Cora van der Kooij: [...]Erlebnisorientierte Altenpflege mit Hilfe der Mäeutik
Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 23.06.2007
Cora van der Kooij: Ein Lächeln im Vorübergehen. Erlebnisorientierte Altenpflege mit Hilfe der Mäeutik. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2006. 192 Seiten. ISBN 978-3-456-84379-7. 29,95 EUR. CH: 48,90 sFr.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-456-85135-8 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema
Seit einigen Jahren wird zunehmend auch der Ansatz der "Mäeutik" oder der so genannten "erlebnisorientierten Pflege" in Deutschland bekannt. Hierbei handelt es sich salopp ausgedrückt um eine niederländische Variante der Validation, die von der Krankenschwester und Historikerin Cora van der Kooij propagiert wird. So heißen z. B. die vier Stadien der Desorientierung des Validationsansatzes im Konzept der Mäeutik "Bedrohtes Ich", "Verirrtes Ich", "Verborgenes Ich" und "Versunkenes Ich", sehr ähnlich sind auch die stadienspezifischen Zuordnungen des Verhaltens und der Reaktionen.
Der Ansatz der "Mäeutik" kann den so genannten "personenzentrierten" Modellen zugeordnet werden (u. a. Validation, Modelle nach Kitwood und Erwin Böhm), die augenblicklich in Deutschland noch die Demenzpflege dominieren. Über das Konzept der Mäeutik sind bisher in deutschsprachigen Publikationen nur kürzere Beiträge in Fachzeitschriften oder Tagungsbänden veröffentlicht worden.
Das vorliegende Buch ist eine Übersetzung aus dem Niederländischen ("Een Glimlach in het Voobijgaan" aus dem Jahr 2004).
Es bedarf noch des Hinweises, dass die Autorin in den Niederlanden ein "Institut für mäeutische Entwicklung der Pflegepraxis" (www.imoz.de) leitet, in dem Basis- und Aufbaukurse über das "mäeutische Pflegemodell" veranstaltet werden.
Inhalt
- In den ersten Kapiteln wird in Umrissen das "mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell" dargestellt. Zu den Grundlagen ihrer Konzeption gehört die Einschätzung, dass das Einfühlungsvermögen entwickelt und geschult werden kann (Seite 26). Durch das "mäeutische Pflege- und Betreuungsmodell" wird quasi die "die Quelle des inneren Wissens" im Sinne von Intuition und spontanem Verhalten von "der individuellen auf die kollektive Ebene" gehoben (Seite 33). Schulung und Reflexion ("Erlebnisorientiertes Fachwissen und Umgangsfertigkeiten") sind somit die Zugangs- und Vermittlungswege, um das Konstrukt "getrennte Erlebenswelten" ("Erlebniswelt des Bewohners" und "Erlebniswelt des Betreuers") in einen Kontext des Kontaktes verbinden und vermitteln zu können.
- Des Weiteren werden der "mäeutische Pflegeprozess" und die "mäeutischen Instrumente" (u. a. Beobachtungsbogen, Biografie, Pflegeplanung, "erlebnisorientierte Bewohnerbesprechung" und "interdisziplinäre Beratung") beschrieben. Hierbei wird u. a. auch auf eine "Bedürfnispyramide" in Anlehnung an Maslow aufgebaut. Im Anschluss hieran formuliert die Autorin ihre Erwartungen an Pflegende im Rahmen ihrer "erlebnisorientierten Pflege" (u. a. Zuwendung, Selbstlosigkeit, Authentizität oder Echtheit), geht auf das Zusammenwirken von Berufs- und Privatleben ein und beschreibt die Spannungsfelder und Strategien am Arbeitsplatz (u. a. Nähe und Distanz, Kreativität, Kompetenz). Als Referenzrahmen dient hierbei die aus der so genannten "humanistischen Psychologie" vertraute bipolare Begrifflichkeit von "Wachsen und Stagnieren".
- In den folgenden Kapiteln befasst sich Cora van der Kooij mit den sechs Schritten des "empathischen Suchprozesses", wobei u. a. die in den Heimen praktizierten Ablenkungs- und Beruhigungsstrategien (u. a. "Mitgehen und Mitmachen") angeführt werden. Und es werden Umgangsfertigkeiten wie "einladend zuhören" und nonverbaler Kontakt (u. a. Berührungen und Blickkontakt) beschrieben, die stark an die Validationstechniken von Naomi Feil erinnern.
- Im abschließenden Kapitel erörtert die Autorin die verschiedenen Vorgehensweisen zur Einführung ihres mäeutischen Pflegemodells in den Einrichtungen.
Diskussion
Der Rezensent ist nach der Lektüre äußerst überrascht über den Sachverhalt, dass die "Begründerin der Mäeutik" in ihren Ausführungen an keiner Stelle explizit ihr Konstrukt der verschiedenen "Ichs" ("bedroht", "verirrt", "verborgen" und "versunken") der Demenzkranken theoretisch, therapeutisch und methodisch ableitet und expliziert. Ohne dieses Grundkonzept oder Herzstück verdünnt sich der Ansatz der "Mäeutik" in eine bloße Aneinanderreihung von bereits bekannten und vertrauten Vorgehensweisen, Erfassungsstrategien (Pflegeplanung, Pflegeprozess etc.) und normativen und zusammengestückelten Erwartungshaltungen und Vorgaben. Ihre Erläuterungen über die so genannten "getrennten Lebenswelten", die "Empathie", "Intuition" und "Reflexion" sind überwiegend Ausdruck der Wissensstände aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, die mittlerweile durch die neurobiologische und neuropsychologische Forschung widerlegt worden sind.
Fazit
Es kann das Fazit gezogen werden, dass die "Mäeutik" für die Pflege und Betreuung Demenzkranker keine neuen Impulse und Wege anzubieten vermag. So wie die anderen "personenzentrierten" Ansätze der Demenzpflege verbleibt auch dieser Ansatz in dem selbst konstruierten Rahmen der Eigenweltlichkeit ("bedrohtes Ich" etc.) und verschließt sich somit jedweder empirischen Überprüfbarkeit hinsichtlich Effektivität und Effizienz seines Wirkens.
Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 23.06.2007 zu:
Cora van der Kooij: Ein Lächeln im Vorübergehen. Erlebnisorientierte Altenpflege mit Hilfe der Mäeutik. Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2006.
ISBN 978-3-456-84379-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4032.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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