Michael Konrad, Sabine Schock et al.: Dezentrale Heimversorgung in der Sozialpsychiatrie
Rezensiert von Prof. Dr. Jörg Michael Kastl, 06.07.2007
Michael Konrad, Sabine Schock, Joachim Jaeger: Dezentrale Heimversorgung in der Sozialpsychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH (Bonn) 2006. 192 Seiten. ISBN 978-3-88414-411-4. 19,90 EUR. CH: 34,90 sFr.
Lieber "heim in die Gemeinde"? - Heimversorgung als Ausdruck eines institutionellen Versorgungsparadigmas.
"Die Heimversorgung ist in einem gewissen Sinne das Aschenputtel der Sozialpsychiatrie" - mit diesem Satz beginnt das 2006 im Psychiatrie-Verlag erschienene Buch der Autoren Michael Konrad, Sabine Schock und Joachim Jaeger. In der Tat ist es mit den Heimen generell so eine Sache: die fachliche Diskussion liebt sie nicht; Heimleiter gelten nach einer bewusst provokant formulierten Sentenz von Klaus Dörner als "Geiselnehmer"; Heime sollten, folgt man den derzeit dominierenden fachlichen und sozialpolitischen Diskursen, samt und sonders aufgelöst werden. Gleichzeitig hält sich die Praxis ganz und gar nicht an dieses Verdikt, wie etwa die jüngst veröffentlichte Heimenquete der Bundesregierung zeigt: die Anzahl der Heime steigt faktisch ebenso wie die Zahl derer, die sie bewohnen.
Suspekt erscheint im fachlichen Diskurs vor allem das institutionsorientierte Versorgungsverständnis von Heimen. Diese Eigenlogik ist geradezu definitionsprägend: für Heime ist konstitutiv, dass sie "in ihrem Bestand von Wechsel und Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner unabhängig sind" (so § 1 des noch geltenden Heimgesetzes). Heime bestehen also aus von den leibhaftigen BewohnerInnen unabhängigen "Plätzen" und müssen gerade deswegen immer wieder als negative Kontrastfolie zu dem sich fachlich immer mehr durchsetzenden Prinzip der Personenzentrierung herhalten.
Dezentrale Heimversorgung
Das Buch von Konrad, Schock und Jaeger zeigt, dass dieser Zusammenhang durchaus nicht zwangsläufig ist, zumindest nicht im Bezugsrahmen eines Konzepts "dezentraler Heimversorgung".
Worum geht es da? Dabei werden Heime aufgelöst in eine Vielzahl von Wohnungen mit jeweils 3-5 "Plätzen" für Wohngemeinschaften und mittlerweile sogar Einzelappartements. Diese Wohnungen werden (dem Prinzip folgend: "Immobilien machen immobil") angemietet - überwiegend in Wohnlagen, die die Autoren als kleinbürgerlich-proletarisch bezeichnen (das hat Vorteile, etwa eine vergleichsweise größere Toleranz und Kompetenz im Umgang mit "Störungen"). Nur wenige Funktionen verbleiben in der Zentraleinrichtung, MitarbeiterInnen haben keine eigenen Räume in den Wohnungen. Die teils erheblichen Unterstützungsbedarfe der BewohnerInnen werden aber weiterhin gedeckt - örtlich sind die einzelnen Einheiten so gewählt, dass - per Rufbereitschaft - eine Präsenz von MitarbeiterInnen im Notfall in maximal 15 Minuten bei der am weitesten entfernten Wohnung gesichert ist.
"Dezentrale Heimversorgung" ist also ein Weg "auf dem die Heimversorgung in die Gemeinde verlagert werden kann und bei der Verlagerung den Charakter einer Heimeinrichtung verliert" (Seite 12).
Die Autoren
Wie das genau zu verstehen ist, entfaltet das Buch auf 190 Seiten in ebenso fachlich reflektierter wie anschaulicher Weise. Letzteres ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass alle drei Autoren an einem solchen Prozess der "Verlagerung des Heimes in die Gemeinde" maßgeblich beteiligt waren und somit aus der eigenen praktischen Erfahrung berichten. Michael Konrad leitet das mittlerweile dezentralisierte Wohn- und Pflegeheim am Zentrum für Psychiatrie in Weissenau (Ravensburg), Sabine Schock ist dort leitende Pflegefachkraft und Joachim Jaeger ist Diplompsychologe daselbst.
Überblick
In sieben Kapiteln verknüpfen die AutorInnen konzeptuelle Diskussionen mit der Darstellung und Reflexion ihrer Erfahrungen. Sie bedienen sich dabei immer wieder des Kunstgriffes kasuistischer Analysen.
- In Kapitel 1 ("Gemeindepsychiatrischer Verbund und Versorgungsverpflichtung") werden relevante sozialpolitische und institutionelle Entwicklungen im Bereich der Sozialpsychiatrie und Voraussetzungen des Konzepts skizziert und kritisch diskutiert.
- Kapitel 2 ("Dezentrale Heimversorgung - Idee, Konzeption und Umsetzung") stellt das Konzept vor und gibt wichtige Rahmeninformationen zu dem Prozess am Zentrum für Psychiatrie in Weissenau.
- Im Rückgriff auf drei Fallbeispiele veranschaulicht Kapitel 3 ("Der Kampf gegen die Hoffnungslosigkeit") exemplarisch die Bedeutung der Veränderung der Wohnsituation für Langzeitklienten.
- Kapitel 4 ("Mitarbeiter und Betreuungspraxis")und
- Kapitel 5 ("Die Wohnräume und die Organisation der Wohngemeinschaften") legen den Schwerpunkt dann - auch hier immer kasuistisch "geerdet" - auf die institutionell-professionelle Seite des Dezentralisierungsprozesses. Es werden die Veränderungen im Rollenverständnis der Mitarbeiter beschrieben, Fragen der Beschaffung der Wohnräume, der Organisation der Wohngruppen aufgegriffen.
- Kapitel 6 schließlich ("Systemsprenger") greift das sich durchziehende Leitthema des Buches auf, nämlich die Frage der möglichen "Überforderung" von als "schwierig" geltenden Klientinnen und Klienten (mit z.B. schweren Angststörungen, Suizidalität, selbstverletzendem Verhalten, Doppeldiagnosen Psychose und Sucht, forensischer Diagnose, hoher Aggressivität) in einer Verdichtung von Fallgeschichten und klinischen Überlegungen auf.
In einem knappen Schlussausblick werden institutionelle, konzeptuelle und sozialpolitische Perspektiven skizziert.
"Heime in die Gemeinde!"- einige zentrale Argumentationslinien
Ein sich durch das gesamte Buch ziehendes Leitmotiv ist die Frage nach den sogenannten "Hoffnungslosen" und den "Systemsprengern". Beide Begriffe sind in Anführungszeichen zu setzen, weil es sich dabei um professionelle Zuschreibungen handelt, die die AutorInnen auch als solche ausweisen. Die "Hoffnungslosen" - das sind die psychiatrischen Langzeitpatienten, von denen die Profis annehmen, dass sie auf Grund ihrer Erkrankung nie mehr ein "normales Leben" werden führen können, eine Zuschreibung, die dann oft genug ins Selbstbild der betroffenen Menschen übergeht. Die "Systemsprenger" - das sind die Menschen, die in kein institutionelles Schema passen, diese Zuschreibung aber nicht unbedingt übernehmen, sondern sich auf vielfältige Weise dagegen "wehren" und sich in den Augen der sozialen Umwelt höchst "auffällig" und "abweichend" verhalten.
Dass die AutorInnen diesem Aspekt so eine erhebliche Bedeutung zu messen, findet sein Motiv paradoxerweise nicht zuletzt in dem Umstand des in der Psychiatrie vergleichsweise weit fortgeschrittenen Prozesses der Enthospitalisierung. In diesem Prozess wurde in der Sicht der AutorInnen in der Praxis eben nicht nach dem Prinzip "Die Schwächsten zuerst" (Dörner) verfahren. Vielmehr kristallisierte sich eine Zweiteilung heraus. Ambulante Versorgung bleibt den "Fitteren" vorbehalten und wird in gewissem Sinne zu einer Art Belohnung für Wohlverhalten. In den Heimen zurück blieben eben jene "schweren Fälle", die "nicht entlassfähigen" Menschen, die "Hoffnungslosen" und "Systemsprenger", die damit aber zwangsläufig auch die Zielgruppen des Konzepts der dezentralen Heimversorgung bilden.
In der Tat zeigen die Fallbeispiele der AutorInnen in dem Buch eindrucksvoll, dass - im Unterschied zum ambulant betreuten Wohnen - auch Menschen mit hohen Hilfebedarfen und schweren psychischen Behinderungen in vergleichsweise gemeindenahe und dezentrale (Heim)Wohnformen einbezogen werden können, ohne dass diese Versorgung in kleineren Wohneinheiten etwa als "Belohnung" für die Stabilisierung eines psychischen Zustandes erscheint. Durch den Umstand, dass der heim- und pflegerechtliche Status der KlientInnen unangetastet bleibt, sich damit der kostenrechtliche Status nicht verändert, kann der bisherige Umfang der Unterstützungsleistungen budgetneutral aufrechterhalten werden (ggf. unter Umverlagerung von Aufgaben). Die Erfahrungen, von denen die Autoren berichten, sind sehr oft dazu angetan, vermeintliche Selbstverständlichkeiten ins Wanken zu bringen: zum Beispiel, dass Zusammenleben mit anderen Menschen ein Wert als solcher ist (gerade bei Menschen mit psychotischen Symptomen kann die Entlastung von einer Dauerpräsenz Anderer teilweise "heilsame" Wirkungen entfalten) und damit, dass Heimversorgung sich automatisch auf (große) Gruppen von Menschen beziehen muss. Warum eigentlich?
Insgesamt werden natürlich keine Wunder und Wunder"heilungen" eingeleitet, wohl aber lassen sich in vielen Fällen erhebliche Gewinne an Lebensqualität, an selbstbestimmten Gestaltungsmöglichkeiten im Alltag (hauswirtschaftliche Tätigkeiten werden verstärkt von den BewohnerInnen übernommen), und immer wieder überraschende "therapeutische" Fortschritte erzielen. Interessanterweise erfüllten sich negative Erwartungen der Profis ("Herr X. wird in einer einem Einzelappartement noch aggressiver", "Frau Y packt das niemals") in vielen Fällen genau nicht, vielmehr entfalten gerade die als problematisch empfundenen Klienten unter den neuen Bedingungen oft ungeahnte Handlungspotentiale. Dazu tragen Faktoren bei wie eine wahrgenommene größere (Eigen-)Verantwortung in der "eigenen" Wohnung und ein daraus resultierendes höheres Selbstwertgefühl, dazu trägt auch die nicht professionell "simulierte", sondern "reale" Nachbarschaft bei, dazu tragen die ebenfalls "realen" Alltagsbeschäftigungen im hauswirtschaftlichen Bereich bei ("Alltag als Therapie") und nicht zuletzt entfallen die im Heimalltag häufig anzutreffenden Eskalationskonflikte einer wechselseitigen Verstärkung von sozialer Kontrolle und - reaktivem - abweichendem Verhalten der der Kontrolle Unterworfenen.
Das heißt nicht - worauf die AutorInnen in wohltuendem Realismus immer wieder verweisen - dass sozusagen alle als problematisch wahrgenommenen Verhaltensweisen verschwinden. Aber es wird deutlich, dass man mit auftretenden "Probleme" mindestens so gut und v.a. anders umgehen kann wie im zentralisierten Heimkontext, in vielen Fällen eben sogar besser.
Genauso eindrucksvoll sind freilich die Veränderungen im professionellen Selbstverständnis und in den professionellen Anforderungen der MitarbeiterInnen, die anfangs durchaus nicht alle begeistert von dem Vorhaben waren. Das Buch dokumentiert nämlich zugleich einen eindrucksvollen Professionalisierungsprozess, der durch die Dezentralisierung eingeleitet wird und in dessen Verlauf die Balance von Autonomie/Autonomisierung, stellvertretendem Handeln und Kontrolle im Verhältnis der Profis zu den Klienten völlig neu justiert wird. Die Dauerpräsenz im stationären Bereich ist nicht mehr gegeben, alleine daraus ergeben sich erhebliche Verschiebungen in der Handlungslogik der MitarbeiterInnen: "Selbstbestimmung" und "Selbstbestimmungspotentiale" der Klienten werden von der sozialpolitischen Phrase zu einer alltäglichen Wirklichkeit, "Behandlung" wird plötzlich in eine Logik der "Verhandlung" gerückt, die Mitarbeiter verwandeln sich von (VertreterInnen des) Hausherren zu Gästen, die an der Tür klingeln, um eingelassen zu werden.
Diese und andere strukturelle Veränderungen eröffnen eine ungeahnte Antwort auf das anfangs aufgeworfene Problem nach der Rolle der "Systemsprenger". Diese Rolle lässt sich nämlich im Licht der gemachten Erfahrungen geradezu als ein Produkt des stationären Settings betrachten, in gewisser Weise als eine "aufgezwungene Identität" interpretieren. "In der Institution", so formulieren die Autoren gegen Ende des Buches, "besteht immer der Ausweg nach innen. Die Anstalt schluckt alles. In den Augen der Öffentlichkeit lässt sich jedoch wenig verbergen. Insofern erklärt sich der Begriff des Systemsprengers aus seiner institutionellen Einbettung. Systeme werden dort gesprengt, wo sie einengend wirken und dem Individuum keine Luft zum Atmen lassen. In einer offenen Atmosphäre gibt es nichts zu sprengen, hier gibt es nur Konflikte - und Konflikte können gelöst werden." (166)
Fazit
Das Buch hat beste Aussichten zum selbstverständlichen Bestandteil der Standardliteratur zu Fragen der Deinstitutionalisierung im Bereich der Sozialpsychiatrie (aber auch der Behindertenhilfe) zu werden. Zu Recht.
Es ist - sieht man gelegentlich von der nicht immer durchsichtigen Kapitelsequenz ab - schon stilistisch vorzüglich geschrieben. Der Tonfall des Buchs ist, ohne jeden missionarischen Eifer, in jeder Zeile von einem Habitus gelassen-realistischer und immer selbstkritischer professioneller Reflexivität im besten Sinne getragen, von großer Achtung und einer fast zärtlichen Sensibilität für die Lebensformen der Klienten bestimmt und dabei doch zu einer sympathischen Art von Humor und Selbstironie fähig.
Das Buch besticht insgesamt - wie schon betont - durch seine Anschaulichkeit, Erfahrungshaltigkeit und Realitätsnähe. Wichtige Konzepte der derzeitigen sozialpsychiatrischen Fachdiskussion werden fast en passant mit vermittelt und kritisch diskutiert und darüber hinaus erhält der Praktiker eine Fülle nützlicher Tipps und Hinweise über organisatorische und sozialrechtliche Aspekte der Umsetzung des Konzeptes eines dezentralisierten Heimes.
Insofern: rundweg allen potentiellen LeserInnen ohne Einschränkung zu empfehlen, die sich im weiten Gelände zwischen Praxis und Wissenschaft mit Fragen der Deinstitutionalisierung, Dezentralisierung, Enthospitalisierung, Ambulantisierung usw. herum schlagen!
Rezension von
Prof. Dr. Jörg Michael Kastl
Professor für Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Fakultät für Sonderpädagogik. Arbeitsgebiete: Soziologie der Behinderung und sozialer Benachteiligung, Rehabilitation/Teilhabe behinderter Menschen (Persönliches Budget, IFD); Berufs- und Professionssoziologie; Sozialrecht und Sozialpolitik (spez. Rehabilitation); Sozialisationsforschung und allgemeine Soziologie
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Zitiervorschlag
Jörg Michael Kastl. Rezension vom 06.07.2007 zu:
Michael Konrad, Sabine Schock, Joachim Jaeger: Dezentrale Heimversorgung in der Sozialpsychiatrie. Psychiatrie Verlag GmbH
(Bonn) 2006.
ISBN 978-3-88414-411-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/4091.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.
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