erweist sich in verschiedenster Hinsicht als eigentliche Fund- oder Schatzgrube für historisch interessierte Lesende. Anhand ausgewählter Rechtsprechung in allen untersuchten Teilrechtsordnungen - Deutschland, USA und EU - zeigt der Autor auf, wie relativ und abhängig von gesellschaftlichen, politischen und auch wirtschaftlichen Rahmenbedingungen Gleichheitsansprüche vom Recht gewährt oder ignoriert werden.
Äussert eindrücklich lässt sich dies am Beispiel der amerikanischen Entwicklung des Gleichheitsrechts und der Umgang mit diesem durch die Rechtsprechung darstellen. So mag aus heutiger Sicht erstaunen, dass ein grundrechtlicher Gleichheitsanspruch bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht zu den verfassungsrechtlich verbürgten Garantien der Vereinigten Staaten gehörte. Auf dem Hintergrund der insbesondere in den Südstaaten verbreiteten Sklaverei lässt sich allerdings der Widerstand gegen verfassungsrechtliche Gleichheitsansprüche erklären (S. 82). Im ersten wegweisenden Entscheid des US Supreme Court Prigg v. Pennsylvania (1842) erklärte der Gerichtshof, es sei zulässig, dass von ihren Eigentümern in eine freie Staaten geflohene Sklaven durch sogenannte "slave catchers" gefangen und ihren "Eigentümern" zurückgebracht werden durften. Ein einzelstaatliches Gesetz, dass solch "Skavenfangen" verboten hatte, wurde als mit der US-Verfassung unvereinbar erklärt. Der Supreme Court liess keine Zweifel an der Verfassungsmässigkeit der Sklaverei und der prinzipiellen Ungleichheit der Menschen erkennen (S. 87). Im Entscheid Dred Scott v. Sandfod (1857) legte der Gerichtshof das Wort "Citizen" so aus, dass Schwarze als Nichtbürger nicht unter dem Schutz der Verfassung stehen könnten. Sven Mirko Damm zitiert (S. 88) aus der Entscheidung: "(the negro) were considered as a subordinate and inferior class ob being, who had been subjugated by the dominant raceÓ. Schwarze hätten demzufolge keinen Status als Bürger.
Wohl auch als Folge der Kritik an der Scott-Entscheidung und dem sich auch an der Frage der Sklaven entfachten Bürgerkrieges (1861-1865) nahm die amerikanische Verfassung den Gleichheitsgedanken 1868 ausdrücklich in die Verfassung auf (equal protection-Klausel im 14. Amendment). Allerdings verpflichtete diese Bestimmung vorerst nur die Einzelstaaten. Auch war anfänglich "nur" die schwarze Bevölkerung geschützt, nicht aber andere Einwanderer oder Minderheiten. Erst durch die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes entwickelte sich die equal-protection-Klausel zu einem umfassenden Gleichheitssatz (S. 92).
Ähnlich spannend liest sich die Entwicklung der Gleichheitsidee bzw. deren rechtliche Umsetzung in der Verfassung in Deutschland. Der Autor setzt sich hier mit der Bedeutung des Gleichheitsgedankens in Naturrecht, Aufklärung und Französischer Revolution auseinander und führt die Lesenden anschliessend durch eine bewegte "Gleichheitsreise" vom Allgemeinen Preussischen Landsrecht von 1794 über die Revolution von 1848 zu den Gleichheitsgeboten in der Weimarer Reichverfassung von 1919 zur Pervertierung der Gleichheitsvorstellungen im NS-Regime bis zur Aufnahme von Gleichheitssätzen im Grundgesetz. Bedauerlicherweise ignoriert der Autor hier allerdings die verfassungsrechtliche Gleichheitskonzeption der DDR. Im Nationalsozialismus wurde der Gleichheitssatz auf der Grundlage der nationalsozialistischen Rassenlehre instrumentalisiert. Gleichheit wurde als "Artgleichheit" verstanden und daraus die grundsätzliche wesensmässige Unterscheidung des Artgleichen und des Artfremden abgeleitet. Juden hatten hier als "artfremde" Elemente eine "differenzielle Behandlung" zu erfahren (S. 68).
Wege zur Gleichheit durch Ungleichbehandlung
Rechtliche Gleichheit führt nicht per se zu faktischer Gleichheit. Die besondere Förderung bislang vernachlässigter Gruppen führt zur Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit so genannter positiver Diskriminierung oder "affirmative action" oder anderen Formen der Privilegierung. Das grundsätzliche rechtliche Problem solcher Konzepte besteht im Reflex von ein Gruppe von personen privilegierenden Massnahmen auf die Gruppe derjenigen, die nicht in den Genuss der Sonderförderung kommen: Aus der Perspektive der nicht Geförderten liegt dann eine Ungleichbehandlung vor, die verfassungsrechtlichen Kriterien Stand halten muss.
Sven Mirko Damm beleuchtet diesen Problemkreis am Beispiel der Frauenförderung vor dem Hintergrund der Art. 3 Abs. 2 und 3 des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes EuGH. Quotenregelungen sind sowohl nach Grundgesetz wie nach der europarechtlichen Rechtslage nur unter restriktiven Voraussetzungen zulässig. Insbesondere starre Quoten verstossen gegen die Gleichbehandlungsgebote während Frauenquoten mit Oeffnungsklauseln für Männer vom EuGH als zulässig erachtet werden (S. 217). Den amerikanischen Umgang mit affirmative action Regelungen zur besonderen Förderung bisher gesellschaftlich diskriminierter Gruppen wird in der Studie von Sven Mirko Damm anhand wegweisender Entscheide des Supreme Courts dargestellt (S. 218 ff.). Ausgangspunkt bildet die Entscheidung Regents ot the University of California v. Bakke (1978). Streitgegenstand bildete eine Zulassungsregelung zum Medizinstudium, die im Ergebnis weisse Bewerber/innen benachteiligte. Die Klage des Kandidaten Bakke, der an den Eintrittsprüfungen im Vergleich zu den Quoten-Studierenden (Schwarze, Mexikaner, Asiaten, Indianer) besser abgeschnitten hatte, wurde mit fünf zu vier Stimmen gutgeheissen. Die Mehrheit der Richter anerkannte zwar das zwingende öffentliche Interesse an einer gemischten Zusammensetzung der Studierenden ("interest of diversity), befand aber, es würden bessere und verfassungsrechtliche zulässige Methoden geben, die gemischte Zusammensetzung der Studentenschaft zu fördern. In der Entscheidung Fullilove v. Klutznick (1980) wurde hingegen die Rechtsmässigkeit einer Massnahme der Affirmative Action mit sechs zu drei Richterstimmen gebilligt. In Frage stand ein Bundesgesetz, das mindestens 10 Prozent des Auftragsvolumens öffentlicher Bauaufträge an Minderheitsgruppen vorsah. Anhand der Darstellung weiterer Fälle bis zur Gegenwart zeigt der Autor auf, wie der Supreme Court die Hürde für die Zulässigkeit besonderer Förderung für Minderheiten immer höher schraubt (S. 237).
Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit
Sehr ausführlich (S. 379 - 534) und fundiert arbeitet Sven Mirko Damm drei Dimensionen grundrechtlichen Gleichheitsschutzes in Europa heraus. Elementarste Dimension und Ausgangspunkt der Gleichheitsfrage bildet die Menschenwürde. Die Frage nach einer Definition menschlicher Würde folgt dieser simplen Feststellung auf dem Fuss. Der Autor wendet sich gegen Definitionen der Menschenwürde, die diese erst nach eigener Leistung anerkennen wollen, er schreibt: "Dabei verfehlen leistungsbezogene Würdekonzeptionen den elementaren Gehalt des Grundrechts allerdings insoweit, als damit gerade jenen besonders schutzbedürftigen Menschen die Achtung ihrer Menschenwürde versagt zu werden droht, die zu der geforderten Leistung ausserstande sind." (S. 381). Der Mensch habe vielmehr einen ursprünglichen Eigenwert. Im Zentrum der Menschenwürde steht für den Autor wie für viele andere auch die Autonomie und Personalität des Menschen. Der enge Bezug der Gleichheit zur Menschenwürde und zur Person führt zur einer "Gleichheit jedes Menschen in Personalität und Würde" (S. 385). Der Anspruch auf gleiche Würde und Freiheit wird als Basisrecht und der europäischen Kultur eigen formuliert (S. 385). Ausgehend von diesem grundsätzlichen Anspruch auf gleiche Würde und Freiheit verfeinert der Autor bereits bestehende Konzepte über beeinflussbare und unbeeinflussbare Persönlichkeitsmerkmale: Diese Unterscheidung ist für die Frage zentral, unter welchen Voraussetzungen Ungleichbehandlungen zulässig sind. Das Konzept des Autors setzt beim Grundsatz der persönlichen Verantwortlichkeit an und stellt die Willensfreiheit und Kontrollfähigkeit als deren Kernbestandteile dar. Weiter differenziert er zwischen individuell gänzlich unbeeinflussbaren Merkmalen wie (Abstammung, Geburt, Geschlecht, Behinderung, Alter, Rasse, wobei der Autor hier richtig darauf hinweist, dass Rasse ein soziales Konstrukt darstellt, nationale oder ethnische Herkunft, Muttersprache), individuell schwer beeinflussbaren Merkmalen (Konfessionszugehörigkeit, religiöse oder politische Anschauungen) und individuelle beeinflussbaren Merkmalen (hier nennt der Autor die "gute Führung" von Strafgefangenen). Eine an ein unveränderbares Merkmal anknüpfende staatliche Ungleichbehandlung ist strengsten Rechtfertigungsanforderungen ausgesetzt. Während für nur schwer veränderbare Merkmale noch immer ein strenger Massstab gilt, sind die Rechtfertigungshürden für individuell beeinflussbare Faktoren weniger hoch (S. 396-408).
Fazit
Es liegt eine überaus überzeugende Arbeit vor. Gerade der historische Zugang stellt eine besondere Qualität der Studie dar. Zustimmung finden auf diesem Hintergrund auch das wohl wichtigste Ergebnis des Autors: Ungleichbehandlungen gegenüber Personen mit aufgrund des historisch-sozialen Hintergrundes besonderen Gefährdungslagen. erforden gleichheitsrechtlich eine erhöhte Schutzintensität.
Rezension von
Prof. Dr. Kurt Pärli
Forschungsleiter Institut für Wirtschaftsrecht
Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW, School of Management and Law
Website
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