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Hans J. Wensierski, Claudia Lübcke (Hrsg.): Junge Muslime in Deutschland

Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 15.05.2008

Cover Hans J. Wensierski, Claudia Lübcke (Hrsg.): Junge Muslime in Deutschland ISBN 978-3-86649-056-7

Hans J. Wensierski, Claudia Lübcke (Hrsg.): Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2007. 360 Seiten. ISBN 978-3-86649-056-7. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.

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Ziel und Anliegen

Angesichts eines von hoher Emotionalität und zugespitzten Reizthemen (Kopftuchverbot, Moschee bauten, Zwangsheirat usw.) bestimmten öffentlichen Diskurses über die Lebenswelten und Zukunftsentwürfe junger muslimischer Migranten der zweiten und dritten Generation erscheint es mehr als verwunderlich, dass "… wir bisher noch wenig über die biographischen Erfahrungen und Identitätsbildungsprozesse dieser Zielgruppe" wissen. (7) Der vorliegende Sammelband hat sich aus diesem Grunde das Ziel gesetzt, den aktuellen Forschungsstand zur Jugendphase junger Muslime zu dokumentieren, zu diskutieren und auf vorhandene Forschungsdefizite hinzuweisen. "Ziel des Bandes ist es…, die jungen Muslime als selbstverständlichen Teil einer pluralistischen Jugendpopulation in Deutschland zu fassen." (8)

Mit diesem Anspruch setzt sich  der vorliegende Band erfreulich und ambitioniert von wissenschaftlichen Arbeiten ab, deren Perspektive und Fragestellung sich vorrangig an den vordergründigen Dichotomien des öffentlichen Diskurses orientieren und damit Gefahr laufen, diese letztlich nur zu bestätigen. Die Autoren dieses Bandes dagegen postulieren ein pluralistisches Bild jugendspezifischer Lebenslagen: " So unterschiedlich die ethnischen Herkunftskulturen in den islamischen Gesellschaften sind, so unterschiedlich sind auch die muslimischen Alltagskulturen in Deutschland."(9) Und sie vermeiden bewusst, die zentralen Einflussfaktoren für Lebensentwürfe und Deutungsmuster ausschließlich in wie immer gearteten muslimischen Milieus oder sog. "Parallelgesellschaften" zu sehen, sondern beziehen auch  die durch  soziale Lage und die gesellschaftliche Segregation eingeschränkten Handlungs- und Möglichkeitsräume explizit als relevante Einflussgrößen ein.

Aufbau und Entstehungshintergrund

Dieser Vielfalt der Perspektiven entsprechen die 16 Beiträge dieses Bandes, die in sechs (teilweise missverständlich benannten) Abschnitten präsentiert werden. Neben Sozialstrukturanalysen und einschlägigen Untersuchungen der Jugend- und Migrationsforschung finden sich qualitative biographische oder rekonstruktive Studien und liefern in ihrer Zusammenschau ein außerordentlich komplexes und differenziertes Bild der Lebenswelt junger Muslime. Ein Teil der Beiträge ist im Kontext eines  DFG-Projektes zum gleichen Thema an der Universität Rostock entstanden.

Inhalte

Unter der Rubrik "Grundlagen" referiert zunächst Faruk Şen in seinem Beitrag "Islam in Deutschland. Religion und Religiosität junger Muslime aus türkischen Zuwandererfamilien" die Entwicklung religiöser Einstellungen und Alltagspraktiken seit dem Jahre 2000. Er stellt einerseits einen Zuwachs religiöser Orientierungen in diesem Zeitraum fest, belegt aber auch die Abnahme von Religiosität mit zunehmender Aufenthaltsdauer. Trotz der mehr als vierzigjährigen Anwesenheitvon Muslimen in Deutschland ist deren Religion – auch nach Einschätzung der Muslime selbst – der Mehrheitsgesellschaft fremd geblieben und hat nach dem 11.September 2001 eher noch eine Dämonisierung erfahren. Şen weist darauf hin, dass "der Grad der Religiosität … nicht unbedingt etwas über die religiösen Einstellungen und insbesondere über fundamentalistische Haltungen aus (sagt), auch die Anbindung an religiöse Organisationen muss nicht unbedingt die persönliche Einstellung der Muslime widerspiegeln." (27) Sein Fazit lautet daher auch, dass aus dem Anstieg der Religiosität nicht eine wachsender Fundamentalismus abzuleiten ist, sondern vielmehr deren kulturell-identitätsstiftender Funktion gesehen werden muss.

Der zweite Beitrag in diesem Abschnitt "Sozialstruktur und Lebenslagen junger Muslime in Deutschland" (Susanne von Below/Ercan Karakoyun) liefert einen Überblick über demografische Entwicklungen, Wohnverhältnisse, Bildungsstrukturen und Arbeitsmarkt sowie Einbürgerung. Die Autoren stellen fest, dass türkische Muslime geringere Bildungschancen haben, deutlich geringer qualifiziert sind und in ihrer sozialen Lage stärker benachteiligt sind, als gleichaltrige Deutsche oder Italiener. "Allerdings lässt sich feststellen, dass die hier dargestellten jüngeren türkischen Muslime in Bezug auf einige der hier untersuchten Merkmale…den Deutschen ähnlicher sind als Muslime in Deutschland insgesamt. Insofern lässt sich doch eine zunehmende Integration von türkischen Muslimen feststellen. Diese ließe sich sicherlich deutlich verbessern, wen türkische Muslime bessere Chancen in der Schule hätten." (53)

In seinem Beitrag "Die islamisch-selektive Modernisierung – Zur Struktur der Jugendphase junger Muslime in Deutschland" untersucht Hans-Jürgen von Wensierski "…inwieweit die sozialstrukturellen Lebenslagen, aber auch die kulturellen Spezifika und die Traditionen der muslimischen Herkunftsmilieus die Jugendphase junger Muslime strukturieren." (55) Er fasst seine Ergebnisse als "islamisch-selektives Bildungsmoratorium" zusammen: "…die soziale Struktur einer Jugendphase, in der die Sozialisationsprozesse und Statuspassagen des Jugendalters gekennzeichnet sind von tendenziell verlängerten Bildungsphasen, von der Gestaltung individualisierter berufsbiographischer Lebensentwürfe sowie der Teilhabe an kommerzialisierten und mediatisierten Alltagkulturen. Demgegenüber bleiben diese modernisierten Jugendbiographien im Kontext muslimischer Milieus in ihren adoleszenten Verselbständigungsprozessen, in der Struktur der Geschlechterbeziehungen, in der Sexualoral sowie in der Ausbildung geschlechtlicher und familialer Beziehungsformen in hohem Maße den tendenziell traditionellen Konventionen, Normen und werten der muslimischen Milieus verbunden…Es ist gewissermaßen eine um die individualisierte, pluralisierte und geschlechteregalitäre Familienbiographie halbierte Modernisierung." (76)

Der zweite Abschnitt des Buches ist in "Orientierungen junger Muslime" gewidmet. Wolfgang Nieke stellt in seinem Beitrag "Kulturelle und ethnische Identitäten" als Sonderfälle einer kollektiven Identität dar, die – neben anderen Identitätsfacetten – eine wichtige Orientierungsfunktion in Akkulturationsprozessen hat. Er unterscheidet drei Reaktionsformen auf den Akkulturationsdruck der Mehrheitsgesellschaft: das Festhalten oder gar die Verstärkung bisheriger Orientierungen (Restitution), eine prozessuale Veränderung bisheriger Orientierungen unter dem Eindruck der neuen Umgebung mit dem Ziel der Anpassung an die Mehrheitskultur (Transformation) sowie – als dritte Reaktion – die Herstellung einer neuen kollektiven Identität (Variation). Angesichts des zunehmenden Anpassungsdrucks der Mehrheitsgesellschaft resümiert der Autor:  "Vermutlich wird die angemessene Lösung nicht in einer einfachen Entscheidung für die eine oder die andere Position bestehen können, sondern nur in dem Versuch, die Betroffenen auf ihrem Wege der reflexiven Selbstklärung zu begleiten und mit informierender Begleitung über Hintergründe und Folgen zu unterstützen." (98)

Im zweiten Beitrag dieses Abschnittes belegt Dirk Halm einen Zusammenhang zwischen Freizeitverhalten, Mediennutzung und kultureller Orientierung türkischstämmiger Jugendlicher. "Ein fortschreitender Akkulturationsprozessgeht mit der verstärkten Inanspruchnahme auch von Medien- und Freizeitangeboten einher – allerdings nicht nur von deutschen. Die Herausbildung bikultureller Orientierungen ist offenbar begleitet durch eine größere Kommunikationsfähigkeit und kulturelle Anschlussfähigkeit, die wahlweise in unterschiedlichen kulturellen Kontexten …eingesetzt werden kann. Akkulturation muss als nicht in einer deutschen Identität münden – vielmehr bilden sich deutsch-türkische Mischidentitäten heraus, die mehr oder weniger brüchig sein können." (110f)

Ein weiterer Abschnitt widmet sich der "Religion und Religiosität in der Lebenswelt junger Muslime". Ursula Boos-Nünning untersucht in ihrem Beitrag  die "Religosität junger Musliminnen im Einwandererkontext". Sie referiert zunächst einschlägige Untersuchungen zur Thematik und geht dann auf Ergebnisse einer eigenen Untersuchung ein, die sie – für die aktuellen Diskussionen interessant – auf die "Kopftuchdebatte" bezieht. Sie legt überzeugend dar, dass die landläufig vorgebrachten Annahmen über die Motive junger Frauen, ein Kopftuch zu tragen, wie auch über eine vermeintliche "Islamisierung" in dieser undifferenzierten Form nicht zutreffen.

Dieser Befund wird eindrucksvoll weiter ausgeführt in dem nachfolgenden Beitrag von Sigrid Nöckel über "Neo-Muslimas", junge Frauen also, die "relativ unabhängig von der religiösen Einstellung des Elternhauses oder in Abgrenzung dazu, eigene Lebensentwürfe entwickelt haben, die in bewusster Weise den Islam integrieren und sich zugleich als deutsche Staatsbürger begreifen." (135) Sie konstatiert bei dieser Gruppe  "die Inbesitznahme eines liberal ausgelegten Islams, der vor Assimilation und massiven Identitätsbrüchen schützt…, aber zugleich Brücken zum Imaginationsraum der als säkular definierten Moderne schafft." (ebd.)

Die Beitrage des nächsten Abschnittes setzen sich mit verschiedenen Aspekten der "Sozialisation und Bildung junger Muslime" auseinander. Yasemin Karakaşoğlu und Halit Öztürk gehen in ihrem Beitrag "Erziehung und Aufwachsen junger Muslime in Deutschland" der Frage nach, in welcher Form in muslimischen Migrantenfamilien islamische Erziehungsideale tatsächlich noch gelebt werden. Dieser Beitrag gibt zugleich einen guten Überblick über vorliegende Studien zu Erziehungsverhalten, Erziehungsidealen und –zielen und liefert damit implizit eine Fülle von Anregungen für die pädagogische Arbeit.

Ein im Zusammenhang mit zentralen Orientierungen im Sozialisationsprozess männlicher junger Muslime in der Öffentlichkeit vordergründig und spekulativ diskutierter Aspekt ist das Konzept von Männlichkeit und Ehre. Birol Mertol liefert in seinem Beitrag "Männlichkeitskonzepte von Jungen mit türkischem Migrationshintergrund" anhand von qualitativen Fallstudien eine differenzierte Rekonstruktion der Männlichkeitsbilder türkisch-muslimischer Jugendlicher und beschreibt das daraus erwachsende männliche Rollenverständnis in der zukünftigen Familie.

Partnerschaft und Geschlechterverhältnisse sind auch Gegenstand des Beitrages "Auf die Liebe kommt es an! – Beziehungsideale und – entscheidungen junger Muslime in Deutschland" von Gaby Straßburger. Die Autorin fokussiert dabei vor allem die von der Mehrheitsgesellschaft abweichenden Aspekte: voreheliche Beziehungen, Partnerwahl und Eheanbahnung. Sie konstatiert "einen Pluralismus in den Konzepten biographischer Lebensführung und den familialen Lebensformen. Dieses Spektrum an Lebensstilen, Beziehungsformen und biographischen Handlungsmustern lässt sich aber kaum mit den üblicherweise verwendeten dichotomen Etikettierungen von "integrationswillig vs. – unwillig" oder "traditionell vs. Modern" angemessen beschreiben" (209)

In dem Beitrag von Wolf-Dietrich Bukow "Junge Muslime in Schule und Bildung"  geht es nicht, wie man zunächst annehmen könnte, um eine Wiederholung der sattsam bekannten und durch die PISA-Folgestudien nur nochmals bestätigten Bildungsnachteile in der Schule. Stattdessen untersucht der Autor unter religionssoziologischer Perspektive, wie eine bewusst muslimische Orientierung in der Institution Schule gelebt wird (werden kann) und welche Anknüpfungspunkte sich ihr biete. Seine Bilanz ist sehr nüchtern und relativiert die vielfältigen Befürchtungen: "Das Ergebnis dieses Diskurses ist die These, dass ein junger Muslim oder eine junge Muslima zu sein bestenfalls eine Teilzeittätigkeit, etwa im Rahmen einer Jugendbewegung ist. In der Regel ist es noch weniger, nämlich nur eine zeitlich, wie räumlich beschränkter, eher flüchtige Verortung, die in kritischen Situationen des Alltagsablaufs zugeschaltet werden mag." (226)

Der Beitrag "Jung Muslime auf dem Weg in eine berufliche Ausbildung – Chancen und Risiken" (Mona Granato/ Jan Skrobanek) geht u.a der Frage nach, "…ob die Konfessionszugehörigkeit der Jugendlichen einen Einfluss auf die Platzierung nach Verlassen der Schule hat." (245) Die Autoren befinden: "Jugendliche mit islamischer Konfessionszugehörigkeit haben gegenüber Jugendlichen anderer Konfessionen geringere Chancen, eine Ausbildung zu realisieren oder weiter zur Schule zu gehen. Entsprechend laufen sie Gefahr…kurz nach Verlassen der Schule in Nichterwerbstätigkeit/Ausbildungslosigkeit zu münden." (ebd.) Grundlage dieses Befundes sind vor allem  die BA/BIBB-Bewerberbefragung 2004 sowie eine Studie des DJI zum Übergang von Hauptschülern in Ausbildung und Arbeit. Die Autoren weisen allerdings darauf hin, dass die Religionszugehörigkeit bislang kein relevanter Parameter der Bildungsstatistik war und daher "Hilfskonstruktionen" (Herkunftsland, Nationalität) genutzt wurden.

Im letzten Beitrag dieses Abschnittes "Zwischen Tabu und Liberalisierung – Zur Sexualität junger Muslime" kommen Franziska Schäfer und Melissa Schwarz auf der Grundlage biografisch-narrativer Interviews zu dem Ergebnis, dass sich die Sexualität junger Muslime im Spannungsfeld der rigiden Sexualmoral der Familien und der freizügigen Sexualkultur in Medien und Jugendkultur bewegt; dabei teilen viele junge Muslime zentrale konservative Einstellungen der Eltern zur Sexualität. Dennoch charakterisiert dieses Spannungsfeld ein strukturelles Dilemma, das mögliche Konfliktlinien zwischen den Generationen beschreibt und für junge Muslime eine besondere sozialisatorische Herausforderung darstellt.

Im nächsten Abschnitt "Lebensentwürfe und Jugendkulturen" werden diese spezifischen Herausforderungen in zwei Beiträgen erweitert und konkretisiert. Claudia Lübcke skizziert unter dem Titel "Jugendkulturen junger Muslime in Deutschland" die spezifische jugendkulturelle Orientierung junger Muslime: mit den westlich orientierten Jugendkulturen identifizieren sie sich – mit Ausnahme des HipHop –nur begrenzt, stattdessen haben sich spezifische ethnische (muslimische) Jugendkulturen entwickelt.

Sehr speziell ist der Gegenstand des Beitrags von Michael Bochow zur "Homosexualität junger Muslime". Homosexualität steht in starkem Widerspruch zu den Konstrukten von Männlichkeit in patriarchalen muslimischen Familien. Damit wird die Enttabuisierung homosexueller Lebensentwürfe immens erschwert wenn nicht gar unmöglich gemacht.

Der letzte Beitrag dieses Bandes schließlich beschreibt und analysiert "Integrationsprobleme, Diskriminierung und soziale Benachteiligung junger türkischstämmiger Muslime". Martina Sauer weist zu Recht darauf hin, dass Integrationsleistungen immer auch entscheidend von der Integrationsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft abhängen und geht den Diskriminierungserfahrungen junger Muslime nach. Ausgehend von Repräsentativbefragungen des Instituts für Türkeistudien legt sie überzeugend dar, dass für die Mehrheit junger (türkischer) Muslime dennoch eine Herausbildung parallelgesellschaftlicher Strukturen nicht nachweisbar ist. Stattdessen resümiert sie: "Das Integrationsproblem in Deutschland, das sich in den letzten Jahren jedoch deutlich verschärft hat, ist die mangelhafte Integration in Schule und Arbeitsleben. Assimilation und Akkulturation schlagen sich…nicht in einer angemessenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Platzierung nieder. Sicher ist dies auch eine Folge der wirtschaftlichen Situation, jedoch auch gepaart mit weiteren, in der Mehrheitsgesellschaft vorhandenen Exklusionsmechanismen, darunter auch Diskriminierung." (340)

Diskussion

Einige kritische Anmerkungen seien erlaubt. Als "junge Muslime" werden in der überwiegenden Mehrzahl der Beiträge vor allem türkischstämmige Jugendliche untersucht. Dort, wo andere Herkunftskulturen (Maghreb, Iran) einbezogen wurden, bleibt unklar, ob die islamischen Herkunftskulturen so einheitlich gestaltet sind, dass auf Differenzierungen verzichtet werden kann. Das ist sicher nicht so. Dies gilt auch im Besonderen für die damit angelegte Vorstellung von einem einheitlichen Islam.

Der Titel des vorliegenden Buches geht davon aus, dass das Label "junge Muslime" eine sinnvolle Kategorie ist, um gemeinsame Lebenswelten und Sozialisationserfahrungen einer Gruppe Jugendlicher zu fassen. Die Herausgeber begründen diese Annahme nachvollziehbar. Allerdings könnte leicht der Verdacht entstehen, die gewählte Kategorie "Religionszugehörigkeit" bilde lediglich den Mainstream der öffentlichen Diskussion ab und reproduziere vorschnelle und unbegründete Zuschreibungen. Zudem verleitet der gewählte Fokus zumindest einige Autoren zu stark kulturalistischen Interpretationen der Lebenswirklichkeit junger Muslime, die eine Dynamik kultureller Orientierungen im Rahmen der Aushandlungs- und Assimilationsprozesse während und als Folge der Migration außer acht lassen. Ungeklärt bleibt dabei auch, ob eine religiöse Identität für Migrantenjugendliche der zweiten und dritten Generation überhaupt ein relevantes oder tatsächlich sogar das zentrale Identitätsmerkmal ist. Angesichts pluraler Identitäten (Amartya Sen) darf dies füglich bezweifelt werden.

Fazit

Der vorliegende Band ist ein  notwendiger und in hohem Maße hilfreicher Beitrag zur Qualifizierung der aktuellen Integrationsdebatte und liefert vielfältiges Material zur Entwicklung angemessener pädagogischer und (sozial-)politischer Strategien. Die Zusammenschau der einzelnen, sehr unterschiedlichen Beiträge bietet ein differenziertes Bild der Lebenswelt junger Muslime, das (hoffentlich) dazu beiträgt, eine spektakuläre Phänomene, die mit Vorliebe in Medien und Talkshows präsentiert werden, nicht als repräsentativ für die Vielfalt der Lebensentwürfe und Lebenswelten junger Muslime zu nehmen. "Anstatt dichotomisierend danach zu fragen, ob sich Migranten an der Herkunfts- oder an der Aufnahmegesellschaft orientieren, ist es empirischen Befunden zufolge längst an der Zeit, ein Integrationskonzept des "sowohl-als auch" zu akzeptieren, demzufolge sich Migranten sowohl in Richtung Herkunfts- als auch in Richtung Aufnahmegesellschaft orientieren können." (197)

Besonders Verdienst der Herausgeber ist es, bei der Auswahl der Beiträge ein breites Spektrum von Themen und Fragestellungen berücksichtigt zu haben. Zudem ist es ihnen gelungen, eine Reihe neuer Autorinnen und Autoren zu gewinnen, so dass der Sammelband nicht wieder einmal nur die "üblichen Verdächtigen" der Migrationsforschung versammelt.

Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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Zitiervorschlag
Willy Klawe. Rezension vom 15.05.2008 zu: Hans J. Wensierski, Claudia Lübcke (Hrsg.): Junge Muslime in Deutschland. Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2007. ISBN 978-3-86649-056-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4031.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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