Peter Cloos, Werner Thole (Hrsg.): Ethnografische Zugänge. Professions- und adressatInnenbezogene Forschung im Kontext von Pädagogik
Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 11.11.2007
Peter Cloos, Werner Thole (Hrsg.): Ethnografische Zugänge. Professions- und adressatInnenbezogene Forschung im Kontext von Pädagogik. VS Verlag für Sozialwissenschaften (Wiesbaden) 2006. 258 Seiten. ISBN 978-3-531-15013-0. 29,90 EUR.
Anliegen und Kontext
Nachdem in den letzten Jahren die Bedeutung "weicher" Einflussfaktoren wie etwa kultureller oder milieuspezifischer sozialer Repräsentationen und Deutungsmuster für soziales Handeln und strukturelle Bedingungen in Pädagogik und Sozialer Arbeit erkannt wurden, sind auf der Suche nach geeigneten Methoden für die (sozial-)pädagogische Forschung neben biografischen Ansätzen auch ethnografische Zugänge erprobt und weiter entwickelt worden. "... Die Ethnografie wird inzwischen als eine der prädestiniertesten Forschungsstrategien zur Untersuchung von kulturellen und sozialen Praktiken, Handlungsmodalitäten und deren institutionell strukturellen Rahmungen angesehen."(9) Die in der Ethnologie angewendeten Methoden der teilnehmenden Beobachtung und interpretativen Deutung der beobachteten Vorgänge fanden zunächst nur zögerlich Eingang in Pädagogik und Soziale Arbeit, weil ein beobachtender Zugang zum Feld immer auch Einfluss auf die dort stattfindenden Interaktionen hat und das Feld selbst verändert. Ethnografie fand ihre Akzeptanz daher zunächst nicht als Methode empirischer Forschung, sondern als eine um Verstehen bemühte Haltung. Inzwischen "... haben sich die methodischen und methodologischen Vergewisserungen und die damit verbundenen Forschungsstrategien ... deutlich ausgeweitet und profiliert." (10) Die Verknüpfung mit biografischen Methoden und die Entwicklung dialogischer Modelle haben Ethnografie mittlerweile zu einem akzeptierten und immer häufiger eingesetzten Forschungsansatz auch im Feld Sozialer Arbeit gemacht, wenngleich unter diesem Etikett sehr heterogene Ansätze und Zugänge zusammengefasst werden.
Der vorliegende Sammelband dokumentiert diese Vielfalt.
Die einzelnen Beiträge sind in den letzten Jahren aus Arbeitszusammenhängen der Universität Kassel hervor gegangen. Sie geben einen (ersten) Überblick über die Vielfalt der ethnografischen Zugänge, der Verknüpfung mit anderen (vor allem biografischen) Forschungsmethoden und der spezifischen Einsichten und Erträge dieses Ansatzes.
Aufbau
Der vorliegende Band enthält neben der Einleitung insgesamt 14 Beiträge, die den drei großen Abschnitten
- Studien zu Profession und Organisation
- AdressatInnen im Blick der Forschung
- Forschungspraktische und methodische Fragen
zugeordnet sind.
1 Studien zu Profession und Organisation
Der Abschnitt "Studien zur Profession und Organisation umfasst fünf Beiträge, von denen sich drei mit der Institution Schule beschäftigen.
- Davina Höblich untersucht in ihrem Beitrag "Pädagogische Deutungsmuster in der Lehrer-Schüler-Beziehung - ein konstruktives Misstrauensvotum?" die "unterrichtlichen Aushandlungsprozesse in Bezug auf Sinn und Bedeutung in LehrerInnen-SchülerInnen-Interaktionen und Deutung durch die schulischen AkteurInnen. Der Beitrag stellt sich die Frage nach der Entstehung und Aufrechterhaltung pädagogischer Arbeitsbündnisse ..." (19) Die Verfasserin dokumentiert die Interaktionen im Unterricht und bezieht im Rahmen einer anschließenden Triangulation die unterschiedlichen Perspektiven der Akteure aufeinander. So "können die Verschränkungen von professionellen Deutungsmustern und Präskripten der Lehrerin in ihren Auswirkungen auf die Unterrichtssituation verstehend nachvollzogen werden."(31)
- Der Beitrag "Lernen am schulischen Fall" von Friederike Heinzel untersucht die Arbeit einer Gruppe von Studentinnen an einer unterrichtlichen Situation und rekonstruiert und reflektiert deren Auseinandersetzung mit dem Lehrgegenstand. Die Autorin plädiert vor dem Hintergrund ihrer Ergebnisse dafür, mit solchen Fallrekonstruktionen im Rahmen der Lehrerbildung eine "Sensibilisierung für die Komplexität schulischer Interaktionsprozesse" zu fördern.
- Stärker biografisch ist der Beitrag von Melanie Fabl-Lamia über "Biografische Professionsforschung im Kontext der Schule". Sie geht davon aus, "dass Professionalisierungsprozesse und die Herausbildung professioneller Qrientierungs-, Deutungs- und Handlungsmuster nicht unabhängig von ihrer biografischen Genese verstanden und erklärt werden können." (50) und skizziert das methodische Vorgehen und den Ertrag eines solchen Zugangs anhand der Biografien ostdeutscher Lehrerinnen.
- Die Offene Kinder- und Jugendarbeit ist Gegenstand des Beitrags von Peter Cloos und Stefan Köngeter. Sie untersuchen mit (ethnografischer) teilnehmender Beobachtung die "Eintritte ins Jugendhaus", also die Übergänge zwischen öffentlichem Raum und pädagogischer Institution. Sie konstatieren, "dass mit dem Eintritt in das Jugendhaus eine Grenze überschritten wird, die eine Differenz sowohl zur von Erwachsenen bestimmten Umwelt als auch zu anderen jugendkulturellen Orten markiert. Diese vordergründig räumlich-materielle Grenze erweist sich bei näherer Analyse als eine soziale Differenz, auf die der Begriff der sozialpädagogischen Arena verweist."(83) Methodisch heben sie hervor, dass der ethnografische Zugang zu diesem Feld ermöglicht, nicht "nur die Einschätzungen und die Deutungen zum Handeln, sondern auch das Handeln (...) selbst in den Blick zu nehmen." (67)
- Dem zivilgesellschaftlichen Engagement widmet sich der letzte Beitrag dieses Abschnittes von Kirsten Aner. Sie stellt ein ethnografisches Forschungsdesign vor, das der Frage nachgeht, "wie unter Bedingungen befriedigender Lebenslagen zivilgesellschaftliches Engagement entsteht" (88)
2 AdressatInnen im Blick der Forschung
Die Beiträge im zweiten Abschnitt des vorliegenden Buches richten ihren Fokus auf die AdressatInnen pädagogischer und sozialer Arbeit.
- Holger Schoneville rekonstruiert die (Be-)Deutung der Kinder- und Jugendarbeit aus der Sicht ihrer AdressatInnen. Weil deren Blick auf die Kinder- und Jugendarbeit in bislang vorliegenden Studien in der Regel zu kurz kommt, ist aus seiner Sicht ein ethnografisch-verstehender Zugang zu den Sichtweisen und Deutungen der NutzerInnen unabdingbar erforderlich, um den Stellenwert und die Rolle der Offenen Kinder- und Jugendarbeit für die Besucherinnen und Besucher zu erschließen. Die Ergebnisse qualitativer Interviews mit den AdressatInnen und teilnehmender Beobachtung in der Einrichtung werden von ihm zu einer "Typologie" verdichtet, die aussagekräftig und pointiert vorfindbare Deutungen zusammenfasst.
- Der Beitrag von Irene Fiechtner-Stotz und Maren Bracker zu "Lebenswelten minderjähriger Mütter" liefert anhand exemplarischer Fallanalysen interessante und weiterführende Einblicke in die individuellen und kollektiven Deutungs- und Verarbeitungsmuster junger allein erziehender Mütter, die wesentlich im Rahmen narrativer Interviews gewonnen wurden. Der gewählte biografieanalytische Ansatz ist dem Forschungsgegenstand und der Fragestellung angemessen und erweist sich als außerordentlich ergiebig, spezifisch ethnografische Zugänge sind allerdings nicht erkennbar.
- Sarina Nicole Fuest geht in ihrem Beitrag "Zur Ätiologie von Adipositas im Leben traumatisierter Frauen" der Frage nach "inwieweit Traumatisierungen in der Kindheit mögliche Ursache einer adipösen Essstörung im Erwachsenenalter sein können." (139) Der vor ihr gewählten Methode qualitativer Interviews wurde ein Feldaufenthalt zur Herstellung einer vertraulichen Arbeitsbeziehung vorangestellt. Dieser "ethnografische Zugang dienste hier folglich nur eingeschränkt dazu, durch Teilnehmende Beobachtung zu rekonstruierende Daten zu sammeln." (142 f) Die zu biografischen Einzelfalldarstellungen verdichteten Aussagen unterzieht die Verfasserin einer vergleichenden Analyse und leitet daraus generalisierbare Aussagen über mögliche Ursachen von Adipositas ab.
- "Zur kommunikativen Herstellung von Identität und Moral" heißt der Beitrag von Martina Goblirsch. Sie untersucht "... die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen aufeinander bezogen als Personen her- und darstellen"(159) anhand einer Gesprächssequenz. Ihre ethnografische Rekonstruktion des dokumentierten Gesprächsausschnitts führt zu dem Schluss, , dass "... Moral keine abstrakte statische Größe (ist), sondern ein Verständnis von der Welt, eine Konstruktion, die im Gespräch selbst geschaffen, verfestigt und damit auch gleichzeitig ständig verändert wird." (165 f)
3 Forschungspraktische und methodische Fragen
Die Beiträge des letzten Abschnittes schließlich widmen sich verschiedenen methodischen oder methodologischen Einzelaspekten ethnografisch orientierter Forschung.
- So entwickelt Jutta Wiesemann unter der Überschrift "Die Sichtbarkeit des Lernens" für die empirische Analyse schulischen Lernens in Abgrenzung zu individualzentrierten Zugängen ein "Verständnis von Lernen als situierte Praxis" und fasst damit Lernen als einen beobachtbaren und damit ethnografisch zugänglichen Prozess auf.
- Peter Cloos beschäftigt sich in seinem Aufsatz "Beruflicher Habitus" mit der Methodologie und den ethnografischen Zugängen zur Erforschung des spezifischen professionellen Habitus von Akteuren in der Sozialen Arbeit. Er stellt den "kontrastiven Vergleich beruflich-habitueller Profile in verschiedenen Arbeitsfeldern" (191) in den Mittelpunkt seiner Überlegungen und entwickelt darauf bezogen ein empirisches Modell zur Unterscheidung beruflich-habitueller Profile.
- "Biografie und Sprache" hat Heidrun Schulze ihren Beitrag genannt, der sich mit der Rolle von Sprache in der biografieorientierten Arbeit in transkulturellem Kontext beschäftigt.
- Der Beitrag "Geschichte(n) (de)konstruieren - Geschichte rekonstruieren" von Ulrike Loch verweist darauf, dass die (Re-)Konstruktion von individuellen Biografien nicht nur abhängig ist vom jeweiligen aktuellen gesellschaftlichen und historischen Kontext, sondern dieser auch zusätzliche Aspekte der Rekonstruktion erschließt. "Biografische Fallrekonstruktion als Auswertungsmethode ermöglicht durch ihre analytische Unterscheidung zwischen der Präsentation (thematische Feldanalyse) und des erlebten Lebens (Rekonstruktion der Fallgeschichte), die Verflechtungen zwischen Erzählungen und diesen zugrunde liegenden Erlebnissen empirisch zu fassen."(220)
- Das im letzten Beitrag unter der Überschrift "Feldeintritte" dokumentierte Gespräch reflektiert vor dem Hintergrund praktischer Felderfahrungen die Ambivalenzen und Unsicherheiten des Zugangs zu dem zu beforschenden Feld. "Als Fremde/r bewegt man sich auf unsicherem Terrain, weil die Feldregeln nicht vertraut sind, der Grad an Zugang nicht sichergestellt ist und kaum bekannt ist, was passieren wird." (231) Die Diskutanten beschreiben forschungspraktische Strategien und Schwierigkeiten und machen auf diese Weise die Besonderheiten ethnografischer Forschung deutlich. "EthnografInnen mischen sich in den Alltag ein, um Teil des Alltags zu werden. Es gilt die anfänglich strukturell angelegten verschiedenen Interessen, die Distinktionen, Geschlechterspannungen und die differierenden Kommunikationsstile und Verhaltensweisen auszuhalten und die tendenzielle Geschlossenheit der sozialen Situation "Feldforschung" zu öffnen."(231)
Fazit
"Der vorliegende Band referiert und diskutiert nicht allein Forschungsergebnisse, sondern reflektiert vor dem Hintergrund und entlang der gewonnenen Erkenntnisse insbesondere auch forschungsmethodische und methodologische Fragestellungen" schreiben die Herausgeber in ihrer Einleitung. Tatsächlich geben die in diesem Band versammelten Aufsätze neben außerordentlich interessanten Ergebnissen zum jeweiligen Gegenstandsbereich der beschriebenen Projekte einen anschaulichen Einblick in die Vielfalt methodischer Zugänge rekonstruktiver Forschung. Die Diskussion methodischer und methodologischer Aspekte geschieht jedoch eher beiläufig und ausschließlich aus dem (selbst-)gewählten Kontext der jeweiligen Projekte heraus. Ein abschließendes, zusammenfassendes Kapitel der Herausgeber hätte hier die zentralen Fragen (und mögliche Antworten und Strategien) noch einmal ordnen und gewichten können, um den Eindruck einer (projektabhängigen) Beliebigkeit zu relativieren.
Dennoch kommt dem vorliegenden Band das große Verdienst zu, ein breites Spektrum rekonstruktiver Sozialforschung in Feldern der Pädagogik und Sozialen Arbeit zu dokumentieren und vielfältige Anregungen für weitere Zugänge zu liefern. Für den weiteren Diskurs um Ethnografie als Methode - in Abgrenzung zur eingangs erwähnten Ethnografie als Haltung - müssten allerdings Abgrenzungen bzw. Übergänge zur Biografieforschung, Aktionsforschung und (schlichten) Teilnehmenden Beobachtung künftig deutlicher thematisiert werden, um Ethnografie stärker zu konturieren und nicht nur als relativ allgemeine Klammer sehr unterschiedlicher Zugänge zu verstehen.
Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
Website
Mailformular
Es gibt 62 Rezensionen von Willy Klawe.
Zitiervorschlag
Willy Klawe. Rezension vom 11.11.2007 zu:
Peter Cloos, Werner Thole (Hrsg.): Ethnografische Zugänge. Professions- und adressatInnenbezogene Forschung im Kontext von Pädagogik. VS Verlag für Sozialwissenschaften
(Wiesbaden) 2006.
ISBN 978-3-531-15013-0.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4030.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.