Dorothea Meudt: Sexualität in der Pflege alter Menschen ( Ausbildungsmodul)
Rezensiert von Federico Harden, 30.08.2008

Dorothea Meudt: Sexualität in der Pflege alter Menschen - Ein Ausbildungsmodul für die Altenpflege.
Kuratorium Deutsche Altershilfe
(Köln) 2006.
112 Seiten.
ISBN 978-3-935299-87-9.
18,50 EUR.
Reihe: thema, Band 202
Thema
Pflegekräfte haben zum Thema „Sexualität in der Altenpflege“ für die Praxis vielfach nicht ausreichende Kenntnisse erworben: Tabus, eigene biographische Filter, Mängel in der täglichen Reflexion, usw. können Barrieren für kompetentes Handeln vor Ort darstellen.
Hier setzt die Autorin an, indem sie ein Ausbildungsmodul für „Sexualität in der Altenpflege“ einer berufsbegleitenden Altenpflegeausbildung vorstellt; den Hintergrund bilden die vier Phasen des Konstruktionsprozesses eines Curriculums, die von Knigge-Demal (1996) in Anlehnung an Siebert (1974) formuliert wurden.
Entstehungshintergrund
Sexualität in der Pflege alter Menschen ist auch heute noch tabuisiert, im Heim mehr als in anderen Bereichen. Das Thema „Sexualität“ gestaltet sich im Unterricht oft schwierig. Es berührt Tabus, es fehlen Informationen zur Sexualität älterer Menschen, es gibt eine Unsicherheit in der Benennung von Begriffen und intimen Körperregionen.
Pflegekräfte dringen – berufsbedingt – laufend in den persönlichen bzw. intimen Bereich von fremden Menschen ein; für beide eine Konfrontation, die irritieren kann.
Die Autorin stellt ein einwöchiges Seminar mit einer sich anschließenden Praxisphase von etwa drei Monaten vor; zum Abschluss empfiehlt sie einen Reflexionstag, der auch als Projekttag gestaltet werden kann.
Aufbau
Die Arbeit ist in 5 Kapitel gegliedert.
Kapitel 1 – Sexualität: Versuch einer Definition
Die Verfasserin beschreibt Begriffe, zitiert sexuelles Erleben als gelerntes
Verhalten in der Kindheit: Erste Erfahrungen mit Zärtlichkeit, Entstehen von
Gefühlen wie Vertrauen und Zuneigung, geliebt werden, Beziehungsfähigkeit als
Grundlage für eine störungsfreie Sexualität; wie auch – andererseits
– Einflüsse durch sexuellen Missbrauch, Gewalterfahrungen, die zu
(späteren) Störungen führen können.
Die individuelle Erfahrung älterer und alter Menschen verändert sich im
Lauf der Zeit. Dennoch: viele Ältere sehnen sich nach Nähe, Geborgenheit,
Zärtlichkeit, Austausch und haben auch das Bedürfnis nach körperlicher
Sexualität.
Die Autorin legt großen Wert auf einen sehr breiten Verständnisrahmen von
„Sich als Mann oder Frau fühlen und verhalten„; sie definiert ihn so, dass
viele Begriffe wie Genitalität, aber auch Kommunikation, Scham und auch
bewohnerorientierte Rahmenbedingungen eingeschlossen werden können.
Kapitel 2 – Erste Konstruktionsphase
(Gesellschaftliche Entwicklung und Veränderungen; gesetzliche Vorgaben und
pflegetheoretische Ansätze. In diesem Kapitel wird auf Maximen unserer Zeit eingegangen: Gesundheit,
Leistungsfähigkeit, Unabhängigkeit, jugendliches Aussehen. Dem steht der
Prozess des Alterns entgegen. Werden die Veränderungen konstruktiv gelebt, kann
es auch zu Attraktivität und einer Verbesserung der sexuellen Interaktion alter
Menschen führen. „Pflegebedürftigkeit und sexuelle Gefühle schließen einander
nicht aus, …“ – Eine Herausforderung für die Pflege, insbesondere angesichts
steigender Lebenserwartung.
Im nächsten Abschnitt wird auf die demographische Entwicklung bis zu den
Jahren 2050 eingegangen: Ganzheitlich orientierte und leibfreundliche Pflege
– auch dementer Menschen – wird die nächste Herausforderung
darstellen.
Weiter wird auf die gesetzlichen Vorgaben, wie pflegetheoretische Ansätze,
Bezug genommen: Das Modell des Lebens (Roper/Logan/Tierny) sowie das
Pflegemodell nach Orem.
Das Kapitel schließt mit den Leitzielen für Pflegende im
Weiterbildungs-Modul ab.
Kapitel 3 – Zweite Konstruktionsphase
Analyse des Handlungsfeldes:
aus Sicht der Pflegekraft in der ambulanten / stationären Altenhilfe; aus Sicht
der Pflegebedürftigen mit Konsequenz für die Ausbildung. Wie bereits aus dem
Überblick hervorgeht, besteht ein hohes Maß an möglichen Konfliktfeldern:
Aufgrund biographischer Gegebenheiten kann es im häuslichen Bereich auf Seiten
der Eltern wie auch umgekehrt auf Seiten der Pflegenden (Kinder,
Schwiegertöchter) mit Symptomen und Überforderung münden; das Spannungsfeld
verschiebt sich häufig auf die mobilen Fachkräfte: Durch die „Sprachlosigkeit“
im Beziehungsdreieck leiden Pflegende unter Zeitdruck, die „Kunden“ sind
unzufrieden, es bleibt ein schlechtes Gewissen.
Im stationären Bereich ist die Situation
verschärft, als „… die Enteignung des Leibes, die weitgehende Reduktion der
Pflege auf den Körper, der geringe Stellenwert des Verwöhnens und Genießens“ im
Pflegeheim besonders schwer wiege [1].
Hier passieren leicht Grenzverletzungen; Pflegekräfte halten Abstand, sexuelle
Gefühle werden tabuisiert, Pflegende fühlen sich überfordert …
Aus Sicht der Pflegebedürftigen wird oft auf das
kleine Stück Privatheit keine Rücksicht genommen: Etwa wird der alte Mensch
mangelhaft oder unbekleidet über den Flur geschoben; Pflegekräfte klopfen nicht
an, bevor sie das Zimmer betreten, usw.
Als Konsequenzen in der Ausbildung
wird ein Paradigmenwechsel gefordert: Nicht nur die Gesetzgebung, auch die
Diskrepanz der Ausbildungskonzepte mit den existentiellen Fragen der
Belastungen der Mitarbeiter ist zu hinterfragen, damit die alten Menschen die
Möglichkeit erhalten, sich mit ihrem Schicksal zu versöhnen, damit Pflegende
Ressourcen schöpfen und dem beruflichen Burnout entgegenwirken können.
Analyse der wissenschaftlichen Disziplinen: Pflegewissenschaft – Medizin – Psychologie / Soziologie – Gerontologie – Philosophie. Auf den folgenden elf Seiten der Arbeit geht die Autorin auf o.g. Begriffe ein: Von physiologischen Störungen und Erkrankungen, über funktionale Veränderungen bis hin zu moralischen Prinzipien und Reflexionsfähigkeit der Pflegepersonen wird der Bogen der Ausführungen gespannt.
Die Qualifikationen. Hier werden die Kompetenzen der Lernenden aufgelistet, insbesondere wird auf die Gefahr des Überschreitens von persönlichen Grenzen alter Menschen hingewiesen.
Kapitel 4 – Dritte Konstruktionsphase
Charakteristik der Seminarwoche
– Übersicht über die Seminarwoche mit ihren einzelnen Anteilen. In dieser Phase werden Lernziele, Lerninhalte und
Methoden dargestellt und miteinander abgestimmt. Die Charakteristik der
Seminarwoche und die notwendigen Voraussetzungen – insbesondere die hohen
(!) Anforderungen an die DozentInnen – werden detailliert beschrieben.
Unter der Annahme, dass sich die Lernenden bereits kennen, wird die
Struktur, der Ablauf, die Darstellung des Inhaltes ausführlich dargestellt. Ein
Pool verschiedenster Übungen erleichtern den Lernenden die Annäherung und
Implementierung dieser Thematik. Die Theorie wechselt mit praktischen Übungen,
verschiedene didaktische Möglichkeiten werden vorgeschlagen, Fallbeispiele
lassen sich in Gruppenarbeiten unterschiedlich darstellen.
Das Kapitel schließt mit einer Praxisaufgabe: Die
Inhalte der Seminarwoche sollen anhand von Lernzielen in den nächsten drei
Monaten in ein Lerntagebuch übernommen werden.
Kapitel 5 – Ausblick auf die vierte Konstruktionsphase (Evaluation)
Diese Phase des Konstruktionsprozesses nach Knigge-Demal beinhaltet die Implementierung der Unterrichtseinheit in die Ausbildung, in der sich die Praxisrelevanz des Moduls erweisen muss. Verschiedene sinnvolle Messkriterien und Stichproben werden dazu vorgeschlagen.
Zielgruppen
Als Zielgruppe sind vor allem Dozentinnen und Dozenten im Aus- und Weiterbildungsbereich für Altenpflege zu nennen; auch PflegeforscherInnen finden eine Fülle an Anregungen und Literaturhinweisen.
Des Weiteren eignet sich die Arbeit zur Lektüre für alle Berufsgruppen, die im Alten-/ Pflegebereich tätig sind sowie für Interessierte.
Diskussion
Die Autorin schöpft aus zahlreichen Bereichen der vorhandenen Literatur, kann die Begründung und Notwendigkeit für ihre Arbeit schlüssig darstellen.
Insbesondere die Durchführung der Seminarwoche ist vielseitig und detailreich dargestellt; somit kann das Seminar von anderen fachkompetenten (!) Personen in dieser Form übernommen werden; auch können Anteile der Arbeit für andere Unterrichtsformen genutzt werden.
Die Praxisrelevanz ist deutlich gegeben.
All diese Faktoren lassen auf ein großes Bemühen und eine hohe fachliche Qualifikation der Autorin schließen.
Vorschläge für eine Überarbeitung: Im Falle einer Überarbeitung des Buches könnten folgende Vorschläge eingearbeitet werden:
- Das Thema Distanzzonen [2] erweitern, um den Begriff „Persönliche Grenzen“ bzw. „Grenzüberschreitung“ den Lernenden noch klarer darzulegen;
- In der Praxisphase der Arbeitsaufträge (analog dem Anhang 19 und 22) zusätzlich Vorschläge für die Pflegeplanung erarbeiten, mit Pflegeexperten diskutieren.
Fazit
Dorothea Meudt ist es gelungen, eine kompetente Beschreibung und ausgezeichnete Anleitung für Lehrende/DozentInnen herzustellen, um sich dem Thema „Sexualität in der Altenpflege“ praktisch anzunähern.
Der Wert ist begründet in der Zeit, der Dichtigkeit des zu vermittelnden Inhaltes und dem hohen Maß an gewonnener Selbsterfahrung.
[1] Vgl. FN 2, S. 4
[2] Vgl. wikipedia.org
Rezension von
Federico Harden
Akademisch geprüfter Lehrer für Gesundheitsberufe
Allgemein beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger für Gesundheits- und Krankenpflege
Psychotherapeut (VT) in freier Praxis.
Fort- und Weiterbildungen
Website
Es gibt 5 Rezensionen von Federico Harden.
Zitiervorschlag
Federico Harden. Rezension vom 30.08.2008 zu:
Dorothea Meudt: Sexualität in der Pflege alter Menschen - Ein Ausbildungsmodul für die Altenpflege. Kuratorium Deutsche Altershilfe
(Köln) 2006.
ISBN 978-3-935299-87-9.
Reihe: thema, Band 202.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4085.php, Datum des Zugriffs 24.05.2022.
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